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Überlegungen zum ukrainischen Nationalismus

Nationalismus ist nicht gleich Nationalismus. Er ergibt sich jeweils aus der Geschichte eines Volkes und ihrer Deutung. Emanzipatorisch ist der Nationalismus einer Nation, die von anderen Völkern unterdrückt, beherrscht, gedemütigt und ausgebeutet wird und die um ihre Freiheit und Unabhängigkeit ringt. Allerdings steht auch er, wie die Geschichte lehrt, in der Gefahr, selbst repressiv zu werden, indem er sich dergleichen Mittel bedient, gegen deren Anwendung er sich zur Wehr setzt. Expansiv ist ein Nationalismus, in dessen Geist ein Volk im Bewusstsein eigener Macht und Größe darauf aus ist, andere Völker in seine Gewalt zu bringen. Schließlich gibt es den ethnisch bedingten Nationalismus, der die Zugehörigkeit zur Nation von der Bande des Blutes abhängig macht und ethnische Minderheiten ihrer Rechte beraubt. In seiner radikalen, rassistischen Form zielt er, wie im Nationalsozialismus geschehen, auf die Vernichtung all derer, die als „fremdrassisch“ definiert werden. Als besonders bedrohlich erweist sich ein Nationalismus, wenn ihm ideologische Deutungsmuster zugrunde gelegt werden, seien sie rassistischer, imperialistischer, kommunistischer oder fundamentalreligiöser Natur. Dabei tritt der hier grob katalogisierte Nationalismus selten in reiner Form auf, sondern verbindet verschiedene seiner Elemente zu einer Mischform.

Doch der Nationalismus eines Volkes ist nicht für alle Zeiten festgeschrieben. Geschichtliche Umbrüche bewirken eine Abkehr vom bisherigen nationalen Verständnis und verlangen eine Neudefinition. Dies zumal, wenn – wie im Falle der zwölf Jahre währenden NS-Herrschaft – der Nationalismus in die Katastrophe führte. Durch diese Erfahrung bedingt ist im deutschen Sprachgebrauch der Terminus „Nationalismus“ besonders belastet ist. Daher tut man sich in der öffentlichen Diskussion schwer mit einem differenzierten Verständnis in der Beurteilung des nationalen Verständnisses anderer Völker. So etwa bezüglich der Ukraine, indem man hierzulande der russischen Propaganda nur allzu leicht Glauben schenkt, welche die aus der Majdan-Bewegung hervorgegangene politische Elite mit den ukrainischen Nationalisten gleich setzt, die im Zweiten Weltkrieg mit den deutschen Truppen kollaborierten und sich des Völkermords an der polnischen und jüdischen Zivilbevölkerung schuldig gemacht haben. Aber gibt es wirklich diese Kontinuität, und wenn ja, von welcher Relevanz ist sie für die gegenwärtigen Geschehnisse? Grund genug, sich mit dem ukrainischen Nationalismus näher zu befassen.

Die Entstehung des ukrainischen Nationalismus

Die Anfänge des ukrainischen Nationalismus reichen, ähnlich wie die der Polen und Tschechen, bis in das 19. Jahrhundert zurück. Als Manifest des ukrainischen Nationalismus geriet 1903 ein Flugblatt in Umlauf, das in der Form von „10 Geboten“ die nationalistischen Ziele kurz umfasst. Unter der Devise „Ukraine den Ukrainern“ wird zur „Vertreibung aller Fremden und Unterdrücker“ aufgerufen. Verbreitet wurde dieses Manifest vor allem in dem unter österreichischer Herrschaft stehenden, nicht nur von Ukrainern, sondern auch von Polen und Juden besiedelten Galizien. Diese gelten denn auch als „Feinde“, die man „hassen“ und „boykottieren“ soll.

Die Chance, den Traum von einer unabhängigen, eigenständigen Ukraine Wirklichkeit werden zu lassen, bot sich im Ersten Weltkrieg. Damals riefen ukrainischen Nationalisten dazu auf, an der Seite Österreichs gegen Russland in den Krieg zu ziehen. Sie verbanden damit die Hoffnung, durch diesen Loyalitätsbeweis Galizien für sich zu gewinnen. Doch die Polen verfolgten das gleiche Ziel, und nicht die Ukrainer, sondern sie erreichten in Wien die Zusicherung von Autonomierechten, womit in Galizien der ukrainisch-polnische Konflikt grundgelegt wurde.

Als mit dem Ende des Ersten Weltkriegs der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn zerfiel, das deutsche Kaiserreich kapitulierte und Russland durch Revolution und Bürgerkrieg geschwächt war, nutze Polen, das unter diesen Mächten über hundert Jahre aufgeteilt war, die Situation und erreichte seine Eigenstaatlichkeit. Parallel dazu unternahmen auch die Ukrainer 1918/1919 einen Versuch nationaler Befreiung. Bezeichnend für die gegenwärtige Situation ist, dass er damals in zwei Schritten erfolgte, indem getrennt voneinander sowohl in der unter polnischem Einfluss stehenden West- wie in der seit Jahrhunderten russisch beherrschten Ostukraine eigene „Volksrepubliken“ gebildet wurden, die sich am 22. Januar 1919 zu einem gemeinsamen Staatswesen verbanden. Doch diese Staatsgründung war nur von kurzer Dauer. Das neuerstandene Polen besetzte kurzerhand die Westukraine, und die Sowjetmacht nahm die Ostukraine in Besitz. Für die ukrainischen Nationalisten bedeutete dies einen jahrzehntelangen Untergrundkampf an zwei Fronten. Dazu formierte sich ab 1924 die „Organisation Ukrainischer Nationalisten“ (OUN) mit der „Ukrainischen Aufständischen Armee“ (UPA) als deren militärischen Arm. Ihr politischer wie militärischer Anführer war Stepan Bandera (1909 – 1956). Sein Schicksal spiegelt die ganze Dramatik des ukrainischen Freiheitskampfes: 1935 wurde er wegen Beteiligung an einem Attentat an einem polnischen Politiker zum Tode verurteilt, später zu lebenslanger Haft begnadigt. Nach dem deutschen Überfall auf Polen kam er wieder frei. Als glühender Nationalist hatte Bandera keine Skrupel, sich nun die Erfüllung seiner nationalen Träume von Hitlers mörderischem Krieg zu erhoffen. So erklärte er bereits am 30. Juni 1941, acht Tage nach Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion und aufgrund des zügigen Vormarsches der deutschen Truppen, in Lemberg die Ukraine für unabhängig. Fünf Tage später war dieser Traum bereits ausgeträumt. Bandera und seine Getreuen fanden sich im KZ Sachsenhausen wieder. Im Herbst 1944 wurde er entlassen, lehnte aber die ihm angebotene Zusammenarbeit mit dem NS-System ab. Er nahm nunmehr in der Westukraine mit der UPA den Kampf sowohl gegen die deutsche Wehrmacht als auch gegen die Rote Armee auf. 1946 flüchtete er über Österreich nach München und wurde dort 1956 von einem KGB-Agenten ermordet.

Wesen und Zielsetzung des ukrainischen Nationalismus

Träger des ukrainischen Nationalismus war eine relativ schmale Schicht von Schriftstellern, Journalisten und politischen Akteuren. Der bekannteste unter ihnen war Dmytro Doncow (1883 – 1973). Er trat für eine Westbindung der Ukraine ein und sah ursprünglich ihre Mission, ähnlich wie Polen, darin, einen Schutzwall gegen den russisch-sowjetischen Imperialismus zu bilden. Entsprechend sprach er sich für eine polnisch-ukrainische Interessengemeinschaft aus und zeigte sich bereit, dafür sogar auf das von den ukrainischen Nationalisten beanspruchte, zu Polen gehörende Galizien zu verzichten. Allerdings verwarf der Kongress der Organisation ukrainischer Nationalisten diese Version, an der aber die in Polen legal agierende ukrainische national-demokratische Partei (UNDO) festhielt. Sie geriet dadurch in Gegensatz zur OUN, die in den 1920er und 1930er Jahren zahlreiche Terrorakte gegen ihre führenden Vertreter verübte.

Auch Doncow löste sich von seiner ursprünglichen Konzeption. In den 1930er Jahren orientierte er sich zunehmend am Aufkommen des deutschen Nationalsozialismus. In der „nationalen Revolution“, im Führerprinzip sowie in der Ein-Parteien-Herrschaft der NSDAP sah er das Vorbild für den nationalen Befreiungskampf seiner Heimat. Er erhoffte sich eine Unabhängigkeit der Ukraine mit deutscher Hilfe und bahnte damit den Weg für die spätere Kollaboration mit dem NS-System.

Eine letzte Transformation seiner Konzeption vollzog Doncow, als sich diese Hoffnung als Illusion herausstellte und sich die ukrainischen Nationalisten in der Endphase des Zweiten Weltkriegs zu einem Partisanenkampf auch gegen die deutschen Truppen entschlossen. Nun verlieh Doncow seiner Konzeption in der Hoffnung auf die westlichen Siegermächte demokratische Züge. Damit ist für die Konzeption des ukrainischen Nationalismus ein gewisser Pragmatismus kennzeichnend. Bei einer durchgängig antirussischen bzw. antisowjetischen Grundausrichtung erweist sich der ukrainische Nationalismus je nach Situationsanalyse und politischer Konstellation als wandelbar.

Den Grund dafür, dass zwar Polen und Tschechen die sich mit dem Ende des Ersten Weltkriegs bietende Chance zur Eigenstaatlichkeit nutzen konnten, nicht aber sie selbst, sahen die ukrainischen Nationalisten in einem Mangel an entschiedenem Handeln. Diese Entschiedenheit hatten die Polen mit ihren Aufständen sowie mit ihrem internationalen Insistieren auf die ungelöste „polnische Frage“ bewiesen. Aus dieser Einsicht zogen die ukrainischen Nationalisten die Konsequenz eines im Vergleich zu den Tschechen und Polen weit radikaleren Freiheitskampfes, der sich an keine Ethik gebunden fühlte. So heißt es etwa in der 1929 von Mychajło Kołodzienskyj veröffentlichten Broschüre:

„Am Beispiel der polnischen Aufständischen sehen wir, dass Menschen, die die Freiheit für ihre Nation erringen wollten, zum Erreichen dieses Ziels in der Nutzung der Mittel nicht wählerisch waren. Warum sollten nicht auch wir die durch die Geschichte vorgezeichneten Wege beschreiten? Braucht es Blut, dann ein Meer an Blut, braucht es Terror, dann einen höllischen, braucht es die Vernichtung materieller Güter, dann lassen wir nichts übrig. […] Wir schämen uns nicht der Morde, der Plünderungen, der Brandstiftungen. Im Kampf gibt es keine Ethik. Ethik im Krieg, das sind Überbleibsel einer von den Siegern den Besiegten aufgezwungenen Knechtschaft.“(1)

Ukrainische Nationalisten im Zweiten Weltkrieg - Bluttaten und Kollaboration

Es blieb nicht bei derlei radikalen Äußerungen, sie wurden auch in die Tat umgesetzt. Bereits in den 1930er Jahren verübten ukrainische Nationalisten in der zu Polen gehörenden Westukraine zahlreiche Sabotageakte sowie missglückte und geglückte Attentate auf hochrangige polnische Politiker und Vertreter der national-demokratischen Partei.

Mit dem Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 war zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion die Aufteilung Polens beschlossen worden. Umgesetzt wurde diese allen internationalen Regeln Hohn sprechende Vereinbarung mit dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 und dem Einmarsch der Roten Armee am 17. September in Ostpolen. Damit geriet die zu Polen gehörende Westukraine unter sowjetische Herrschaft. Ihr fielen Polen wie ukrainische Nationalisten zum Opfer. Sie wurden zu Tausenden ermordet oder deportiert. Diese Erfahrung verstärkte noch die ohnehin antirussische bzw. antisowjetische Ausrichtung des ukrainischen Nationalismus.

Mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 änderte sich erneut die Situation für die ukrainischen Nationalisten. Nun sahen sie für sich mit dem raschen Vormarsch der deutschen Truppen die Stunde gekommen, mit deutscher Hilfe endlich einen eigenen Staat bilden zu können. Doch ihre Ausrufung eines ukrainischen Staates scheiterte ebenso wie die Bildung und Vereinigung der beiden ukrainischen „Volksrepubliken“ unmittelbar mit dem Ende des Ersten Weltkriegs.

Trotz dieses misslungenen Versuchs verfolgten die ukrainischen Nationalisten weiterhin ihr Ziel einer freien und ethnischen reinen Ukraine. Unter den Augen der Deutschen kam es in der Westukraine zu regelrechten Massakern. Ihren ethnischen Säuberungsaktionen fielen in den Jahren 1942/1943 weit über 100 000 in Wolhynien lebende Polen zum Opfer, zumeist Alte, Frauen und Kinder.

Auch die Kollaboration mit den deutschen Besatzern diente ihrem Ziel. So besetzten Ukrainer unter deutscher Kontrolle zahlreiche Verwaltungsämter. Den in der Roten Armee kämpfenden und in deutsche Kriegsgefangenschaft geratenen Ukrainern bot sich die Gelegenheit, sich als „Hilfswillige“ zur Verfügung zu stellen. Dieses Angebot wurde von vielen bereitwillig angenommen. Sie wurden in militärische Verbände integriert, nahmen an Judenerschießungen teil und kamen als KZ-Wächter zum Einsatz.

Von besonderer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang die zumeist aus den Reihen von OUN und UPA gebildeten Kampfverbände. Bereits Monate vor dem Überfall auf die Sowjetunion entstanden auf Initiative der deutschen Abwehr aus ukrainischen Kriegsgefangenen der polnischen Armee die Bataillone „Roland“ und „Nachtigall“. Während die deutsche Führung beabsichtigte, die Ukrainer für ihre Zwecke zu instrumentalisieren, wollten diese auf diese Weise ihren Beitrag für eine unabhängige Ukraine leisten. An diesem inneren Widerspruch scheiterte das Unternehmen bereits in der Anfangsphase des Krieges gegen die Sowjetunion. Beide Bataillone wurden als unzuverlässig wieder aufgelöst, die Ukrainer zum Teil interniert und der Rest für ein Jahr als „Schutzmannschaftsbataillon 201“ verpflichtet. Eingesetzt wurde die Einheit zur Partisanenbekämpfung, doch nicht in der Ukraine, sondern in Weißrussland. Nach Ablauf der Verpflichtungszeit waren die Ukrainer aufgrund des genannten Interessenwiderspruchs nicht mehr bereit, ihre Verpflichtung zu erneuern.

Anders dagegen die 14. Waffen-Grenadier-Division der SS, auch unter dem Namen „SS-Freiwilligen-Division Galizien“ bekannt. Sie entstand 1943 und umfasste sieben Regimenter mit einer maximalen Kampfstärke von 20 000 Mann. Eingesetzt wurde sie vor allem im Partisanenkampf, aber auch zur Liquidierung von Juden. An der Ostfront erlitt sie gegen Ende des Krieges hohe Verluste. Ein Rest rettete sich auf österreichischen Boden und geriet in britische Gefangenschaft.

Der Kampf der ukrainischen Nationalisten wurde auch nach Kriegsende fortgesetzt. Da ihnen bei Niederlegung ihrer Waffen der sichere Tod drohte, führten sie bis in die 1950er Jahre einen Partisanenkampf gegen die sowjetischen Besatzer. Ihr Leben und Sterben erscheint aus der Sicht der Sieger als faschistische Kollaboration, aus der Sicht der am Ende Besiegten als ein heldenhafter Freiheitskampf.

Die Kiewer Regierung - eine „faschistische Junta“?

Ein Kernelement russischer Propaganda im Ukrainekonflikt bildet auf diesem historischen Hintergrund das Argument, die Regierung unter Präsident Petro Poroschenko stehe in direkter Kontinuität mit den ukrainischen Nationalisten á la Bandera; bei ihr handele sich um eine aus einem „faschistischen Putsch“ hervorgegangene „faschistische Junta“. Als Beweis werden die schwarz-roten Fahnen der Bandera-Nationalisten angeführt, die in der Tat neben dem blau-gelben Meer offizieller Nationalfarben gleichfalls auf dem Majdan zu sehen waren.

Es ist auch nicht zu leugnen, dass die durch Terrorakte und Gräueltaten belasteten ukrainischen Nationalisten der Zwischenkriegszeit und des Zweiten Weltkriegs die nationale Erinnerungskultur der Ukraine bestimmen. Straßen, Plätze und staatliche Institutionen tragen ihre Namen. Mehr noch: der aus der ersten Majdan-Bewegung hervorgegangene Präsident Wiktor Juschtschenko verlieh Stepan Bandera den Titel „Held der Ukraine“ – ein Akt, den sein russlandhöriger und durch die zweite Majdan-Bewegung gestürzter Nachfolger Wiktor Janukowitsch wieder rückgängig machte. Nun hat Präsident Petro Poroschenko den zeitgleich mit Russland am 23. Februar gefeierten „Tag des Vaterlandsverteidigers“ aufgehoben, der historisch auf die Gründung der Roten Armee zurückgeht und der in der Sowjetunion mit Paraden als Tag der Land- und Seestreitkräfte begangen wurde. Als neuen „Tag des Vaterlandsverteidigers“ legte Präsident Poroschenko den 14. Oktober fest, der als Gründungsdatum der ukrainischen Aufstandsarmee gilt.

Mit dem Zerfall der Sowjetunion erlangte die Ukraine am 24. August 1991 ihre Unabhängigkeit. Doch damit steht sie mit dem belasteten Erbe ihres Nationalismus vor einer äußerst schwierigen Aufgabe nationaler Selbstfindung. Sie kann auf dieses Erbe nicht verzichten, aber seine dunkle Seite, wie gegenwärtig zu beobachten, auch nicht einfach abspalten und negieren, sondern sie muss sich mit ihr auseinandersetzen. Dazu gibt es bestenfalls Ansätze. So haben sich polnische und ukrainische Historiker um eine Aufarbeitung der belasteten polnisch-ukrainischen Geschichte bemüht und ihre Ergebnisse in mehreren Bänden vorgelegt. Doch zu einer gemeinsamen, übereinstimmenden Sicht der Dinge hat diese Arbeit nicht geführt, die denn auch vom polnischen Publizisten Bohdan Skaradziński recht kritisch bewertet wird: „Unsere Nachgeborenen werden daraus keine Lehre ziehen, wenn Polen und Ukrainer, wie gehabt, an die Brust schlagen – die Polen an die ukrainische, die Ukrainer an die polnische.“(2)

Allerdings steht dieses belastete Erbe des ukrainischen Nationalismus heute für eine abgeschlossene, über 70 Jahre zurückliegende Phase ukrainischer Geschichte. Mit der zweiten Majdan-Bewegung hat die Ära eines neuen ukrainischen Nationalismus begonnen. Dieser ist durch die Wahrung der Unabhängigkeit und Einheit der Nation bestimmt und erfordert in der gegenwärtigen kriegerischen Auseinandersetzung mit den „Separatisten“ in der Ostukraine und der russischen Intervention einen hohen persönlichen Einsatz der Bürger. Zudem zeigt dieses neue nationale Selbstverständnis nicht die Züge einer ethnisch reinen, sondern die einer ethnisch pluralen Ukraine. Denn auf dem Platz der Unabhängigkeit kämpften und starben nicht nur ethnische Ukrainer, sondern ebenso ukrainische Russen, Polen, Juden Tataren und Griechen. Sie legten den Grundstein für eine patriotische, staatsbürgerliche Nation, die europäischen Werten entspricht.

Bedürfte es noch eines Beweises, dass die Kiewer Regierung keine „faschistische Junta“ ist, dann wurde er durch die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen geliefert. Die beiden Präsidentschaftskandidaten aus dem nationalistischen Lager von Swoboda (Freiheit) und dem Rechten Sektor verbuchten auf sich lediglich 300 000 Stimmen. Und bei den Parlamentswahlen wurden beide Gruppierungen erneut marginalisiert: Swoboda kam auf 4, 71%, der noch am ehesten mit Banderas UPA in Zusammenhang zu bringende Rechte Sektor auf 1,80% der Wählerstimmen. Mit ihrer absoluten Mehrheit errangen dagegen die proeuropäischen Parteien einen überwältigenden Wahlerfolg. Es fragt sich nur, ob die Europäische Union dies in genügender Weise zu honorieren weiß.

Doch selbst wenn angesichts dieser Fakten die russische Propaganda auf die Diffamierung der ukrainischen Regierung als „faschistische Junta“ verzichten sollte, so würde sie dennoch am Vorwurf des ukrainischen Nationalismus festhalten. Dazu reicht völlig aus, dass sich die Ukraine als ein von Russland losgelöster, unabhängiger und westlich orientierter Staat versteht, mit einer eigenständigen Kultur und Sprache.

Aufbruch zu einer neuen nationalen Identität

Der Weg zu einem neuen, die gesamte Ukraine umfassenden, westeuropäisch orientierten nationalen Selbstverständnis dürfte weit und schwierig sein sowie vorerst auf die Westukraine beschränkt bleiben. In der Ostukraine ist im Gegensatz dazu ein nationales Narrativ vorherrschend, das sich an Russland orientiert und sich auf den Sieg über Hitlerdeutschland beruft, an dem Millionen innerhalb der Roten Armee kämpfender Ukrainer ihren Anteil haben. Dieses Narrativ dient Russland und den „Separatisten“ nicht nur zur Legitimierung ihres Krieges, es steht auch in einem eklatanten Gegensatz zum nationalen Selbstverständnis der Westukrainer, macht, solange dieser Gegensatz besteht, einen einheitlichen ukrainischen Nationalismus unmöglich und zementiert die Spaltung des Landes.

Manches spricht dafür, dass in der gegenwärtigen Situation, durch die Kriegshandlungen in der Ostukraine bedingt, dennoch ein neues nationales Bewusstsein geboren wird – mit neuen Namen, neuen Orten, neuen Symbolen und neuen Liedern. Die Kämpfe auf den Barrikaden des Majdan mit über 100 Toten legten bereits den Grundstein für ein neues nationales Narrativ, das durch die Erfahrungen der Kämpfer in der Ostukraine fortgeschrieben wird. So etwa als drei Soldaten des Freiwilligenbataillons Ajdar“ durch eine Mine den Tod fanden – der eine Christ, der andere Moslem und der Dritte Jude. Ihr Sterben – in Text und Ton festgehalten, von den Soldaten besungen - wurde zu einem Symbol für einen neuen Patriotismus, in dem ethnische Herkunft und religiöse Unterschiede keine Rolle mehr spielen.

Der Prozess einer nationalen Neufindung hat erst begonnen. Zu welchem Ende er führt, ist schwer vorauszusagen. Wird er sein Ziel einer geeinten Nation in einem unabhängigen, westeuropäisch integrierten Staat erreichen? Oder wird er zu einer Spaltung der Ukraine führen, wobei – in Analogie zur deutschen Wiedervereinigung – lediglich die Hoffnung bleibt, die verlorene Einheit könne in naher oder ferner Zukunft wieder hergestellt werden? Oder wird gar auch dieser zweite Anlauf nach dem ersten Versuch der Majdan-Bewegung von 2010 scheitern und die Ukraine am Ende wieder unter russischen Einfluss geraten? Das Gelingen dieses Prozesses hängt nicht allein von den Ukrainern ab, sondern auch von der Entschiedenheit der Europäischen Union, ihrer Politiker und Institutionen, die Ukraine auf ihrem schwierigen Weg zu begleiten und tatkräftig zu unterstützen.

(1) Vgl. Wladysław Serczyk, Historia Ukrainy, Wrocław 2001, S. 321.

(2) B. Skaradziński, Uwaga na Wschód. Stare dzieje i zle demony (Achtung Osten. Alte Geschichten und böse Geister, in Więź 4/2001, S. 124.

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