Wohin treibt Polen?
- Theo Mechtenberg
- 1. Okt. 2017
- 13 Min. Lesezeit
Die gegenwärtige politische Entwicklung in Polen wird im westlichen Europa mit Unverständnis, ja mit Bestürzung wahrgenommen: die Bemächtigung des Verfassungsgerichts, das nach seiner von der Kaczyński-Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) rechtswidrig vollzogenen Umgestaltung zu einem Instrument der Regierungspolitik geworden ist, statt, wie es seine originäre Aufgabe wäre, diese zu kontrollieren; die von Zbigniew Ziobro, Justizminister und Generalstaatsanwalt in einer Person, eingeleitete Justizreform, welche die Unabhängigkeit der Gerichte in Frage stellt und letztlich das Ende der für eine Demokratie unabdingbaren Gewaltenteilung bedeuten könnte; schließlich die Kontrolle über das staatliche Fernsehen, die dazu dient, die Regierungspolitik einzig und allein in einem strahlenden Licht erscheinen zu lassen und eine kritische Berichterstattung zu unterbinden. Doch wie legitimiert die nationalkonservative Regierung ihre offensichtlichen Rechtsbrüche? Welches Konzept steht hinter all ihren Maßnahmen?
Die staatstheoretische Auffassung von Jarosław Kaczyński
Wer auf diese Fragen eine Antwort sucht, tut gut daran, sich mit der staatstheoretischen Auffassung von Jarosław Kaczyński, Polens starken Mann, vertraut zu machen. Ohne ein Ministeramt zu bekleiden, bestimmt er als Chef seiner Partei die staatstheoretische Grundorientierung der Regierung. Die gehe, wie Krzysztof Mazur, Mitarbeiter eines konservativen Analysezentrums, deutlich macht, auf Prof. Stanisław Ehrlich (1907 – 1997) zurück. Der als Staatstheoretiker an der Warschauer Universität lehrende Ehrlich habe sich in den 60er und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts als Kritiker eines „juristischen Dogmatismus“ vor allem mit dem Widerspruch zwischen den Rechtsvorschriften und ihrer praktischen Anwendung durch die politischen Entscheidungsträger befasst. Aufgrund dieses Widerspruchs basiere die Legitimität der Macht letztlich nicht auf dem Recht, sondern habe ihre eigentliche Quelle im „politischen Willen“, repräsentiert und aktualisiert durch jene, welche die Macht ausüben. Vor der Öffentlichkeit verborgen, würde hinter den Kulissen ohne Rücksicht auf den Buchstaben des Gesetzes bestimmt, was legal sei und was nicht, sowie – in Abgrenzung dazu – war illegal und damit strafbar.
Kaczyński, einer der Doktoranden von Prof. Ehrlich, habe dessen staatstheoretische Ideen verinnerlicht, wie seine Dissertation zeige, in der er den Widerspruch zwischen Rechtsstatut und Realität anhand der Geschichte der polnischen Universitäten untersucht und belegt habe. Aus dieser Dissertation zitiert Mazur folgende bezeichnende Aussage, die in den 1930er Jahren im Streit mit der Rektorenkonferenz von dem für die öffentliche Bildung zuständigen Minister getroffen wurde: „Der jetzige Staat kann und wird sich nicht seiner Verantwortung für die öffentliche Bildung auf keiner ihrer Ebenen entziehen.“
Aus Kaczyńskis staatstheoretischer Auffassung ergeben sich zwei Konsequenzen – die eine bezüglich der von ihm und seiner Partei vertretenen negativen Einschätzung der III. Republik, die andere im Sinne einer Legitimierung der von PiS verfolgten, mit Verletzungen rechtsstaatlicher Prinzipien verbundenen Politik des „guten Wandels“.
Die III. Republik – ein postkommunistisches Regime?
Die von Prof. Ehrlich übernommene Staatstheorie erkläre – so Mazur – Kaczyńskis Verständnis der von ihm und seiner Partei bekämpften III. Republik. Der über 40 Jahre währende Legalismus der kommunistischen Zeit sei nach 1989 nicht überwunden, sondern fortgesetzt worden. So sei bereits der in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre begonnene Prozess einer Verrechtlichung des kommunistischen Systems durch die Schaffung bestimmter Institutionen wie Verfassungsgericht, Verwaltungsgerichte und Ombudsmann für Bürgerrechte nicht der Anfang eines Demokratisierungsprozesses gewesen, auch nicht ein letzter Versuch, das kommunistische System zu retten, sondern habe den Kommunisten dazu gedient, für die Zukunft weiterhin ihren Einfluss zu sichern und die eigentlichen Nutznießer des kommenden Regimes zu sein. Daher sei die nach dem Ende des Kommunismus gegründete III. Republik nur dem äußeren Schein nach ein demokratisches Staatswesen. Weil man 1989 eine völlige Demontage kommunistischer Herrschaft versäumt habe, handele es sich bei ihr in Wahrheit um ein postkommunistisches System. Als Belege für diese These würden von der Kaczyński-Partei die hohen, inzwischen beschnittenen Renten ehemaliger Funktionsträger, die im Großen und Ganzen nicht erfolgte Abrechnung mit ihnen sowie die versäumte Beschlagnahme des Vermögens der kommunistischen Partei angeführt, die sich kurz vor dem Ende des Kommunismus in Polen noch den Anstrich einer sozialdemokratischen Partei gegeben habe.
Diese negative Einschätzung der nach 1989 eingeleiteten demokratischen Entwicklung Polens wird von Partei, Regierung und Medien der Nationalkonservativen und Nationalisten von einer Verleumdungskampagne gegen jene Persönlichkeiten begleitet, welche die Geschicke Polens in dieser Phase besonders geprägt haben. Dies betrifft in erster Linie Lech Wałęsa, den legendären Streikführer und Vorsitzenden der Solidarność, den ehemaligen Staatspräsidenten und Nobelpreisträger. Die nationalkonservative und nationalistische Presse sieht in ihm einen Agenten des kommunistischen Sicherheitsapparats. Wałęsa habe nicht als Freiheitskämpfer, sondern im geheimen Einverständnis mit den Kommunisten gehandelt. Als Beweis für diese absurde These dient ihnen eine angebliche Verpflichtung, die der junge Wałęsa gegenüber den Sicherheitsbehörden eingegangen sei, ohne dass allerdings darüber hinaus ihn belastendes Material vorliegen würde. Mit welcher Bereitwilligkeit diese Verleumdung von den Anhängern von PiS aufgenommen wird, zeigte sich bei dem Pfeifkonzert, mit dem sie Anfang Juli auf die bloße Erwähnung von Wałęsa in der Warschauer Rede des amerikanischen Präsidenten reagierten. Auch Tadeusz Mazowiecki (1927 – 2013), prominenter Dissident und erster Ministerpräsident des freien Polens, erfährt in der Öffentlichkeit nicht die ihm gebührende Ehre, sondern wird wegen seiner Aussage, man müsse unter die Vergangenheit einen „Schlussstrich“ ziehen, beschuldigt, damit eine Strafverfolgung ehemaliger Kommunisten unmöglich gemacht zu haben. Und schließlich Donald Tusk, Premier der Vorgängerregierung von PiS und jetziger EU-Ratspräsident, den man ohne die Spur eines Beweises für den Absturz der Präsidentenmaschine am 10. April 2010 über dem Flughafen von Smolensk verantwortlich macht und am liebsten vor Gericht stellen möchte. Internationales Aufsehen erregten in diesem Zusammenhang die Umstände seiner Wiederwahl auf dem Brüsseler Gipfel vom 9. März 2017, auf dem Ministerpräsidentin Beata Szydło als einzige unter den Vertretern der 28 Mitgliedstaaten der Europäischen Union gegen ihn stimmte. Ihre Niederlage wurde bei ihrer Rückkehr nach Polen als Triumph gefeiert, habe sie doch mit ihrem Verhalten „die wahren Werte Europas“ verteidigt, während – wie in den PiS-nahen Medien zu lesen war - der Vorgang auf dem Brüsseler Gipfel „der Anfang vom Ende des europäischen Projekt“ sei. In Wahrheit zeigt eine solche Verdrehung der Tatsachen eine für PiS typische Flucht vor der Wirklichkeit in eine Wunschwelt, in der allein die eigenen wirklichkeitsfremden Vorstellungen gelten.
Fragwürdige Legitimierung des „guten Wandels“
In einem der Gazeta Wyborzca gewährtem Interview verdeutlicht Prof. Marcin Matczak , auf welche Weise PiS aus ihrer inneren staatstheoretischen Logik heraus ihren rechtstaatliche Prinzipien verletzenden „guten Wandel“ rechtfertigt: „Aus ihrer Sicht haben jene, die trockenen Fußes vom Totalitarismus in die Demokratie gelangten, ihre Werte rücksichtslos in sie verankert: linke und liberale, versehen mit Garantien erworbener Rechte, mit einer an Regeln gebundenen Legislative und einem verpflichtenden rechtlichen Prozedere, wonach die materiale Gerechtigkeit nur durch ein bestimmtes Rechtsverfahren realisiert werden kann.“
Daher sei aus der Sicht der Kaczyński-Partei und ihrer Regierung die Ablehnung des Grundsatzes, dass einmal erworbene Rechte bleibende Geltung besitzen, ebenso folgerichtig wie die Negierung eines Regelwerks zur Anwendung der Gesetze. Ihre Auffassung begründe PiS damit, dass eine an ein bestimmtes Prozedere gebundene Rechtsprechung ein Hindernis für die Verwirklichung materialer Gerechtigkeit darstelle. Diese von Jarosław Kaczyński immer wieder beschworene „rechtliche Unmöglichkeit“ müsse daher beseitigt werden, weil sie „die gewünschte Neuverteilung von Gütern und Rechten blockiert.“ Denn „das Recht müsse dem Wohl der Nation dienen“, womit, was PiS denn auch betont, das Wohl der Nation über dem Recht stehe. Oder konkreter: In der polnischen Nation funktioniere jenseits der Rechtsvorschriften ein System moralischer Normen und christlicher Werte, die nicht von den Gesetzen erfasst werden. Daraus resultiere ein Konflikt zwischen ihnen und dem geltenden Recht. Dieser Dualismus verletze das Rechtsempfinden der Nation und verlange nach einer Lösung in ihrem Sinn.
Die Konsequenz eines solchen Rechtsverständnisses sei, dass für PiS das Recht zu einem Instrument zur Verfolgung ihrer Ziele werde. So kontere denn auch die Regierung die wiederholte Forderung der Venedig-Kommission nach Wahrung rechtsstaatlicher Prinzipien mit dem Hinweis darauf, „dass eine abstrakte Rechtsordnung sich nicht dem Wohl der Nation widersetzen dürfe.“ Und weil PiS im Namen des „guten Wandels“ weitere Änderungen im Rechtsbereich in Aussicht stelle, etwa bezüglich einer neuen Wahlordnung, sei eine Entwicklung zu einem autoritären, ja diktatorischen System durchaus möglich.
Protest polnischer Juristen
Allerdings regt sich unter polnischen Juristen auch Widerstand gegen die Rechtsbeugungen im Namen des „guten Wandels“. So geschehen auf dem Kattowitzer Juristenkongress am 20. Mai 2017. Auf ihm sprachen vor gut eineinhalbtausend Kongressteilnehmern die Regierungsvertreter Andrzej Dera, Minister im Präsidialamt, sowie der stellvertretende Justizminister Marcin Warchoł. Als Dera im Namen des Präsidenten den anwesenden Richtern das Recht absprach, „Aktivitäten anderer Regierungsorgane zu kommentieren“ sowie bei einer „ethischen, weltanschaulichen oder politischen Debatte Position zu beziehen“, wurde es im Saal unruhig. Einige Kongressteilnehmer skandierte „Konstitution“ und hielten ein Exemplar der Verfassung hoch. Am Ende wurde Minister Dera unter Buhrufen verabschiedet.
Noch schlimmer erging es dem stellvertretenden Justizminister Marcin Warchoł: „Niemand kann Richter sein in eigener Sache“, ermahnte er die Anwesenden. Erste Buhrufe wurden laut. Die Unruhe im Saal verstärkte sich, als Warchoł davon sprach, die Gerichte besäßen in der Bevölkerung wenig Vertrauen. Den Richtern warf er vor, sich nicht aus den Zeiten der kommunistischen Volksrepublik verabschiedet zu haben. Darauf leerte sich unter Buhrufen allmählich der Saal.
Außer den geladenen Gästen hörten nur noch wenige Kongressteilnehmer seine Drohung, aus der Richterschaft seien „die schwarzen Schafe zu eliminieren“ sowie die Versicherung, die beabsichtigten Reformen würden verwirklicht. Die polnischen Juristen stünden „vor der historischen Wahl, fähig zu sein, sich im Namen der Justizreform über die eigenen Interessen hinwegzusetzen.“ Damit wird im Grunde von den Richtern, Staatsanwälten und Strafverteidigern verlangt, ihre Unabhängigkeit aufzugeben und sich ohne Wenn und Aber staatlicher Kontrolle zu unterwerfen, die die Kaczyński-Partei für alle Bereiche der Gesellschaft, auch und vor allem für den juristischen, anstrebt.
Nach dem Auftritt der Regierungsvertreter begann der Kongress mit seinen Beratungen. Es versteht sich, dass sich nach dem vorausgegangenen Skandal die Teilnehmer entschieden gegen die von der Regierung geplanten Reformen aussprachen. Die unter ihnen herrschende Überzeugung brachte Krystian Markiewicz, einer der Organisatoren des Kongresses, auf den Punkt: „Sollen wir Juristen schweigen? Wir haben das Recht und die Pflicht, die Stimme zu erheben, um die höchsten Werte der Verfassung zu verteidigen; niemand kann uns von dieser Pflicht entbinden.“
Anschlag auf die Gewaltenteilung
Unbeeindruckt von den Protesten der Juristen betrieb PiS die Justizreform weiter voran. Waren bereits durch die absolute Mehrheit ihrer Parlamentarier Gesetze verabschiedet worden, welche die für eine Demokratie fundamentale Gewaltenteilung beeinträchtigten, so verabschiedete der Sejm in den ersten Juliwochen gleich drei Gesetze, die darauf abzielen, mit der totalen Kontrolle über das gesamte Gerichtswesen des Landes die Gewaltenteilung gänzlich aufzuheben.
Ein Gesetz betrifft den Landesjustizrat, ein durch die Konstitution gebotenes Organ, das sich aus Richtern und einigen Politikern zusammensetzt und von großem Einfluss auf die Wahl der Richter ist. Das neue Gesetz sieht die Auflösung des Landesjustizrats in der jetzigen Form vor. Seine Neubesetzung soll nicht wie bisher durch Gremien von Richtern erfolgen, sondern durch den von PiS majorisierten Sejm, also faktisch durch die Kaczyński-Partei, die damit die volle Kontrolle über die Auswahl der entsprechenden Richter und deren Karriere besäße. Durch eine Intervention des Präsidenten zeigte sich PiS allerdings bereit, anstelle der von ihr vorgesehenen absoluten eine 3/5 Mehrheit für die Wahl der Richter durch den Sejm zu akzeptieren.
Auch das Gesetz zu den allgemeinen, landesweiten Gerichten wurde neu geordnet. Danach hat der Justizminister das alleinige Recht, auf allen Ebenen die Gerichtsvorsitzenden und ihre Stellvertreter zu berufen und abzuberufen. Es bedarf keiner sonderlichen Phantasie, um sich auszumalen, was diese Abhängigkeit für jeden Richter und jeden sich auf das Richteramt vorbereitenden Juristen bedeutet. „Diese Vorschriften legen es jedem Richter, auch wenn er nur eine beschiedene Karriere anstrebt, nahe, sich mit der Regierung gut zu stellen. Sie zerstören die Unabhängigkeit selbst in dem härtesten Vertreter der Göttin des Rechts, indem sie ihn daran erinnern, dass er in die Jahre gekommen ist, eine Familie hat und Kredite zurückzahlen muss.“
Von besonderer Bedeutung ist das dritte neugeregelte Gesetz über das Oberste Gericht, das u. a. dafür zuständig ist, die Gültigkeit oder Ungültigkeit von Wahlen festzustellen. Einige Kommentatoren vergleichen es mit einer das Gerichtswesen in die Luft sprengenden Bombe. In Artikel 87 $ 1 heißt es: „Einen Tag nach Verabschiedung des Gesetzes gehen die aufgrund der bisherigen Bestimmungen berufenen Richter des Obersten Gerichts in den Ruhestand, ausgenommen die vom Justizminister genannten.“ Damit kann sich Justizminister Ziobro mit einem Schlag alle sich der Justizreform widersetzenden Richter entledigen und dieses Verfassungsorgan mit ihm genehmen Richtern neu besetzen, steht ihm doch nach dem neuen Gesetz das alleinige Ernennungsrecht der Richter am Obersten Gericht zu.
Ein Argument, dessen sich PiS zur Begründung dieser radikalen Justizreform bedient, ist der durch nichts bewiesene Vorwurf, die Gerichte, allen voran das Oberste Gericht, seien eine „postkommunistische Bastion“, die es zu beseitigen gelte: „Zumal das Oberste Gericht hat sich besonders hervorgetan, wenn es darum gegangen sei, Personen, die dem alten System gedient haben, zu verteidigen.“ Daher sei „ein breiter personeller wie struktureller Umbau des Justizwesens erforderlich.“ Ein wichtiger Teil dieses Umbaus ist die neue Kammer für Disziplinarverfahren. Mit ihr hat sich die regierende Kaczyński-Partei ein Instrument verschafft, um gegen vermeintliche „postkommunistische“ oder ansonsten missliebige Richter vorgehen zu können.
In der weiterhin geltenden Verfassung ist in Artikel 10 ausdrücklich die Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative festgeschrieben. Für eine neue Konstitution, für die Präsident Duda den Weg mittels eines Referendums freimachen möchte, gibt es bereits einen ironisch-bitteren Änderungsvorschlag. Artikel 10 solle in Zukunft lauten: „Die gesetzgebende Gewalt übt „Recht und Gerechtigkeit“ aus, die ausführende Gewalt „Recht und Gerechtigkeit“ und die richterliche Gewalt „Recht und Gerechtigkeit“.
Das Veto des Präsidenten
Mit der Verabschiedung der drei Gesetze waren diese allerdings noch nicht in Kraft getreten. Dazu bedurfte es der Unterschrift des Präsidenten. Nachdem er bisher keine Skrupel gezeigt hatte, Gesetze zu unterschreiben, die von juristischen Autoritäten als nicht verfassungskonform bezeichnet worden waren, glaubte kaum einer daran, dass er in diesem Fall von seinem Vetorecht Gebrauch machen werde. So war die Überraschung bei der Opposition groß, die Empörung bei PiS gewaltig, als Präsident Andrzej Duda am 24. Juli zu einer Pressekonferenz in den Präsidentenpalast einlud und erklärte: „Das Gesetz über den Landesjustizrat und über das Oberste Gericht sind kein Bestandteil des polnischen Rechtsystems.“ Er bedauerte zudem, dass ihm der Gesetzesentwurf zum Obersten Gericht nicht vorgelegt wurde und ihm daher eine Konsultation in dieser Sache unmöglich war. Allerdings hält auch er eine Justizreform für notwendig, jedoch eine, „bei der es nicht zu einer Spaltung von Gesellschaft und Staat kommt.“ Er kündigte an, seinerseits eine solche von Experten zu erarbeitende Gesetzesvorlage im Laufe der nächsten Monate einzubringen.
Mit seinem Veto hat der Präsident den Plan von PiS durchkreuzt, unmittelbar vor der Sommerpause diesen wichtigen Teil ihrer Justizreform abzuschließen. Damit ist der nächste Akt dieses nationalen Dramas auf den Herbst vertagt.
Doch was konnte den Präsidenten zu diesem bewogen haben? Sicher die Massenproteste in über hundert polnischen Städten, teilweise auch im Ausland, auf die er selbst Bezug nimmt, indem er während der Pressekonferenz auf die „gewaltigen Konfrontationen“ verwies, die eine „schnelle und entschiedene Reaktion“ erforderlich gemacht hätten. Aber es ging ihm wohl auch um seine eigene Machstellung, die durch die enorme politische Aufwertung von Justizminister Zbigniew Ziobro eine Beeinträchtigung erfahren würde. Es wird auch schon spekuliert, das Veto des Präsidenten sei der Anfang des Versuchs, gegen den radikalen Kurs von Kaczyński eine gemäßigte rechtskonservative Formation zu bilden. Doch letztlich könnte das Veto des Präsidenten durch die Sorge bedingt sein, bei einem künftigen Machtwechsel als Hauptverantwortlicher für die Verfassungsbrüche zur Rechenschaft gezogen zu werden, zumal ihm die Demonstranten mit ihren Transparenten bei jeder Gelegenheit vor Augen führen, dass er einmal hinter Gittern landen werde.
Im Übrigen war Präsident Duda in der Wahrnehmung seines Vetorechts nicht konsequent. Das dritte, die allgemeinen Gerichte regelnde Gesetz, das gleichfalls der Gewaltenteilung widerspricht, hat er trotz der Massenproteste unterzeichnet. So bleibt in der Gesellschaft das Misstrauen ihm gegenüber, und es ist unklar, welche Rolle Präsident Duda in dieser Staatskrise in Wahrheit spielt. Die ist jedenfalls durch sein Veto keineswegs gelöst. Ministerpräsidentin Beata Szydło und Jarosław Kaczyński lassen keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie die Justizreform in ihrem Sinn verwirklichen werden, sei es gegen den Präsidenten, sei es mit ihm. Auch die Ankündigung der EU-Kommission, Polen in Anwendung des Artikels 7 des EU-Vertrags von Lissabon möglicherweise das Stimmrecht im Ministerrat zu entziehen, lässt sie unbeeindruckt.
Die Haltung der Kirche
Die Einstellung der polnischen Kirche gegenüber dem „guten Wandel“ der regierenden Kaczyński-Partei war bislang von Zurückhaltung, ja von Wohlwollen geprägt. Allerdings könnte der Anschlag auf die Gewaltenteilung einen Wendepunkt in ihrer Haltung bedeuten. Bezeichnend ist jedoch, dass zunächst katholische Laien und nicht die Bischofskonferenz zu den Vorgängen Stellung nahmen. So richtete am 21. Juli der Vorstand des Warschauer Klubs Katholischer Intelligenz (KIK) einen dringenden Appell an die Bischofskonferenz, zu dem von PiS betriebenen Wandel des politischen Systems „aus christlicher Sicht der Menschenrechte und der dem Menschen gebührenden Freiheit entschieden Stellung zu beziehen.“ Der Vorstand verweist darauf, dass sowohl die Kirche als auch Papst Johannes Paul II. mit ihrer Autorität zur Errichtung eines demokratischen Rechtsstaates in Polen beigetragen haben. Dabei sei die nach Jahrzehnten kommunistischer Herrschaft zurückgewonnene Autonomie der Gerichte die Garantie zur Wahrung der Demokratie und der bürgerlichen Freiheiten nach 1989. Eine nicht durch die Verfassung beschränkte Legislative und Exekutive würden zu einem „Autoritarismus führen, der die Bürger ihrer Rechte beraubt, wie diese sich u. a. aus der Lehre der katholischen Kirche ergeben.“ Der Vorstand des Warschauer KIK erwähnt zudem den „mit dem Systemwandel verbundenen, sich verbreitenden Hass, der die Spaltung der Gesellschaft vertieft.“ Er ist der Überzeugung, „dass eine klare Stellungnahme der Konferenz des Polnischen Episkopats in diesen Fragen von großem Nutzen für das Vaterland und die ganze Kirche sein wird.“ Mit Bedacht begründet der Vorstand des Warschauer KIK seine Intervention mit der Lehre der Kirche, welche die Bischöfe zu einer Stellungnahme verpflichtet und ihnen einen Rückzug auf die Position politischer Neutralität nicht erlaubt.
Ob dieser Appell bei der Bischofskonferenz Wirkung gezeigt hat, ist eine offene Frage. Jedenfalls richtete am 24. Juli 2017 Erzbischof Stanisław Gądecki, der Vorsitzende der Polnischen Bischofskonferenz, an Präsident Andrzej Duda ein Schreiben, in dem er sich dafür bedankt, dass der Präsident von seinem Vetorecht Gebrauch gemacht und so die Gesetze zum Landesjustizrat und zum Obersten Gericht gestoppt hat. Zur Begründung seines Standpunkts beruft sich Gądecki ausdrücklich auf die katholische Sozialehre, welche die Demokratie als politisches System besonders schätze. Kern des Schreibens ist die Aussage, dass „eine authentische Demokratie nur in einem Rechtsstaat möglich ist.“ Unter Hinweis auf Papst Johannes Paul II. betont Gądecki zudem die für eine „funktionsfähige Demokratie“ notwendige Gewaltenteilung.
Vorangegangen war am 18. Juli, während im Sejm die umstrittenen Gesetze behandelt wurden, eine Stellungnahme des Pressesprechers der Polnischen Bischofskonferenz: „Die Kirche appelliert an sämtliche politische Gruppierungen, dass sie eine Verständigung anstreben, die das Wohl Polens und seiner Bürger zum Ziel hat.“ Er beklagte, „dass die öffentliche Debatte immer häufiger in Richtung von Konfrontation und Konflikt verläuft.“ Der Pressesprecher berief ich auf die Rede von Papst Johannes Paul II. vor dem Sejm aus dem Jahr 1999, aus der er die Worte zitierte: „Die vor dem demokratischen Staat stehenden Herausforderungen verlangen eine solidarische Zusammenarbeit aller Menschen guten Willens – unabhängig von ihrer politischen und weltanschaulichen Einstellung.“
Einen Tag später äußerte sich der Primas Polens, Erzbischof Wojciech Polak. Er forderte anstelle der Emotionen „einen auf den Fundamenten des demokratischen Rechtsstaats basierenden Dialog“ und rief dazu auf, „die weitreichenden Folgen einer jeden Reform nicht aus den Augen zu verlieren.“ Auch wenn die Kaczyński-Partei nicht ausdrücklich als Adressat dieser Mahnungen genannt wird, so dürften doch diese Aussagen belegen, wer mit ihnen zweifelsfrei gemeint ist, zumal am 22. Juli im L’Osservatore Romano über die Situation in Polen zu lesen war, der Sejm habe eine „kontroverse Justizreform angenommen, die de facto die Autonomie des Gerichtwesens liquidiert.“
Mit diesen Äußerungen hat Polens katholische Kirche in dem zwischen Regierung und Präsident entbrannten Streit klar Stellung bezogen. Damit dürfte sich allerdings die durch diese Staatskrise ausgelöste tiefe Spaltung innerhalb der Gesellschaft nun auch auf die Kirche auswirken.
Dass dem so ist, wurde wenige Tage später deutlich, als sich nach einer kurzen Phase des Schweigens erstmals wieder Jarosław Kaczyński meldete, und zwar, bewusst gewählt, in dem Pater Rydzyk eigenen Fernsehsender Trwam. Er sei vom Veto des Präsidenten überrascht worden, und er macht ihm den Vorwurf, dadurch eine Krise ausgelöst zu haben. Ohne das Dankschreiben des Vorsitzenden der Bischofskonferenz zu erwähnen, zeigt er sich trotz des Vetos entschlossen, die Justizreform ohne Abstriche durchzusetzen und dies gemeinsam mit dem Präsidenten. Die „völlige Säuberung des Gerichtswesens vom Kommunismus“ sei eine Notwendigkeit. Wer hier behaupte, die Justizreform würde gegen die Konstitution verstoßen, bediene sich der „Goebbels-Propaganda“.
Die Einleitung des Sanktionsverfahrens seitens der EU-Kommission nutzt Kaczyński zu einem Frontalangriff auf das Europaparlament, um sich auf diese Weise mit seiner Justizreform zum Retter des katholischen Polen aufzuschwingen: Dieses Parlament sei eine Ansammlung von Menschen, „die das Christentum hassen, insbesondere den Katholizismus“, und die „in Polen die Verkörperung des Bösen sehen, weil es katholisch ist.“ Auch andere PiS-Politiker, zumal Justizminister Ziobro, haben in den Medien von Pater Rydzyk Stellung bezogen und den Präsidenten wegen seines Vetos scharf attackiert. Damit erweist sich der von der PiS-Regierung vorangetriebene „gute Wandel“ als eine auch innerkirchliche Sprengkraft, die sich für Polens katholische Kirche als verheerend erweisen könnte.
Erstveröffentlichung: imprimatur 3/2017
Vgl. meinen Beitrag „Die neue polnische Regierung vollzieht eine tiefgreifenden Systemwandel“, imprimatur 1/2016. Der folgende Text verfolgt das Ziel, jene Darstellung und Analyse zu ergänzen und zu vertiefen.
Krzysztof Mazur, Jarosław Kaczyński – ostatni rewolucjonista III. RP (Jarosław Kaczyński – der letzte Revolutionär der III. Polnischen Republik), Internetforum des Jagiellonenclubs v. 11.06.2017.
Z prof. Marcinem Matczakiem rozmawia Maciej Stasiński, Zanim nam zdemontują demokrację (Mit Prof. Marcim Matczak spricht Maciej Stasiński, Bevor sie uns die Demokratie demontieren) Gazeta Wyborzca v. 25.06.2017.
Wojciech Czuchnowski, Minister przemawia, prawnicy wychodzą (Der Minister spricht, die Juristen gehen hinaus), Gazeta Wyborzca v. 20.05.2017.
Andrzej Stankiewicz, Prezes prezesem sądów (Der (Partei)präses ist Präses der Gerichte), Tygodnik Powszechny v. 21. 07. 2017, S. 12.
Ebd.
Marcin Marczak, Bez sądu (Ohne Gericht), ebd., S. 15.
Michał Wilgocki, Zamach PiS na sądy. Czy Kościół wpłynał na prezydenta Dudę? (Der Anschlag von PiS auf die Gerichte. Hat die Kirche Präsident Duda beeinflusst?) Gazeta Wyborzca v. 27. 07. 2017.
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