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Putins Vernichtungskrieg - eine Zeitenwende




Der 24. Februar 2022 wird in die Geschichtsbücher eingehen. An diesem Donnerstag befahl Russlands Präsident Wladimir Putin eine gegen die Ukraine gerichtete „Militäraktion“. Was von ihm wohl als eine handstreichartige Operation gedacht war, das erwies sich bereits nach wenigen Tagen als ein langwieriger, von den russischen Truppen zunehmend brutal geführter Vernichtungskrieg. Bundeskanzler Olaf Scholz verlieh ihm in seiner Rede vor dem Bundestag die Bedeutung einer Zeitenwende, und der Begriff wurde sogleich von den Medien aufgegriffen. Danach wird nichts mehr so sein, wie es vordem war. Doch wie es in Zukunft sein wird, das ist noch keineswegs ausgemacht.

Als erstes Anzeichen einer Zeitenwende bedauerten reihenweise führende Politiker, dass sie sich in der Einschätzung der von Putin verfolgten Politik leider geirrt haben. Doch mit einem bloßen Bedauern ihrer Fehleinschätzung ist es nicht getan. Die in der Vergangenheit begangenen Fehler bedürfen einer Aufarbeitung. Und damit diese erfolgen kann, müssen sie als erstes in Erinnerung gerufen und analysiert werden. In diesem Zusammenhang stellen sich einige Fragen: Was waren die Gründe und Motive einer verfehlten Russlandpolitik? Warum wurden die den kommenden Krieg andeutenden Signale übersehen oder relativiert? Und schließlich, wird auf die Zeitenwende adäquat reagiert?


Der Georgienkrieg – ein erstes Signal

Dass Russland zu militärischen Aktionen bereit ist, falls ein ehemals zur Sowjetunion gehörender Staat zur Europäischen Union oder gar zur NATO tendiert, das zeigte sich bereits 2008 in Georgien. In einem Fünftagekrieg sah sich die georgische Regierung am Ende gezwungen, die Abspaltung von Südossetien und Abchasien zu akzeptieren und damit auf die Kontrolle über einen Teil ihres Territoriums zu verzichten sowie die Präsenz einer russischen „Friedenstruppe“ auf diesen Gebieten zu tolerieren. Damals erwiesen lediglich und bezeichnenderweise die Präsidenten von Polen, der Ukraine und den baltischen Staaten Georgien ihre Solidarität, indem sie gemeinsam die nicht ungefährliche Flugreise nach Tiflis antraten.

Im Krieg Russlands gegen Georgien vertrat Außenminister Frank-Walter Steinmeier einen im Grunde russlandfreundlichen Kurs. So wandte er sich gegen die Verhängung von Sanktionen. „Auch in dieser ernsten politischen Lage gilt es, einen Rest von Vernunft walten zu lassen. Wir werden über den Tag hinaus Russland als Nachbarn behalten, und es ist in unserem eigenen Interesse, zu einem normalen Verhältnis zurückzukehren“, sagte Steinmeier damals der F.A.Z.


Die Annexion der Krim

Als im Winter 2013/14 nach blutigen Auseinandersetzungen, bei denen auf dem Kiewer Majdam 100 für die Freiheit und Zugehörigkeit ihres Landes zum westlichen Europa demonstrierende Ukrainer ihr Leben ließen, Präsident Janukowytsch sich fluchtartig nach Russland absetzte, nahmen wenig später russische Militäreinheiten, getarnt in Uniformen ohne Kennzeichnung, die Krim in Besitz. Ein „Referendum“ beendete diese Aktion und bildete die Grundlage für die Aufnahme der Krim in die Russische Föderation. Dieser aggressive Akt wiegt besonders schwer, weil sich Russland neben den anderen Atommächten USA, Großbritannien und Frankreich im Budapester Memorandum (1994) verpflichtet hat, die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine als Gegenleistung für die Übergabe ihrer Atomwaffen zu respektieren.

Die Reaktion des Westens, zumal die deutscher Politiker und Medien, hielt sich in Grenzen. Damals äußerte sich Altkanzler Helmut Schmidt in der Bildzeitung auf eine Weise, die man wohl als eine indirekte Rechtfertigung der Annexion der Krim verstehen muss: Es sei ein Irrtum anzunehmen, „dass es ein Volk der Ukrainer gäbe, eine nationale Identität.“ Es gäbe zwei unterschiedliche Landesteile, den russischen Osten mit der Krim und den stark vom polnischen Einfluss geprägten Westteil. Im Übrigen sei ja die Krim ohnehin russischsprachlich. Dass die Sprache nicht mit der nationalen Identität gleichzusetzen ist, übersieht Schmidt. Wäre dem so, gäbe es weder Österreich noch eine deutschsprachige Schweiz, sondern nur ein sie umfassendes Deutschland. Auch Gregor Gysi, um eine weitere Stimme zu zitieren, äußerte sich ähnlich. Am 13. März 2014 sagte er im Bundestag, man müsse „die legitimen Interessen Russlands auf der Krim anerkennen.“ In völliger Verkennung von Putins Plänen schlug er einen Sonderstatus der Krim vor, „mit dem die Ukraine, Russland und wir leben können“, und sah die Aufgabe der Ukraine in einer „Brückenfunktion zwischen der Europäischen Union und Russland.“ Dass erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg ein Staat einem anderen gewaltsam einen Teil seines Territorium entrissen und damit das Völkerrecht gebrochen hat, spielte offenbar für Gysi und manch anderem deutschen Politiker keine besondere Rolle. Es ging ja alles „friedlich“ zu, es gab keine grauenvollen Bilder. Wozu also, sich über den Aggressor empören? Der deutsche Außenminister Steinmeier sprach sich gegen einen Ausschluss Russland aus der G8 aus. Man solle vielmehr zur Deeskalation beitragen und nicht zu einer Verschärfung des Konflikts. Bundeskanzlerin Angela Merkel warf Russland in ihrer Regierungserklärung am 13. März 2014 zwar vor, die Schwäche seines Nachbarstaates völkerrechtswidrig ausgenutzt zu haben, doch die schließlich gegen Russland verhängten, von der Fraktion der Linken nicht mitgetragenen Sanktionen der EU waren kaum mehr als wenig schmerzhafte Nadelstiche.


Angriff auf die Ostukraine

Die Annexion der Krim war nur der Auftakt zu einer gleich darauf folgenden weiteren militärischen Intervention. Autobusse mit „Touristen“, die sich in Wahrheit als russische Spezialeinheiten entpuppten, fuhren aus Russland in die Ostukraine. Sie sorgten für Unruhe unter der Bevölkerung, aus der sich ein förmlicher Krieg entwickelte, der scheinbar von ukrainischen Separatisten geführt wird, aber erst durch das militärische Engagement Russlands möglich wurde und bereits über acht Jahre andauert. Inzwischen wurden zwei prorussische Republiken, Donezk und Lugansk, gebildet, die wohl bald in die Russische Föderation integriert werden.

An Bemühungen, diesen Konflikt zu lösen, hat es nicht gemangelt. In Zusammenhang mit dem 70. Jahrestag der Landung alliierter Truppen in der Normandie vereinbarten Deutschland, Frankreich, Russland und die Ukraine entsprechende Gespräche. Bis 2022 gab es insgesamt 10 Verhandlungsrunden im Rahmen des so genannten Normandie-Formats. Das dürftige Ergebnis waren ein Gefangenenaustausch und die Vereinbarung eines äußerst brüchigen Waffenstillstrandes.

Zum besonderen Streitpunkt wurde die am 9. Dezember 2019 beschlossene, Russland deutlich entgegen kommende Steinmeier-Formel. Nach ihr sollten die beiden „Republiken“ einen Sonderstatus erhalten. Über ihr weiteres Schicksal sollte eine von der OSZE beobachtete Wahl entscheiden. Die Ukraine war dazu bereit, wenn Kiew zuvor die Kontrolle über diese Gebiete zurück erhalten würde, was Russland entschieden ablehnte. Es bedarf wohl keiner besonderen Phantasie, um sich vorzustellen, was bei einer solchen „Wahl“ unter den Bedingungen einer faktischen Besatzung herausgekommen wäre.


Die Russlandversteher

Angeführt von Exbundeskanzler Gerhard Schröder, der Putin einen „lupenreinen Demokraten“ nannte, tummelten sich in all den Jahren in den talk-shows die „Russlandversteher“ und beeinflussten die öffentliche Meinung. Als die Krim bereits in die Russische Föderation integriert und der Krieg im Osten der Ukraine im vollen Gange war, feierte Schröder als Aufsichtsratsvorsitzender von Gazprom in St. Peterburg mit seinem Freund Putin seinen 70. Geburtstag. Er vor allem hat von Anfang an die umstrittene Ostsee-Pipline Nord-Stream 2 mit eingefädelt und propagiert. Er vor allem trägt dafür die politische Verantwortung, dass Deutschland in einem solchen Ausmaß vom russischen Gas abhängig ist, dass sich die jetzige Ampelkoalition nicht in der Lage sieht, unverzüglich ein von der EU gegen Russland zu verhängendes Energieembargo zu befürworten, sondern dies für Deutschland erst nach Monaten für möglich hält.

Einige Namen seien genannt, die in den talk-shows als Russlandversteher besonders hervortraten: Der russlandfreundliche Lobbyist Alexander Rahr, der sich den Anschein eines außenpolitischen Experten gibt, die Journalistin Gabriele Krone-Schmalz, der ehemalige Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi, der SPD-Politiker Mattias Platzeck, einst Brandenburger Ministerpräsident und jahrelanger Vorsitzender des deutsch-russischen Forums, sowie die Politikerin der Linken, Sahra Wagenknecht, die der Ukraine „Säbelraschen“ vorwarf und die Amerikaner bezichtigte, sie wünschten sich den Krieg förmlich herbei. Und dies zu einem Zeitpunkt, als Putin seine Militärmacht bereits an der Grenze zur Ukraine konzentriert hatte. Sie alle zeigten Verständnis für Putins Weltsicht, betonten das „Recht Russlands, seine Sicherheitsinteressen wahrzunehmen“, sprachen von der „besonderen deutschen moralischen und historischen Verantwortung gegenüber Russland wegen der im Zweiten Weltkrieg verübten gewaltigen Verbrechen“ und vergaßen darüber, dass von diesen Verbrechen nicht nur Russen, sondern ebenso Ukrainer betroffen waren.

Sie alle übernahmen in Bezug auf die Ukraine die Narrative russischer Propaganda von ihrer angeblichen tiefen Spaltung in einen russischen Ost- und einen nationalistisch-neonazistischen Westteil. Und sie beriefen sich immer wieder darauf, die NATO habe in Zusammenhang mit der Wiedervereinigung Deutschlands auf eine Osterweiterung ausdrücklich verzichtet. Dabei hat kein Geringerer als Gorbatschow wiederholt erklärt, es habe im Verlauf der 2-plus-4-Gespräche keine derartige westliche Zusage gegeben. Es konnte sie im Übrigen nicht geben, denn zu dem Zeitpunkt gehörten die später in die NATO aufgenommen Oststaaten noch zum Warschauer Pakt.


Die deutsche Russlandpolitik

Die deutsche Ostpolitik erfuhr unter den von Bundeskanzler Willy Brandt geführten Regierungen (1989-1974) einen Strategiewechsel. Ihr Architekt war Egon Bahr (1922-2015), der bereits in seiner Rede am 15. Juli 1963 in der Evangelischen Akademie Tutzing für die Überwindung eines Konfrontationskurses geworben und vorgeschlagen hatte, die Mauer des Kalten Krieges durch ein Ausloten gemeinsamer Interessen durchlässig zu machen, und dies in der Hoffnung, dass auf diesem Weg am Ende die Wiedervereinigung Deutschlands möglich würde. Dabei war im klar, dass die „Voraussetzungen zur Wiedervereinigung nur mit der Sowjet-Union zu schaffen“ sind, nicht gegen, nicht ohne sie. Am Ende seiner Rede prägte er für seine Gedanken die Formel „Wandel durch Annäherung“, die fortan zum Leitmotiv bundesdeutscher Ostpolitik wurde.

Diese Strategie erwies sich als durchaus effektiv, doch nicht ihr allein kommt das Verdienst der Wiedervereinigung zu. Es gab auch ihr Gegenstück, eine „Annäherung durch Wandel“, wie sie durch die polnische „Solidarność“ erfolgreich praktiziert, von den Ideologen eines „Wandels durch Annäherung“ indes als eine gefährliche Störung ihrer Konzeption kritisiert wurde. Und es gab das erstarrte sowjetische System, das dringend Reformen benötigte, wie sie Gorbatschow unter den Leitworten „Perestroika“ und „Glasnost“ in Angriff nahm, wobei diese allerdings zur Auflösung der Sowjetunion führten.

Diese Strategie eines „Wandels durch ‚Annäherung“ wurde, wenngleich in Abwandlung, nach dem Ende der Sowjetunion beibehalten. Nun hieß die Formal „Wandel durch Handel“ bzw. „Wandel durch Verflechtung“. Man wollte Russland auf diese Weise in ein europäisches Sicherheitssystem einbinden, womit Kriege – wie man glaubte – auf unserem Kontingent unmöglich würden.

So kam es denn zu einer speziellen Verflechtung im Energiebereich. Russland liefert Kohle, Öl und insbesondere Gas, und die Milliarden, die wir dafür zahlen, nutzt Russland für die Modernisierung seiner Wirtschaft. Dass sie offenbar vor allem für militärische Aufrüstung verwendet wurden, das sah man nicht oder wollte es nicht sehen. Die Konsequenz ist, dass wir uns energiepolitisch von Russland abhängig gemacht haben und, wie die Ampelregierung nunmehr betont, aus dieser Abhängigkeit nicht so schnell herauskommen. Im Klartext bedeutet dies, dass wir aufgrund dieser Russlandpolitik Putins Vernichtungskrieg gegen die Ukraine mitfinanzieren.

Das eindrucksvolle Symbol dieser gescheiterten Politik ist das ehrgeizige deutsch-russische Projekt Nord Stream 2. Der damalige polnische Außenminister Sikorski hatte es als eine Neuauflage des Hitler-Stalin-Paktes kritisiert, weil es über die Köpfe Polens hinweg und zum Schaden Polens beschlossen wurde. Nord Stream 2 macht schließlich die Gaszufuhr über die Ukraine und Polen überflüssig und erweist sich damit als politisches und nicht als ein rein wirtschaftliches Projekt, wie die deutsche Seite nicht müde wurde, zu betonen.


Putins Ukraineverständnis

Es war in den 1980er Jahren. Wir saßen am Abend einer Tagung zu Dritt zusammen, zwei Professoren der Moskauer Akademie der Wissenschaften, der eine ein Russe, der andere ein Ukrainer, und ich. Wir sprachen über dies und jenes, doch bald wurde die Ukraine zum beherrschenden Thema. Der Russe behauptete, sie besäße keine nationale Identität, ihre Sprache sei nichts anderes als ein russisches Dialekt und ein Anrecht auf eigene Staatlichkeit komme ihr nicht zu.

Der ukrainische Professor widersprach vehement. Er verwies auf die reiche Kultur seines Landes, die trotz der Russifizierungsbestrebungen seit der Zarenzeit das Bewusstsein seiner Landsleute bestimme. Überzeugen ließ sich sein russischer Kollege nicht.

Diese Szene ist insofern aufschlussreich als sie verdeutlicht, dass dieses antiukrainische Vorurteil offenbar unter Russen weit verbreitet ist, so dass Putin darauf zurückgreifen kann und auch zurückgreift. Doch die Verhältnisse haben sich seit den 1980er Jahren grundlegend verändert. Seit Dezember 1991 ist die Ukraine ein unabhängiger, souveräner und international, auch von Russland, anerkannter Staat, der seit gut 20 Jahren existiert. Was damals ein rein theoretisches Streitgespräch war, erscheint heute in der Gestalt eines von Putin befohlenen Angriffskriegs mit dem Ziel, frühere Zustände wiederherzustellen.

Dass der russische Präsident dieses Ziel von Beginn seiner Herrschaft an verfolgt hat, das belegt seine mehrfach wiederholte Aussage, das Ende der Sowjetunion sei „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“. In der Ukraine, in den baltischen Staaten sowie in Polen wurde man hellhörig. Aus diesen Ländern wurden Stimmen laut, die vor der potentiellen Gefahr russischer Aggression warnten. Gehör im Westen fanden sie nicht. Sie wurden als Überreaktion abgetan oder gar als Ausdruck einer Russenphobie kritisiert.

Und Putin hat nicht nur von dieser „Katastrophe“ gesprochen, er hat auch immer wieder in seinen Äußerungen durchblicken lassen, dass es eine von Russland unabhängige Ukraine nicht geben darf. So konnte eigentlich seine Rede an sie Nation vom 21. Februar 2022, kurz vor Beginn der Feindseligkeiten, keine Überraschung sein. Darin heißt es u. a.: „Die ukrainischen Machthaber haben von Anfang an - das möchte ich unterstreichen - wirklich vom ersten Augenblick an, ihre Staatlichkeit auf die Verleugnung all dessen aufgebaut, was uns verbindet. Sie haben versucht, das Bewusstsein und das historische Gedächtnis von Millionen Menschen in der Ukraine, von ganzen Generationen zu manipulieren. Kein Wunder, dass in der ukrainischen Gesellschaft extremer Nationalismus aufkam, der rasch die Gestalt von aggressivem Russenhass und Neonazismus annahm. So erklärt sich auch die Mitgliedschaft ukrainischer Nationalisten und Neonazis in Terrorbanden im Nordkaukasus, die immer lauter Territorialforderungen an Russland erheben.

Auch äußere Kräfte haben dazu beigetragen. Sie haben mit Hilfe eines verzweigten Netzes von NGOs und Geheimdiensten in der Ukraine ihre eigene Klientel geschaffen und ihre Leute an die Macht gebracht. Man muss verstehen, dass die Ukraine im Grunde nie eine gefestigte Tradition einer eigenen authentischen Staatlichkeit hatte. 1991 machte sie sich daher daran, mechanisch fremde Modelle zu kopieren, die weder mit der Geschichte noch mit der ukrainischen Wirklichkeit etwas zu tun haben. Die staatlichen politischen Institutionen wurden permanent neu zugeschnitten, immer so, dass es den entstehenden Clans zum Vorteil gereichte, deren materielle Interessen denen des ukrainischen Volks entgegengesetzt waren. Der ganze Sinn der sogenannten Entscheidung für die westliche Zivilisation, den die oligarchische Staatsführung der Ukraine getroffen hat, bestand und besteht daher nicht darin, die besten Voraussetzungen für allgemeinen Wohlstand zu schaffen, sondern darin, dem geopolitischen Gegner Russlands unterwürfig zu Diensten zu sein, um so jene Milliarden von Dollar abzusichern, die diese Oligarchen dem ukrainischen Volk geraubt und auf westlichen Bankkonten versteckt haben.“ Und mit diesem die Realität verfälschenden Ukraineverständnis rechtfertigt Putin im Hinblick auf den russischsprachlichen Donbass mit gleicher Verlogenheit den brutal geführten Angriffskrieg: „Das Ziel der russischen Spezialoperationen ist es, die Menschen zu schützen, die acht Jahre lang vom Kiewer Regime misshandelt und ermordet wurden. Zu diesem Zweck werden wir versuchen, die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren“, sagte Putin in einer Fernsehansprache. Diese von Unwahrheit, Unterstellungen und Verleumdung geprägten Aussagen verdienen keinen Kommentar.

Eine ungewisse Zukunft

Welche Zukunft uns die Zeitenwende beschert, ist ungewiss. Vermittlungsbemühungen und Sanktionen, so hart sie auch sein mögen, haben bisher nicht dazu geführt, dass der Krieg gestoppt oder gar Frieden geschaffen wurde. Daran wird sich auch im weiteren Kriegsverlauf nichts ändern. Auch Putins weltweite Ächtung durch demokratische Länder wird ihn global nicht isolieren können, gibt es doch genug Staaten, die offen oder im Stillen zu ihm halten. So geht dieser verbrecherische Krieg vorerst weiter. Die Zahl der Opfer, die bereits jetzt schon zigtausend Tote beträgt, wird ebenso weiter steigen wie die der Millionen ukrainischer Flüchtlinge, die mit ihrem Hab und Gut auch ihre Heimat verloren haben. Mehr und mehr kommen die von der russischen Soldateska begangenen Kriegsverbrechen ans Licht. Schon werden Stimmen laut, die fordern, den russischen Präsidenten als Kriegsverbrecher vor dem Internationalen Haager Gerichtshof zu verklagen.

Dauer und Ausgang dieses verheerenden Krieges sind kaum vorhersehbar. Tapferkeit und Heldenmut der Ukrainer allein werden nicht reichen, diesen Krieg für sich zu entscheiden. Westliche Waffenlieferungen helfen zwar, doch ein militärisches Gleichgewicht der Kräfte dürften sie wohl kaum herstellen. Und welche schweren Waffen darf man liefern, ohne Kriegspartei zu werden? Hier erweist sich die deutsche Politik besonders vorsichtig und zögerlich. Nicht Putin, wohl aber Kanzler Scholz markierte die rote Linie, die mit der Lieferung von Panzern überschritten würde. Überschreite man sie, dann drohe ein Atomkrieg. Diese rote Linie wurde von Scholz, wohl auf Druck aus den eigenen Reihen sowie von anderen NATO-Partnern, am Ende doch überschritten, ohne dass ein Atomkrieg ausbrach. Entsprang nach all dem seine Warnung einer ernsten Sorge oder war sie bloße Angstmache, eine kalkulierte Politik, um bei allem Bekenntnis zur Ukraine die gestörte Beziehung zu Russland nicht gänzlich aufs Spiel zu setzen?

Nachdem Putins Versuch, Kiew einzunehmen, gescheitert ist, besteht sein jetziges Ziel darin, mit einer Großoffensive die gesamte Ostukraine unter seine Kontrolle zu bringen. Würde ihm dies gelingen, könnte er – nun im Gewand eines Friedensengels - einen Waffenstillstand als Voraussetzung für Friedensverhandlungen anbieten. Doch was wäre das Ergebnis? Was seine Armeen gewaltsam erobert haben, wird er nicht wiederhergeben. Und Präsident Selenskyj wird den Verlust eines Großteils seines Landes nicht akzeptieren. So könnte der Krieg noch lange dauern und das Sterben kein Ende finden.

Was wird, sollte die jetzige Großoffensive ebenso scheitern wie der Versuch, Kiew einzunehmen? Was wird, solllte die Ukraine am Ende siegreich sein? Was wird, sollten sich Putins Armeen genötigt sehen, sich über die ukrainisch-russische Grenze zurückzuziehen? Dann wird sich Putin nicht an der Macht halten können, dann werden die Karten neu gemischt.

Im einen wie im anderen Fall ist eine Neuausrichtung deutscher Russlandpolitik wie die der Europäischen Union unumgänglich. Im Zeichen der Zeitenwende sollte man sich bereits jetzt auf beide Alternativen vorbereiten.

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