Kaczyńskis staatstheoretische Auffassung
Eine interessante Deutung der staatstheoretischen Auffassung des Chefs der regierenden Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) bietet Krzysztof Mazur, Mitarbeiter des konservativen Analysezentrums des Jagiellonenklubs. In seinem Beitrag „Jarosław Kaczyński – ostatni rewolucjonista III. RP“ (Jarosław Kaczyński – der letzte Revolutionär der III, Republik), veröffentlicht am 11. 02. 2017 auf der Internetplattform des Jagiellonenklubs, geht er bis in Kaczyńskis Studienzeit zurück. Bedeutsam für seine heutigen staatstheoretischen Ideen sei Professor Stanisław Ehrlich, an dessen Seminaren Kaczyński in den 1960er Jahren teilgenommen, bei dem er seine Magisterarbeit geschrieben sowie promoviert und dessen Grundgedanken seines Hauptwerks „Państwo i Prawo“ (Staat und Recht) er verinnerlicht habe. In seiner Analyse des kommunistischen Systems habe Prof. Ehrlich die Quelle der Legitimität der Macht nicht im Recht, sondern im „politischen Willen“ gesehen, repräsentiert und aktualisiert durch die Partei. Somit stehe der politische Wille nicht unter, sondern über dem Gesetz.
Zudem liege der Akzent nicht auf der Staatstheorie als solcher, sondern auf ihrer praktischen Anwendung. Es gehe darum, bestimmte Regeln festzulegen, die dann quasi automatisch das gesellschaftliche Leben regulieren. Damit biete für die Gesellschaft nicht der Buchstabe des Gesetzes Orientierung, sondern die Umsetzung dieser Staatstheorie im Sinne der Partei und durch die Partei.
Schließich dürfe nicht außer Acht gelassen werden, was – vor der Öffentlichkeit verborgen - hinter den Kulissen vor sich gehe, wo durch die Machtorgane bestimmt werde, was legitim sei und was nicht, sowie – in Abgrenzung dazu – was illegal und damit strafbar sei.
Diese von Prof. Ehrlich übernommene Staatstheorie erkläre – so Mazur – Kaczyńskis Verständnis der von ihm und seiner Partei bekämpften III. Republik. Der über 40 Jahre währende Legalismus der kommunistischen Zeit sei nach 1989 nicht überwunden, sondern fortgesetzt worden. So sei der in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre begonnene Prozess einer rechtstaatlichen Verrechtlichung des kommunistischen Systems durch die Schaffung bestimmter Institutionen wie Verfassungsgericht, Verwaltungsgerichte und Ombudsmann für Bürgerrechte nicht der Anfang eines Demokratisierungsprozesses gewesen, auch nicht ein letzter Versuch, das kommunistische System zu retten, sondern habe den Kommunisten dazu gedient, für die Zukunft weiterhin ihren Einfluss zu sichern und die eigentlichen Nutznießer des kommenden Regimes zu sein. Daher sei die III. Republik nur dem äußeren Schein nach ein demokratisches Staatswesen. Weil man 1989 eine völlige Demontage kommunistischer Herrschaft versäumt habe, handele es sich bei der III. Republik in Wahrheit um ein postkommunistisches System. Als Belege für diese These werde von der Kaczyński-Partei die hohen, inzwischen beschnittenen Renten ehemaliger Funktionsträger, die im Großen und Ganzen nicht erfolgte Abrechnung mit den Verbrechen der Vergangenheit sowie die versäumte Beschlagnahme des Vermögens der kommunistischen Partei angeführt, die sich kurz vor dem Ende des Kommunismus in Polen noch den Anstrich einer sozialdemokratischen Partei gegeben habe.
Diese Analyse rechtfertige nun den von der mit absoluter Mehrheit regierenden PiS in Angriff genommenen „guten Wandel“ zur Abwicklung der III. und zur Schaffung einer IV. Republik. Hierzu ist meinerseits anzumerken, dass die 1989 gegebenen Bedingungen der Möglichkeit eines freien und unabhängigen demokratischen Polen für PiS offenbar keine Rolle spielen. Immerhin verfügte damals der kommunistische Staat noch über die Machtmittel von Militär und Sicherheitsapparat und hätte mit ihrem Einsatz den friedlichen Übergang zur Demokratie verhindern können. Auch vollzog sich der politische Wandel zu einem Zeitpunkt, als Polen noch Mitglied des Warschauer Paktes war. Angesichts dieser Umstände erscheint für das Jahr 1989 bei nüchterner Betrachtung eine totale Demontage des kommunistischen Systems als unrealistisch und der am runden Tisch gefundene Kompromiss als einzig gangbarer Weg. Zudem besitzen die von der Kaczyński-Partei angeführten Belege für den postkommunistischen Charakter der politischen Entwicklung Polens nach 1989 keine sonderliche Beweiskraft, um der III. Republik ihre Rechtsstaatlichkeit abzusprechen.
Schließlich – und dies vor allem – zeigt das politische Vorgehen von Kaczyński und seiner Partei alle Anzeichen der von Prof. Ehrlich entwickelten und die Funktionsweise des kommunistischen Systems in Wahrheit entlarvenden Staatstheorie. Wenn nun aber Kaczyński und seine Partei eben jene staatstheoretischen Methoden anwenden und dadurch rechtsstaatliche Grundprinzipien verletzen, dann liegt hier nicht nur ein offensichtliches Missverständnis der Absicht von Prof. Ehrlich vor, sondern mehr noch eine formale Analogie zur Handlungsweise früherer kommunistischer Machthaber, worauf im Übrigen die polnische Opposition und oppositionelle Medien zu Recht verweisen.