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Polen unter der Kaczyński-Regierung – ein System des Neototalitarismus

Der Soziologe Maciej Gdula analysiert in seinem neuen Buch „Neoautorytaryzm“ die politische Situation seines Landes unter der regierenden Kaczyński-Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS). Die Grundzüge seines Werkes, die im Folgenden erläutert werden sollen, legte er im Gespräch mit dem Journalisten Michał Wilgocki von der „Gazeta Wyborzca“ dar.

Unter Neototalitarismus versteht Gdula nicht nur den klassischen Autoritarismus, der die enge Bindung an den Führer betont, der seinen Gefolgsleuten, allerdings auf Kosten der Freiheit, das Gefühl von Stärke und Gemeinschaft vermittelt. Im Unterschied dazu verheiße der Neoautoritarismus des Kaczyński-Systems seinem Elektorat die Freiheit, jedoch eine Freiheit, die darin bestehe, andere an den Rand zu drücken. Zudem dient Gdula die Vorsilbe „neo“ dazu, den von ihm verstandenen Autoritarismus nicht als antiparlamentarisch, sondern als „demokratisch“ zu kennzeichnen. Die Wahlen als solche würden nicht in Frage gestellt, aber es werde Vorsorge getroffen, dass sie gewonnen werden. Die Propaganda des Systems beeinflusse die Öffentlichkeit in einer Weise, dass diese das Bewusstsein der Selbstbestimmung erhalte, was aber in Wirklichkeit darauf hinauslaufe, dass man in allem der Weltsicht des Führers beipflichte.

Der Neototalitarismus von PiS erkläre auch die hohen, bei fast 50% liegenden Zustimmungswerte der Bevölkerung – und das nicht trotz, wie manche Kommentatoren meinen, sondern gerade wegen ihrer zahleichen, die Rechtstaatlichkeit aushebelnden Rechtsbrüche. Kaczyński ist es offenbar gelungen, Grundbegriffe wie Demokratie, Rechtstaatlichkeit, Gewaltenteilung oder Pluralismus umzudefinieren und damit ihres ursprünglichen Sinns zu berauben. Eine soziologische Untersuchung, die Gdula in einer Kleinstadt mit seinen Studenten durchführte, zeige, dass die Gefolgschaft von PiS die Partei in allem, was sie unternimmt, unterstütze: Der Anschlag auf das Verfassungsgericht – ein demokratischer Akt, die Übernahme des öffentlich-rechtlichen Fernsehenns – die Rückkehr zum Pluralismus.

Die Gründe dafür sieht Gdula in einer unter den sozial Abgehängten und in der Mittelschicht verbreiterten Abneigung gegenüber den „Eliten“ sowie in der Vermittlung eines Gefühls der Macht über Fremde und Schwache, deren Rolle auf ideale Weise die Flüchtlinge erfüllen würden. Parallelen zu Trump und AfD liegen auf der Hand.

Zum Neototalitarismus gehöre die Weckung und Ausnutzung von Emotionen; und dies nicht nur unter den Transformationsverlieren und sozial Abgehängten, sondern auch in Teilen der Mittelschicht, weil diese das Gefühl habe, nichts zu kontrollieren, dass von den „Eliten“ alles über ihre Köpfe hinweg beschlossen und geregelt werde. Sie würden die Partei wählen, weil sie sich von Kaczyński versprechen, er werde das ihnen zugefügte Unrecht wieder gut machen.

Doch es gebe noch einen weiteren Grund, warum Teile der Mittelschicht PiS wählen würden. Sie täten dies nicht aus Rache, nicht um des Geldes willen, sondern um an der Macht teilzuhaben, und sei es nur symbolisch. Damit würden sie sich über die als degeneriert angesehenen alten Eliten erheben und sich selbst für Kristall rein halten. Und sie würden sich in dem Gefühl der Macht über Schwächere sonnen. Ihre ablehnende Haltung Flüchtlingen gegenüber beruhe im Grunde nicht auf Angst vor Überfremdung und Islamisierung. Ähnliches gelte für die sozial Abgehängten, die Flüchtlinge in Wahrheit aus der Sorge ablehnen würden, diese kämen ins Land, um auf ihre Kosten der Allgemeinheit zur Last zu fallen.

Gdula wendet sich auch der Frage zu, ob und wie der Neototalitarismus von PiS überwunden und ihre Regierung abgelöst werden könne. Die parlamentarische wie außerparlamentarische Opposition sei in ihrer jetzigen Verfassung dazu nicht in der Lage. Solange sich PiS auf die sozial Abgehängten und breite Teile der Mittelschicht stützen könne, bleibe der Opposition keine Handlungsmöglichkeit zur Regierungsübernahme. Dazu sei eine neue, unverbrauchte politische Führungspersönlichkeit erforderlich, der es gelinge, die Kräfte aus der Bürgerplattform, der Partei die Moderne sowie der Linken zu bündeln. Und man müsse eine mutige Auseinandersetzung mit PiS auf den Feldern führen, auf denen sie derzeit das Sagen habe – in der Flüchtlingsfrage, bezüglich der Rechte der Frauen angesichts einer zu erwartenden Verschärfung des Abtreibungsverbots, durch entschiedenes Eintreten für die Europäische Union zum Nutzen Polens sowie in der Forderung nach einem gesellschaftlichen Pluralismus, der diesen Namen verdiene. Ob dies bis zu den nächsten Wahlen in zwei Jahren gelingen wird, ist allerdings sehr fraglich.

Quelle: Rozmawiał: Michał Wilgocki, Dwa lata z PiS i koniec nie widać. Gdula: Kaczyński buduje neoautoritaryzm. Opozycjca? Mocno kuleje. (Im Gespräch: Michał Wilgocki, Zwei Jahre mit PiS und kein Ende in Sicht. Gdula: Kaczyński errichtet einen Neototalitarismus. Die Opposition? Stark im Hintertreffen), Gazeta Wyborzca v. 25. 10. 2017.

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