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Timothy Snyder und Adam Michnik im Gespräch

Timothy Snyder und Adam Michnik im Gespräch zu Putins Vernichtungskrieg

Wenn der Osthistoriker Timothy Snyder und der Chefredakteur der einflussreichen liberalen Tageszeitung Wyborcza zu Putins Vernichtungskrieg gegen die Ukraine ihre Meinung austauschen, dann ist Aufmerksamkeit geboten. Sie beantworteten verschiedene ihnen von der Moderatorin gestellte Fragen, auf die sich so mancher eine Antwort wünscht: Kann Putin den Krieg gewinnen? Woher kommt die Brutalität russischer Soldaten? Was ist von Putin sonst noch zu erwarten? Ist es vorstellbar, dass Russland einmal demokratisch wird? Wie hat der Krieg die Sicht auf die Ukraine verändert? Ist die jetzige westliche Einheit von Dauer?

Vorläufige Bilanz des Krieges

Der Verlauf des nun seit Monaten andauernden Krieges habe gezeigt, dass Russland seine gesteckten Ziele bislang nicht erreicht hat. Die Verluste an Soldaten und Kriegsgerät seien enorm. Kaum jemand habe mit der Widerstandskraft der Ukrainer gerechnet. Auch der in seinem Weltbild gefangene Putin nicht. Für ihn dürfte es eine große Überraschung sein, dass es die Ukraine immer noch gibt – den Präsidenten, der internationales Ansehen genießt, eine intakte Führung, eine zum Widerstand entschlossene Zivilgesellschaft. Es sei eine prinzipielle Fehleinschätzung anzunehmen, der Krieg würde einzig und allein von der ukrainischen Armee geführt. Die russischen Truppen würden sich vielmehr dem Widerstand einer ganzen Nation gegenüber sehen. Daher könne Putin seinen Krieg nicht gewinnen.

Adam Michnik meint sogar, Putin habe ihn, historisch gesehen, bereits verloren. Der Mythos einer angeblich unbesiegbaren russischen Armee habe sich in Nichts aufgelöst, und die berühmten und gefürchteten Spezialkräfte hätten versagt. Zudem habe sich die psychologische und moralische Stellung Russlands in der globalen politischen Landschaft grundlegend und zum Schaden Russlands verändert.

Konsequenzen für Putin und den Westen

Wenn dieser Krieg, wie es scheint, von Russland nicht zu gewinnen ist, werde es für Putin schwer, ohne Gesichtsverlust aus der von ihm selbst verschuldeten Situation herauszukommen. Denkbar sei, dass sich Putin mit dem teilweise eroberten Donbass zufrieden gibt und sich mit einer großen Siegesfeier diesen Erfolg zuschreiben werde.

Bei einem solchen Szenario stelle sich die Frage, wie sich dann der Westen verhalten werde. Für ihn gehe es um die Entscheidung, entweder auf die Ukraine Druck auszuüben, damit sie um des lieben Friedens willen die Realitäten akzeptiere und auf einen Teil ihres Territoriums verzichte, oder die Ukraine in ihrem Kampf weiter zu unterstützen und auf den gänzlichen Abzug der russischen Militärmacht zu bestehen.

Einen von Putin angedrohten Atomschlag halten beide für höchst unwahrscheinlich. Putin sei zwar alles Mögliche zuzutrauen, doch den Einsatz von Atomwaffen dürften wohl seine Generäle verhindern, weil diese schließlich in Erwartung eines westlichen Gegenschlags keine Selbstmörder seien.

Die große Unterstützung für Putin in der Bevölkerung ist fraglich

Wichtig sei auch, wie groß der Rückhalt für Putins Vernichtungskrieg in der Bevölkerung ist. Adam Michnik verweist darauf, dass 2014 die Annexion der Krim von der Breite der Bevölkerung bejubelt wurde, während von einem vergleichbaren Jubel bei jetzigen Eroberungen, etwa der strategisch wichtigen Stadt Mariupol, keine Begeisterung festzustellen sei. Die polnischen Erfahrungen zeigten im Übrigen, wie schnell ein Meinungsumschwung erfolgen kann, der zum Machtverlust des jeweils Herrschenden führe. 1989 sei nicht das einzige Beispiel.

Snyder hält allerdings dagegen. Es gäbe auch jetzt einen gewissen Enthusiasmus für Putins Krieg. Umfrageergebnisse, bei denen die Unterstützung für Putin bei über 70% liege, seien zwar in einer Diktatur nicht aussagekräftig, doch schätze er, dass die Unterstützung für Putin, neben den berufsmäßigen Propagandisten, bei 20% liegen würde. Allerdings reiche sie nur bis zu einem gewissen Punkt, nämlich solange man selbst nicht von diesem Krieg betroffen sei. Bis jetzt seien lediglich Nichtrussen oder Russen aus weit entlegenen Gebieten ums Leben gekommen, niemand aus Moskau. Sollte es zu einer allgemeinen Mobilmachung kommen, könne es einen Meinungsumschwung geben.

Zukunft für Russland nur ohne Putin

Die Beseitigung Putins allein schaffe kein neues Russland nach westlichen Wünschen. Ein demokratisches Russland, so Snyder, werde es nicht geben. Zu erwarten sei, falls Russland diesen Krieg verliere, ein Ende der Tyrannei, nicht aber ein westliches, liberales Russland, sondern ein nationales Russland, ein nicht nur geographisch, sondern politisch und gesellschaftlich zwischen dem Westen und China liegendes Russland, in dem nicht pseudonationale Oligarchen das Sagen haben, sondern russische Patrioten ohne antiwestliche Feindbilder.

Anders als Snyder hält Michnik eine Demokratisierung Russlands für möglich, wenngleich nicht in naher Zukunft.

Ein neues Ukraineverständnis

Was die Ukraine betrifft, sei diese nach Meinung beider aufgrund des Krieges vom Westen erst richtig wahrgenommen worden. Sie sei, so Michnik, zur Zeit das wichtigste Land in Europa. Schon einmal sei ihr auf Druck Frankreichs und Deutschlands der Weg in die Europäische Gemeinschaft und in die NATO versperrt worden. Ein weiteres Mal dürfe die Chance nicht vertan werden. Auch wenn der Prozess, wie bei allen Osteuropäern, schwierig verlaufen werde, das Ziel dürfe nicht in Zweifel gezogen werden. Hier seien jene gefragt, die auf die öffentliche Meinung Einfluss nehmen können, Journalisten. Politiker. Ein neues Jalta, das auf Kosten der Ukraine die Einflusssphären der Großmächte abstecke, dürfe es nicht geben.

Snyder verweist darauf, dass die Ukraine in Amerika inzwischen d a s Thema sei. Hier seien sich, was ansonsten nicht der Fall ist, Demokraten und Republikaner in der Einschätzung der Situation einig. Die Sichtweise Trumps von einem starken Putin sowie sein Plädoyer für eine autoritäre Politik haben sich als falsch erwiesen. Dennoch bleibe der Risikofaktor einer Wiederwahl Trumps.

Putin habe mit seinem Vernichtungskrieg erreicht, dass der Westen einig ist wie kaum jemals zuvor. Das betreffe auch die unter Trump gestörten transatlantischen Beziehungen.


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