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Katyń – die Geschichte einer Tragödie

10. April 2010

Seit dem 10. April 2010 verbindet sich mit dem nahe Smolensk gelegenen Ort Katyń eine doppelte Tragödie – die der Ermordung Tausender polnischer Offiziere im Frühjahr 1940 sowie die des Flugzeugunglücks am frühen Morgen dieses verhängnisvollen Tages. Bei dichtem Nebel verfehlte die polnische Regierungsmaschine beim Anflug auf den Flughafen die Landebahn und stürzte in ein Waldgebiet. Mit Präsident Lech Kaczyński und seiner Frau kamen alle übrigen 94 Passagiere und Besatzungsmitglieder ums Leben – Politiker der verschiedenen Lager, hohe Militärs, Geistliche dreier Konfessionen sowie Witwen und Nachkommen ihrer in Katyń vom sowjetischen NKWD ermordeten Angehörigen. Sie alle wollten in Katyń an diesem 70. Jahrestag des Massakers der Opfer gedenken. Die Anteilnahme an dieser Katastrophe war überwältigend. In Polen trauerte in seltener Einmütigkeit die ganze Nation, so wie sie am 2. April 2005 den Tod „ihres“ Papstes betrauert hatte. Mit Respekt verfolgte das Ausland diese Solidarität in der Trauer und der Ehrung der Toten.

Die Verbundenheit beider Tragödien symbolisierte die Beisetzung des Präsidentenpaares in der sonst den Königen und Nationaldichtern vorbehaltenen Krypta der Kathedrale auf dem Krakauer Wawel, wo auch Józef Piłsudski seine letzte Ruhe fand. Diese von Kardinal Dziwisz getroffene Entscheidung war in der Öffentlichkeit zunächst umstritten, fand dann aber doch eine breite Zustimmung, nachdem klargestellt worden war, dass mit dieser Beisetzung aller Opfer der Flugzeugkatastrophe sowie der in Katyń ermordeten Offiziere gedacht werden soll.

Die Tragödie vom 10. April hat zudem über die Grenzen Polens hinaus den Blick der Weltöffentlichkeit auf das 70 Jahre zurückliegende, lange Zeit tabuisierte und das polnisch-russische Verhältnis schmerzlich belastende Massaker im Wald von Katyń gerichtet. Was hat sich damals dort abgespielt? Welche politischen Konflikte resultierten aus der Entdeckung der Massengräber? Mit welchen Mitteln waren die sowjetische und die russische Führung bemüht, die Wahrheit über Kartyń zu verschleiern? Wie stark belastet Katyń das polnisch-russische Verhältnis? Welche Chancen ergeben sich nun für eine längst fällige polnische-russische Versöhnung? Versuchen wir im Folgenden, auf diese Fragen eine Antwort zu finden.

Katyń – eine warnende Erfahrung des 20. Jahrhunderts

Über Katyń lässt sich nicht emotionslos sprechen, nicht ohne die Vorstellung, wie die Opfer ihre letzten Wochen und Stunden verlebt haben. Es waren Offiziere in den besten Mannesjahren, in ihrer Heimat hoch geachtet, für die mit ihrer Gefangennahme durch die Rote Armee ein mit Entwürdigungen verbundenes Martyrium begann. Hinter Stacheldraht, in Baracken auf engen Raum zusammengedrängt, verbrachten sie ihre Tage untätig auf ihren Pritschen, ohne Wahrung der Intimsphäre, von Hunger geplagt, ohne Kontakt zu ihren Familien, nicht wissend, was der morgige Tag bringen wird. Auf Lastwagen verfrachtet begann ihre Fahrt ohne Wiederkehr. Am Ende die letzten Sekunden an den ausgehobenen Gruben, in ihrem Rücken die Todesschützen des NKWD. Was waren ihre letzten Gedanken? Wir wissen es nicht.

Das Treffender Ministerpräsidenten Polens und Russlands in Katyń

Am 7. April, drei Tage vor der Flugzeugkatastrophe, erwiesen die Ministerpräsidenten Russlands und Polens, Wladimir Putin und Donald Tusk, zum 70. Jahrestag des Massakers von Katyń den Opfern die Ehre und reichten einander über den Gräbern der Ermordeten die Hand. Ist diese Geste, wie manche Beobachter vermuten, der Beginn eines russisch-polnischen Versöhnungsprozesses? Zu wünschen wäre es, doch Zweifel sind erlaubt.

Bereits die Einladung an Ministerpräsident Donald Tusk wirft Fragen auf. Sie wurde am 7. Februar von Wladimir Putin ausgesprochen und umgehend in den russischen Medien öffentlich gemacht. Dieses Vorgehen ist diplomatisch höchst ungewöhnlich. Normalerweise gehen derlei Einladungen wechselseitige Konsultationen voraus, um sich über die beiderseitigen Absichten auszutauschen. So aber wurde der polnische Ministerpräsident vor vollendete Tatsachen gestellt und der Möglichkeit beraubt, Präsident Lech Kaczyński vorab zu informieren und in die Planungen einzubeziehen.

Auffällig ist auch, dass sich Donald Tusk seinerseits über die Einladung nicht öffentlich geäußert hat. Sein Schweigen gibt Rätsel auf. So wundert es nicht, dass in der polnischen Öffentlichkeit darüber spekuliert wurde, dass Putin mit der Form seiner Einladung die Absicht verfolgt habe, dass das Treffen in Katyń lediglich auf der Ebene der Ministerpräsidenten und nicht oder nicht auch auf der der Staatspräsidenten stattfinden sollte. Im Klartext bedeutet diese Vermutung, dass Putin bewusst ein Treffen mit Präsident Kaczyński in Katyń verhindern wollte und dies wohl nicht zuletzt wegen dessen deutlicher Parteinahme für Georgien im kriegerischen Konflikt mit Russland. So sah sich der polnische Präsident genötigt, aus eigener Initiative am 10. April in Katyń des 70. Jahrestages jenes Massenmordes zu gedenken – eine Absicht, die er samt seiner Delegation mit dem Leben bezahlt hat.

Das Treffen am 7. April zwischen Putin und Tusk ist sicherlich von einem hohen symbolischen und moralischen Wert. Immerhin hat der russische Premier, ein Mann, der vor seiner politischen Karriere selbst Offizier des sowjetischen Geheimdienstes war und so in der Tradition des für das Massaker von Katyń verantwortlichen NKWD steht, dieses an den Gräbern der Opfer als Akt des sowjetischen Totalitarismus verurteilt. Doch ein Wort der Entschuldigung, wie es vor Jahren von Jelzin zu hören war, hat man aus seinem Mund nicht vernommen. Putins Rede war von der Tendenz bestimmt, gegenüber dem Stalinismus das heutige Russland in einer Weise abzuheben, die eine solche Entschuldigung überflüssig macht. Vielmehr rief er dazu auf, gleichsam aus dem Abstand der Geschichte, gemeinsam der Opfer des Totalitarismus zu gedenken, zu denen nicht nur die polnischen Offiziere zählen, sondern auch wirkliche oder vermeintliche Gegner des Sowjetregimes ohne Rücksicht auf ihre ethnische Herkunft. Die hier gewünschte Gemeinsamkeit ist gewiss ein erstrebenswertes Ziel, das aber nur dann erreichbar ist, wenn das an den polnischen Offizieren verübte Kriegsverbrechen voll aufgeklärt wird. Erst dann eröffnet sich ein Weg zur polnisch-russischen Versöhnung, Die nahe Zukunft wird zeigen, ob die Führung der Russischen Föderation bereit ist, um dieses Zieles willen der polnischen Forderung nach Aushändigung aller Katyń betreffenden Dokumente zu entsprechen sowie die Offenlegung und Fortsetzung der von der russischen Militärstaatsanwalt abgebrochenen geheimen Untersuchung zu verfügen.

Die Entdeckung der Massengräber

Entdeckt wurden die Gräber in Katyń im Frühjahr 1943 durch polnische Zwangsarbeiter, die nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion in der Nähe beim Gleisbau eingesetzt waren. Sie hatten von der Ortsbevölkerung von der Ermordung der polnischen Offiziere erfahren und waren die ersten, welche die Deutschen über das Massaker informierten. So stieß man in dem nahe von Smolensk gelegenen Wald von Katyń auf die über 4000 ermordeten polnischen Offiziere, doch nimmt man die Massengräber an anderen Orten hinzu, dann kommt man auf insgesamt 14700 polnische Offiziere und 11000 polnische Zivilisten, die 1939/40 in den von der Roten Armee eroberten polnischen Ostgebieten gefangen genommen bzw. verhaftet und bald darauf vom NKWD erschossen und verscharrt worden waren. Auch vielen ihrer Angehörigen, die im April 1943 im besetzten Warschau über Straßenlautsprecher von der Entdeckung der Massengräber erfahren hatten und in ausgehängten Listen die identifizierten Namen ihrer Männer, Väter und Söhne einsehen konnten, blieb ein schmerzlicher Leidensweg nicht erspart. Sie verbrachten Jahre in deutschen Konzentrationslagern oder wurden nach Sibirien deportiert. Wer diese Passion überlebte und in das nun kommunistische Polen zurückkehrte, war zum Schweigen verurteilt. Denn nach der offiziell propagierten Version hatte ein deutsches Kommando und nicht der NKWD diese Massenmorde begangen. Erst nach dem Ende des Sowjetregimes konnten die Angehörigen in den 1990er Jahren an den von Kiefern überwachsenen Massengräbern ihrer Toten gedenken.

Katyń – Wahrheit im Dienst der Propaganda.

Katyń – das ist auch eine Geschichte der Heuchelei und Lüge. Sie beginnt mit der von Reichspropagandaminister Joseph Goebbels am 13. April 1943 über den Berliner Rundfunk verbreiteten Meldung von den in Katyń entdeckten Massengräbern. Angesichts der sonst von Goebbels verbreiteten Lügen war diese Nachricht wenig glaubwürdig und eingedenk der eigenen Verbrechen eine Heuchelei. Es ging ihm nicht um die Opfer, sondern darum, mit dieser Entdeckung die Sowjetunion bei den Westalliierten in Misskredit zu bringen und ihr Waffenbündnis zu schwächen. Zudem waren die nun beklagten Massenmorde erst durch den Hitler-Stalin-Pakt möglich geworden. Mehr noch: Es spricht vieles dafür, dass im Dezember 1939 auf dem deutsch-sowjetischen Treffen in Zakopane die Eliminierung der polnischen Elite im jeweiligen Besatzungsgebiet beschlossen worden war.

Die deutsche Seite beließ es nicht bei der bloßen Meldung. Um vor der Weltöffentlichkeit die Wahrheit über das von den Sowjets verübte Kriegsverbrechen zu untermauern, bat sie das Internationale Rote Kreuz als unabhängige Instanz, die Untersuchungen vor Ort vorzunehmen. Das aber erteilte der deutschen Reichsregierung eine Absage, nachdem auf Anfrage der Kreml, wie zu erwarten war, die nach den Statuten erforderliche Zustimmung verweigert hatte. Sie stellte daraufhin eine aus dem verbündeten Italien sowie aus den besetzten Gebieten stammende Gruppe von Gerichtsmedizinern zusammen, der sich auch ein Pathologe aus der neutralen Schweiz anschloss, und beorderte sie nach Katyń. Ihr Auftrag war mit einem hohen persönlichen Risiko verbundenen: Würden sie zu dem Ergebnis kommen, dass sich der den Sowjets angelastete Massenmord nicht beweisen ließ, was praktisch bedeutet hätte, Goebbels der Lüge überführt zu haben, dann wäre wohl der Preis ihrer Wahrheit Tod oder Konzentrationslager gewesen. Bestätigten sie aber die Propagandameldung, dann setzten sie sich nicht nur dem Verdacht der Kollaboration aus, sondern sie gerieten damit auch ins Visier des NKWD, und es erwartete sie, wie später geschehen, ein Leben in Angst vor dem langen Arm des sowjetischen Geheimdienstes.

Der Befund der Pathologen

Was die Gerichtsmediziner im Wald von Katyń vorfanden, übertraf ihre Befürchtungen: Angesichts von sieben Massengräbern mit Tausenden Opfern sahen sie sich einem der schrecklichsten Kriegsverbrechen konfrontiert. Die Untersuchungen ergaben, dass die Opfer durch Genickschuss gestorben waren. Sowohl die Obduktion ausgewählter Leichen als auch die in den Gräbern gefundenen Dokumente belegten zweifelsfrei, dass die polnischen Offiziere in den März- und Apriltagen des Jahres 1940, also vor dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion im Juni 1941, ermordet worden waren. Diesen Befund bestätigten die Pathologen in einem von allen unterschrieben Protokoll. Damit war klar, dass für dieses Massaker allein die sowjetische Seite verantwortlich war.

Leugnung der Wahrheit mit allen Mitteln

Während die international zusammen gesetzte Kommission der Gerichtsmediziner noch in Katyń mit ihren Untersuchungen befasst war, tobte bereits zwischen Berlin und Moskau neben dem blutigen Kampf auf dem Schlachtfeld ein Propagandakrieg. Der Moskauer Rundfunk hatte bereits zwei Tage nach Goebbels Rundfunkrede die Beschuldigung als Provokation zurückgewiesen und die Massenerschießungen der deutschen Seite angelastet. Bei den Ermordeten handle es sich um beim Straßenbau eingesetzte polnische Kriegsgefangene, die beim Rückzug der sowjetischen Truppen den Deutschen in die Hände gefallen und von ihnen exekutiert worden seien. Als im Herbst 1943, wenige Monate nach Abschluss der Untersuchungen in Katyń, die Rote Armee Smolensk zurückerobert hatte, wurde eine Kommission beauftragt, entsprechendes Material bereit zu stellen, das diese Version beweisen sollte. Als Beleg dafür, dass die in den Wäldern verscharrten Opfer 1940/41 noch gelebt hatten, dienten gefälschte und den Toten beigelegte Dokumente. Dann wurden die von der internationalen Untersuchungskommission markierten Gräber eingeebnet, mit Sand überschüttet und mit Bäumen bepflanzt. Zudem wurden „Zeugen“ präsentiert, die man zu Falschaussagen erpresst hatte. Unter Druck zogen der bulgarische und tschechische Pathologe ihre Unterschriften unter das gemeinsam verfasste Protokoll zurück. Ihr rumänischer Kollege hatte dagegen nicht widerrufen und sich seiner Verhaftung durch die Flucht nach Paris und später nach Südamerika entziehen können.

Wenngleich Goebbels Rechnung einer Schwächung des Kriegsbündnisses der Westalliierten mit der Sowjetunion nicht aufging, so kam es doch zu einem Bruch mit der in London residierenden polnischen Exilregierung. Durch die Nachricht von der Ermordung Tausender vermisster polnischer Offiziere aufgeschreckt, bestand sie auf einer Untersuchung durch das Internationale Rote Kreuz. Sie wurde daraufhin von der sowjetischen Führung beschuldigt, sich die deutsche Provokation zu eigen gemacht zu haben. Unter diesem Vorwand brach Moskau am 25. April 1943 die diplomatischen Beziehungen mit der ohnehin ungeliebten polnischen Exilregierung ab. Zudem fand die polnische Exilregierung in der Katyń-Frage keinerlei Unterstützung bei den Westalliierten, die, um den sowjetischen Verbündeten nicht zu brüskieren, kein Interesse zeigten, die Wahrheit über Katyń herauszufinden. Erst 1952 befasste sich der amerikanische Kongress mit Katyń und lud die 1943 mit der Untersuchung beauftragten Pathologen, soweit sie im freien Westen lebten, als Zeugen ein.

Dagegen hielt die sowjetische Führung auch nach Ende des Zweiten Weltkriegs an der von ihr fabrizierten und in ihrem Machtbereich verbreiteten Katyń-Lüge fest. Noch Ende der 1970er Jahre ließ sie im Wald von Katyń ein Denkmal mit folgender Inschrift errichten: Den Opfern des Faschismus – den 1941 von den Hitleristen erschossenen polnischen Offizieren.

Polnische Untersuchungen in Katyń unter Schwierigkeiten

Es sollte bis zum Ende der Sowjetunion dauern, ehe die polnische Seite 1994 die Genehmigung erhielt, nach Katyń eine Gruppe von Topographen und Pathologen zu entsenden, um die Gräber der ermordeten Offiziere zu registrieren und Vorbereitungen für einen Ehrenfriedhof zu treffen. Leicht wurde ihnen die Arbeit vor Ort nicht gemacht. Zunächst wurde der Zeitpunkt ihrer Reise mehrfach verschoben und die ursprüngliche Erlaubnis zu Exhumierungen wieder zurück gezogen, so dass man sich auf Sondierungsarbeiten beschränken musste. Dann stieß diese Gruppe vor Ort auf deutliche Ablehnung: Während sie sich in Smolensk mit den Behörden besprach, kam es vor dem Amtsgebäude zu einer Protestdemonstration mit Rufen „Hände weg von Katyń!“ Drinnen versuchte man, dem polnischen Expertenteam klar zu machen, dass der Wald von Katyń unter Naturschutz stehe und daher dort keinerlei Untersuchungen vorgenommen werden dürften. Es war eine Politik der Nadelstiche, die darauf abzielte, den polnischen Wissenschaftlern durch diese und andere Schwierigkeiten die Arbeit zu verleiden. Doch als sich diese davon unbeeindruckt zeigten, ließen die Schikanen mit der Zeit nach.

In der verfügbaren Zeit von gut drei Monaten konnte die Gruppe sämtliche Gräber identifizieren und das Gelände eines künftigen Ehrenfriedhofes abstecken. Im einzelnen wurden die 1943 entstandenen sechs Gräber gefunden und alle acht Todesgruben, wobei eine keine Leichen enthielt. Man weiß aber aus den Untersuchungen von 1943, dass damals von den dort angehäuften 200 Toten lediglich 10 in einem Massengrab beigesetzt worden waren. Daher ist anzunehmen, dass diese Grube später vom NKWD geleert worden war, ohne dass man bis heute weiß, wo diese Leichen geblieben sind. Zudem entdeckte das Team die Einzelgräber zweier Generäle, deren sterbliche Überreste 1995 nach Polen überführt und mit allen Ehren beigesetzt wurden.

Nach 1991 kein durchgreifender Neubeginn

In den Jahren 1991-1993 gab es eine kurze Phase, in der die Führung der Russischen Föderation Bereitschaft zeigte, die stalinistischen Verbrechen beim Namen zu nennen und damit auch die Grundlage für eine polnisch-russische Versöhnung zu legen. Doch heute fast vergessen ist Jelzins Versöhnungsgeste, als er am 24. August 1993 in Katyń die denkwürdigen Worte sprach: „Polen, verzeiht uns, wenn ihr könnt.“ Auch wurde zu dieser Zeit eine Delegation der „Katyń-Familien“ im Kreml vom damaligen Vizepräsidenten Aleksander Ruckoj empfangen, der seinerseits die Angehörigen der Opfer um Vergebung bat.

Doch derlei Gesten sollten sich nach Jelzins Ablösung und der Machtübernahme durch Wladimir Putin nicht wiederholen. Mit seiner Rückkehr zur früheren Großmachtpolitik verträgt sich keine derartige Selbstdemütigung. Sie verlangt vielmehr nach einer Geschichtspolitik, bei der der Zusammenbruch der UdSSR als Katastrophe gedeutet wird und die stalinistischen Verbrechen geleugnet oder doch relativiert werden. Da passt die Wahrheit über Katyń nicht ins nationale Selbstbild.

Irritationen im Vorfeld des Treffens der Regierungschefs

Den jüngsten Beweis für diese Geschichtspolitik lieferten die russischen Behörden nur wenige Tage vor der Gedenkfeier für die Opfer von Katyń am 7. April. In ihrer Antwort auf die von der Organisation der „Katyń-Familien“ beim Europäischen Gerichtshof eingereichten Klageschrift wiesen sie diese mit dem absurden Hinweis darauf zurück, bei den 1943 von den Deutschen vorgenommenen Exhumierungen seien keine sowjetischen Sachverständigen anwesend gewesen. Zudem sei die Tatsache, dass die Moskauer Militärstaatsanwaltschaft 1998 einer Angehörigen die Ermordung ihres Vaters bestätigt habe, nicht aussagekräftig, da diese Erklärung vor dem offiziellen Abschluss der Untersuchungen abgegeben wurde. Auch hier bedienten sich die russischen Behörden der aus sowjetischer Zeit hinlänglich bekannten dreisten Verdrehung von Tatsachen: Die auf der Grundlage einer Expertise russischer Spezialisten von der Moskauer Militärstaatsanwaltschaft Anfang der 1990er Jahre eingeleiteten Ermittlungen unterliegen nämlich seit dem Kurswechsel unter Präsident Putin der Geheimhaltung und wurden ganz im Einklang mit der vom Kreml verfolgten Geschichtspolitik eingestellt.

Historiker contra Geschichtspolitik

Dieser geschichtspolitisch bedingten Tabuisierung der vom NKWD verübten Massenexekutionen steht indes die Arbeit der Historiker entgegen. So hatten unter Jelzin polnische Wissenschaftler Zugang zu russischen Archiven und konnten wertvolle Quellen auswerten. Von besonderer Bedeutung sind die in den Jahren 1995-2006 von russischen Historikern erstellten vier Bände „Katyń. Dokumente eines Verbrechens“. Aufgrund dieser Untersuchungen weiß man heute, dass die Entscheidung zu den Massenerschießungen einstimmig vom Politbüro nach Vorlage von Lawrenti Beria, dem Chef des NKWD, am 5. März 1940 getroffen wurde. Bemerkenswert ist auch, dass es zwischen polnischen und russischen Historikern in der Interpretation der Verbrechen von Katyń keinerlei Dissens gibt.

Doch, wie man weiß, erreichen Historiker das öffentliche Bewusstsein nur durch Vermittlung der Medien. Und an ihr mangelt es in Russlands gelenkter Demokratie. So verhallen die Stimmen der mit „Memorial“ verbundenen Wissenschaftler, ohne eine Reinigung des nationalen Gedächtnisses zu bewirken. Dennoch verdienen sie höchste Anerkennung, zumal sie bereits 1980, also noch zu sowjetischer Zeit, unbeirrt und unablässig für die Wahrheit über Katyń eintraten. Damals veröffentlichten sie in der Zeitschrift „Kontinent“ eine Erklärung, in der es u. a. heißt: „An diesen gedächtnisreichen und für Polen schmerzlichen Tagen wollen wir, sowjetische Menschenrechtler, unseren polnischen Freunden sowie mit ihnen der ganzen polnischen Nation nochmals versichern, dass niemand von uns jemals die Verantwortung vergessen hat, noch vergessen wird, die unser Land wegen des von seinen offiziellen Vertretern in Katyń verübten Verbrechens zu tragen hat.“ Im Februar 2010 haben die damaligen Unterzeichner, soweit sie heute noch leben, unter Hinweis auf neuerliche geschichtspolitische Verschleierungen ihre damalige Erklärung erneuert. Zudem wandten sie sich in einem offenen Brief an Präsident Dmitrij Medwedjew mit der Forderung, die Ermittlungen wieder aufzunehmen, die Namen der Opfer zu veröffentlichen und die Schuldigen festzustellen.

Hoffnung auf eine polnisch-russische Versöhnung?

Um eine längst überfällige polnisch-russische Versöhnung über den Gräbern von Katyń zu erreichen, sind diese vereinzelten, wenngleich bedeutenden Stimmen zu schwach. Dazu bedarf es einer breiten gesellschaftlichen Basis. Auch symbolische Gesten führender russischer Politiker zielen ins Leere, wenn sie nicht mit einer Geschichtspolitik in Einklang stehen, bei der unmissverständlich die stalinistischen Verbrechen beim Namen genannt und glaubwürdige Worte der Entschuldigung gefunden werden. Vielleicht ist die russisch-orthodoxe Kirche in der Lage, innerhalb der Gesellschaft den erforderlichen Meinungsumschwung herbeizuführen, wie dies die Kirchen in Polen und der Bundesrepublik mit ihren Botschaften 1965 mit Erfolg geleistet haben. Um die Kirchen in Russland und Polen für einen solchen Akt der Versöhnung zu gewinnen, hat Adam Rotfeld, der polnische Kovorsitzende der gemeinsamen Arbeitsgruppe zur Aufarbeitung der aus der belasteten Vergangenheit resultierenden „schwierigen Fragen“, bereits entsprechende Gespräche mit dem Moskauer Patriarchat und dem Krakauer Kardinal Dziwisz geführt. Auch wenn konkrete Ergebnisse noch ausstehen, so ist doch die von russischen Bischöfen geplante Errichtung einer dem Gedenken der massenhaften Ermordung polnischer Offiziere gewidmeten Kapelle in Katyń ein hoffnungsvolles Zeichen für eine innerhalb der russisch-orthodoxen Kirche offenbar bestehende Versöhnungsbereitschaft.

Auch und vor allem die Anteilnahme der Regierung und Bevölkerung Russlands an der Tragödie vom 10. April lässt auf einen Durchbruch in den Bemühungen um eine polnisch-russische Versöhnung hoffen: Die Regierung verfügte einen Tag Staatstrauer; die Bevölkerung zeigte sich zutiefst betroffen und teilte die Trauer ihrer polnischen Nachbarn; Katyń, dieses lange Zeit öffentlich tabuisierte Thema, war plötzlich in aller Munde; das russische Staatsfernsehen strahlte Wajdas „Katyń“ zur besten Sendezeit aus, nachdem der Film zuvor erstmals am Karfreitag, wenige Tage vor dem Treffen beider Regierungschefs, in einem Kulturkanal ausgestrahlt worden war.

Diese Reaktionen verdeutlichen das Ende aller bisherigen Versuche, die Wahrheit über Katyń zu verschleiern. Damit scheint der Tag gekommen, dass ein von Polen initiierter „Appell zur Versöhnung“ Gehör findet. Unter Hinweis auf das von den Regierenden und den Bürgern Russlands angesichts der Flugzeugkatastrophe zum Ausdruck gebrachte Mitgefühlt heißt es: „Daher wenden wir uns an die russische Nation: Möge uns das bei Katyń neuerlich vergossene Blut verbinden, möge es uns zur gegenseitigen Versöhnung verhelfen. Möge es der Neubeginn in den polnisch-russischen Beziehungen sein, Beziehungen, frei von Misstrauen und Lüge.“

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