Antisemitismus im Nachkriegspolen
- Theo Mechtenberg
- 30. Nov. 2017
- 13 Min. Lesezeit
Ein Buch bewegt die Gemüter
Es ist selten, dass ein Buch nicht nur über Monate die bestseller-Listen anführt, sondern dazu noch ein gesellschaftliches Erdbeben auslöst. Jan T. Gross, ein in den USA lebender polnischer Historiker, hat mit seiner Veröffentlichung zum jüdisch-polnischen Verhältnis gleich zweimal eine die polnische Gesellschaft bewegende Diskussion ausgelöst – 2002 mit seiner Untersuchung der Ermordung jüdischer Bewohner der ostpolnischen Kleinstadt Jedwabne durch ihre „Nachbarn“ (Sąsiedzi), so der Titel seines Buches, und nun mit einem umfangreichen historisch-soziologischen Essay unter dem gleichfalls lapidaren Titel „Strach“ (Angst). Darin befasst sich der Autor mit dem Antisemitismus in Polen unmittelbar nach Kriegsende, und dies unter dem Aspekt eines die Bevölkerung auf unterschiedliche Weise betreffenden moralischen Versagens.
Jan T. Gross entstammt einer in der Tradition der polnischen Intelligenz tief verwurzelten Familie. Im Zweiten Weltkrieg kämpften beide Eltern im Untergrund gegen die deutsche Besatzung. Für ihn selbst wurde der März 1968 zum Schlüsselerlebnis seines Widerstandes gegen Unfreiheit und Unterdrückung. In Zusammenhang mit den Studentenprotesten und der von der kommunistischen Partei inszenierten antisemitischen Kampagne saß er für knapp fünf Monate im Gefängnis und wurde von der Universität relegiert. Wie so viele Oppositionelle jener Jahre wählte auch Jan T. Gross mit seiner Familie das Exil.
Diese biographischen Daten sind ein Beleg dafür, dass es Gross in seinem neuen Buch um Polen geht und ihm nicht unterstellt werden kann, „in einem Atemzug die Dämonen des Antipolonismus und des Antisemitismus zu wecken“, wie es in einem Schreiben des Krakauer Kardinals Dziwisz an den Herausgeber und Leiter des katholischen Verlages „Znak“ heißt. Und als geradezu abwegig muss man das von der Krakauer Staatsanwaltschaft am Tag der Buchpremiere eingeleitete und inzwischen eingestellte Untersuchungsverfahren betrachten, das klären sollte, ob der Autor mit seiner Veröffentlichung die nationale Ehre verletzt hat.
Intention von hoher Moralität
Gross‘ Intention ist im Gegensatz zur Meinung seiner Kritiker aller Ehren wert. Er beschreibt, was ihn bewogen hat, sich der Thematik des Antisemitismus in Polen nach dem Holocaust zu widmen. Es war ein bereits 1947 erschienener Bericht über die Rettung jüdischer Kinder. Darin vermerkt die Autorin in ihrem Vorwort, es habe unter den Polen, die Kinder gerettet haben, solche gegeben, die darum baten, nicht namentlich genannt zu werden. Gross zitiert unter besonderer Hervorhebung: „Ich weiss nicht, ob irgend jemand außerhalb der Grenzen Polens die Tatsache begreift und versteht, dass man die Rettung eines Kindes, dem ein Verbrecher nach dem Leben trachtet – jemanden aus Scham oder Schande verheimlichen möchte beziehungsweise dass sie einem Unannehmlichkeiten bescheren kann.“ (11) Eben dies war auch für Gross unfassbar. Ist es nicht absurd, so fragt er, „dass dieselben Menschen, denen wir heute als Gerechte unter den Nationen der Welt Ehre erweisen, sich nach dem Krieg davor fürchteten, dass ihre edlen Taten bekannt werden?“ (11) Sein Buch ist der Versuch, auf diese Absurdität eine Antwort zu finden.
Der Antisemitismus – eine christliche Herausforderung
Bemerkenswert ist, dass „Angst“ in einem katholischen Verlag erschienen ist. Verlagsleiter Henryk Wożniakowski verweist in seinem Vorwort zu Recht darauf, dass sich der Verlag „Znak“ und die gleichnamige Zeitschrift sowie die zum gleichen katholischen Umfeld zählenden Publikationsorgane „Tygodnik Powszechny“ und „Więź“ die gesamte Nachkriegszeit über mit zahlreichen Büchern und Beiträgen der jüdisch-polnischen Problematik gewidmet und den in der Gesellschaft grassierenden Antisemitismus bekämpft haben. Wörtlich schreibt er: „Daher veröffentlichen wir das Buch von Jan Tomasz Gross, einem polnischen – wenn auch in den USA lehrenden – Historikers und Soziologen in der Hoffnung, dass dank dem die faktische Schande, dass das Nachkriegspolen das einzige Land war, in dem Juden a l s Juden physisch bedroht waren, aus polnischer Sicht gebührend aufgearbeitet wird.“ (VII)
Bevor sich Gross der unmittelbaren Nachkriegszeit zuwendet, geht er auf die Jahre deutscher Besatzung ein, in denen Millionen polnischer Christen das Leiden von drei Millionen ihrer jüdischen Mitbürger vor Augen hatten und sich auf sehr unterschiedliche Weise verhalten haben – durch Gleichgültigkeit, Schweigen und Beteiligung an Verfolgung und Morden, aber auch durch selbstlose Hilfe. Dabei spricht er die Polen von dem Vorwurf frei, sie seien schuld, dass der Holocaust auf ihrem Boden stattfand. Dies sei ausschließlich eine Entscheidung der nazistischen deutschen Führung gewesen, auf welche Polen in keiner Weise Einfluss gehabt hätten. „Daher vollzog sich die Beteiligung der polnischen Gesellschaft am Prozess der Vernichtung der jüdischen Nation unter Umständen, an denen die Polen unschuldig sind. Ein Aufruf zur Ermordung von Juden gab es in keinem Programm einer polnischen Partei [..] Selbst bei polnischen Antisemiten findet sich keine Aussage, die jüdische Nation zu vernichten.“ (315f)
Detaillierte Darlegung der Verfolgung von Juden durch ihre polnischen Mitbürger
Gross geht anhand von einer Vielzahl von Einzelbeispielen auf das Schicksal der Juden ein, die den Holocaust überlebt hatten und sich unmittelbar nach dem Krieg neuerlicher Diskriminierung und Verfolgung ausgesetzt sahen. Er beschreibt die administrative wie wilde Konfiszierung jüdischen Besitzes. So heißt es in einem Dokument des Zentralkomitees der kommunistischen Partei, dass die Mehrzahl der Häuser in Kielce Juden gehört hatte. Nach ihrer Deportation hätten sich Polen darin eingerichtet, den ursprünglich jüdischen Besitz als ihr Eigentum betrachtet und auf ihre Angehörigen gewartet. „Statt ihrer Nächsten kehren Juden (als Repatriierte aus Russland) zurück“, was den verbreiteten Antisemitismus und die Übergriffe auf Juden zur Folge hatte. (180) Gross geht zudem auf die in Teilen des polnischen Volkes tief verwurzelte Vorstellung vom jüdischen Ritualmord ein, die insbesondere beim Pogrom in Kielce eine ausschlaggebende Rolle gespielt habe. Gross macht aber deutlich, dass das Morden keineswegs auf Kielce beschränkt gewesen war. Er führt Augenzeugen an, die davon berichten, man habe Juden unter dem Vorwand, sie hätten für ihre Matze christliche Kinder geraubt, aus den Zügen geholt und auf den Bahnsteigen umgebracht. Den Pogromen unmittelbar nach dem Krieg seien schätzungsweise 500 – 2500 Juden zum Opfer gefallen. Der Autor untersucht des Weiteren, wie sich die Kirche den Pogromen gegenüber verhalten hat und geht den spezifisch polnischen Ursachen des Antisemitismus nach. Ein reiches Quellenmaterial von allerdings unterschiedlicher und teils umstrittener Beweiskraft stützen seine Thesen.
Wenngleich Gross, wie Woźniakowski in seinem Vorwort meint, zu Überspitzungen und Verallgemeinerungen neige, so sei dies doch in einem Essay durchaus berechtigt, der zur Diskussion und zu weiteren Forschungen anrege sowie zu einer „Enttabuisierung“ eines Themas „beitragen könne, das äußerst wichtig ist für Polen, die sich nicht allein für die materiellen und geistigen Triumphe der nationalen Gemeinschaft verantwortlich fühlen – wie manche Exponenten einer ‚Geschichtspolitik‘ möchten - , sondern ebenso für ihren Fall und ihre Niederlagen, vor allem die moralischer Art.“ (IV)
Im Folgenden sollen aus dem reichhaltigen Material einige Aspekte ausgewählt und näher betrachtet werden. Im einzelnen geht es um das Verständnis des Titels, um die Ursachen des polnischen Antisemitismus, um die antisemitische Tradition der Endecja sowie um das Schweigen der Kirche.
Angst – warum und vor wem?
Unter den Zeugnissen unmittelbar Betroffener findet sich auch folgender Bericht einer vom Dorf stammenden polnischen Hausangestellten. Nachdem man ihre jüdische Familie ins Getto eingeliefert hatte, besuchte sie diese täglich. Es gelang ihr, zwei der drei Kinder aus dem Getto zu befreien. Mit ihnen kehrte sie in ihr Dorf zurück. Als die Nachbarn merkten, dass sie jüdische Kinder versteckt hielt, wurde sie von allen Seiten unter Druck gesetzt, die Kinder der Gestapo auszuliefern. Als sie sich weigerte, bestand die Dorfgemeinschaft am Ende darauf, den Kindern nachts im Schlaf die Köpfe abzuschlagen. Die Kinder, die um diesen Mordplan wussten, sagten zu ihrer Retterin: „Karolinchen, tötet uns noch nicht heute. Noch nicht heute.“ (42)
Beide Kinder überlebten den Krieg. Ihr „Karolinchen“ hatte die Dorfgemeinschaft getäuscht, indem sie vorgab, die Kinder in einem nahen Teich ertränkt zu haben.
Dieser erschütternde Bericht ist zugleich eine Illustration der Angst – zuerst die der Kinder, dann die ihrer Retterin und zuletzt die der Dorfbewohner, die – würden die Kinder bei einer Razzia entdeckt – um ihr Leben bangten und bereit waren, das der Kinder für ihre Sicherheit zu opfern.
Gross zitiert aus einem bereits 1958 erschienenen Tagebuch zahlreiche Beispiele, welche die Jagd auf Juden, zumal in den Dörfern, belegen. „Aus Angst vor Repressionen fangen die Bauern in den Dörfern Juden und bringen sie in die Stadt oder ermorden sie oft gleich an Ort und Stelle. [...] Eine Psychose erfasst die Menschen [...], die nach dem Vorbild der Deutschen in einem Juden keinen Menschen, sondern ein schädliches Tier sehen, das man unter allen Umständen vernichten muss [...]“ (33f)
Der Autor zeigt die lange nachwirkende Konsequenz dieser aus der Okkupationszeit stammenden Psychose. Er schreibt: „Was man den Juden angetan hat, macht den Leuten bewusst, dass sie einem kollektiven Wahnsinn verfallen können und dass sie für sich selbst eine permanente Bedrohung darstellen. Wenn sich Juden nicht artgemäß von andern Menschen unterscheiden, dann bildet das Böse, dem diese während des Krieges nachgaben und an dem die örtliche Bevölkerung ihren Anteil hatte, eine tödliche Bedrohung für sie selbst. Wenn man aber mit Menschen, die sich durch ihr Judentum unterscheiden, unmenschlich umgehen kann, dann bedeutet dies, dass es keine unübersteigbare Barriere gibt, die verhindert, dass man wen auch immer unmenschlich behandeln kann. Die Gegenwart eines Juden erinnert daran, wie brüchig unsere Existenz ist, die uns den Gedanken an Gewalt nahe legt, daran, wozu wir fähig sind. Ohne Sühne für das den Juden als den Nächsten angetane Unrecht bleibt nach den Verbrechen aus der Zeit der Okkupation A n g s t.“ (310)
Antisemitismus in Partei und Arbeiterklasse
In der Analyse von Dokumenten des Zentralkomitees der kommunistischen Partei, die auf das Pogrom von Kielce Bezug nehmen, kommt Gross zu dem Schluss, dass die Leitungsgremien von Partei und Staatssicherheit auf das Pogrom in keiner Weise reagiert haben. Zwar sei ein Dekret zur Bekämpfung des Antisemitismus in Vorbereitung gewesen, doch „das politische Establishment entschied definitiv, dass die jüdische Frage in keiner Weise zu behandeln sei."“(183)
Zudem zeigt sich in den Dokumenten, dass der Antisemitismus vornehmlich in der weitgehend aus der Landbevölkerung stammenden neuen Arbeiterklasse verbreitet war. In ihr finden sich die alten Stereotype von den „reichen Juden“, den „Parasiten“ des Volkes. „Antisemitismus durchdringt die Reihen der Partei, den unteren, selbst den mittleren Apparat.“ (181) Nach Auffassung der Partei sei die bloße Anwesenheit von Juden allein schon Grund genug für die antisemitische Einstellung der Arbeiterklasse „und würde man sich ihrer nur entledigen können, dann verschwände mit ihnen auch das Problem.“ (182)
Ganz anders die Einstellung der Intelligenz. Gross lässt zahlreiche Stimmen zu Wort kommen, die sich gleich nach Kriegsende äußerst kritisch mit dem Antisemitismus auseinander setzten und seine Überwindung einforderten. Zugleich wird in diesen Zeugnissen die Erschütterung deutlich, dass selbst angesichts des Holocaust der Antisemitismus, wenngleich beschränkt auf die neue städtische Schicht der Arbeiter und kleinen Angestellten, fortlebt. Allein die Intelligenz sei vom Antisemitismus frei gewesen, während „andere geistige und politische Eliten aus dem engen Horizont der Stereotype nicht heraustreten konnten. Schriftsteller, Poeten und Wissenschaftler erwiesen sich ein weiteres Mal als Gewissen der Nation.“ (214f)
Antisemitismus in der Tradition der Endecja
Am stärksten ist wohl der polnische Antisemitismus in der Nationaldemokratie der Vorkriegszeit, der so genannten Endecja, verwurzelt. Gross zitiert aus dem Tagebuch eines ihrer Anhänger: „Was mich betrifft, so blicke ich auf die Vernichtung der Juden in Polen aus zwei unterschiedlichen Perspektiven, zwischen denen eine schwer überwindbare Antinomie besteht – als Christ und als Pole. Als Christ darf ich meinem Nächsten das Mitgefühl nicht verweigern. [...] Als Pole betrachte ich die Vorfälle anders. Als Parteigänger der Ideologie von Dmowski sehe ich in den Juden fremde Okkupanten, eine dem Land feindlich gesonnene Diaspora.“ (302) Wegen der in dieser Einstellung zum Ausdruck kommenden Synthese zwischen Polentum und katholischem Glauben nennt Gross ihn einen „katoendek“. Und er kritisiert ihn mit den Worten: „Das christliche Gewissen und die Kenntnis der historischen Tradition der eigenen Nation sollten ihm wohl klar machen, dass dies eine falsche Alternative ist und er diese Antinomie überwinden muss, um den ihm seit der Kindheit eingepflanzten Werten treu zu bleiben.“ (303)
Gross macht deutlich, dass es sich bei der Endecja um eine Ideologie handelt, der ein Katholik keineswegs zwangsläufig erliegen musste. Er sagt klipp und klar, „dass Katholizismus und Weltanschauung der Endecja zwei von einander zu unterscheidene Phänomene sind. Man konnte vor dem Krieg ein tief gläubiger und politisch engagierter Katholik sein und sich doch von Schrifttum und der politischen Partei des Roman Dmowski fern halten.“ (185)
Diese Klarstellung ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass sich die Ideologie der Endecja mit ihrer Fremdenfeindlichkeit und ihrem Antisemitismus bereits in der Zwischenkriegszeit gesellschaftlich verheerend ausgewirkt hat. Ihre Konsequenzen „untergruben in der multiethnischen Gesellschaft [...] im Zusammentreffen mit dem auf Vernichtung zielenden Antisemitismus der deutschen Okkupanten bei vielen einfachen Menschen die Schärfe moralischen Urteilens.“ (185) Juden wurden je nach Bedarf etikettiert. „Der Jude war gleichzeitig Kommunist, Händler, Kapitalist, ein arbeitsloser Faulpelz, Reicher, Vampir, Antichrist, Kosmopolit sowie Kindermörder, mit dem man am besten nichts zu schaffen hat.“ (304)
Ein von der Endecja den Juden angedichtetes Etikett besonderer Art ist das Stereotyp „żydokomuny“, das eine angebliche Identifizierung des Judentums mit dem Kommunismus beinhaltet. Wenngleich es auf der Hand liegt, dass Juden wie andere Gesellschaftsschichten sehr unterschiedliche weltanschauliche und politische Ansichten vertraten, so hat sich doch dieses Vorurteil als „ausgesprochen dauerhaft sowohl im alltäglichen Umgang als auch in der Publizistik der ‚katoendecja‘ erwiesen.“ (246) Schon angesichts der geringen Zahl von schätzungsweise 25 000 – 30 000 Kommunisten im Vorkriegspolen, deren Partei zudem in der Illegalität operierte und deren in die UdSSR emigrierte Führung den stalinistischen Prozessen der 30er Jahre zum Opfer gefallen war, konnte – wie Gross nachrechnet – nur ein Bruchteil der rund 3 Millionen Juden der kommunistischen Partei angehören. Es habe im Vorkriegspolen lediglich 7000 – 8000 Kommunisten jüdischer Herkunft gegeben, „also zwei bis drei Promille damaliger polnischer Juden.“ Mit der Realität hatte das Schlagwort „żydokomuny“ jedenfalls nichts zu tun.
Im Nachkriegspolen erfuhr das Stereotyp „żydokomuny“ eine weitere Zuspitzung. Nun sprach man – so Gross – von einer allgemeinen „Verjudung“ des Sicherheitsapparats. Der Autor leugnet nicht, dass Juden, und zwar in führender Position, im Sicherheitsapparat tätig waren. Und er macht sie ohne Wenn und Aber für die stalinistischen Verbrechen jener Jahre mitverantwortlich. Es habe sich bei diesen Führungskräften um rund 150 Juden unter über 300 Nichtjuden gehandelt. Zudem habe es auf der unteren Ebene der rund 250 000 vom Lande stammenden Milizianten, denen die Verbrechen konkret anzulasten seien, kaum ein Jude gegeben. Zusammenfassend erklärt Gross: „Wenn nach den Postulaten der katoendecja das Judentum ein im Fleisch der Nation fremdes Element ist, dann ist es nicht verwunderlich, dass es das nationale Interesse ignoriert und Polen schadet – indem es sich zum Beispiel im Sicherheitsapparat engagiert. Für die Publizistik und Historiographie der katoendecja sollte ehrlicher Weise das zur Aufklärung wesentliche Problem die ‚siebzig Prozent‘ des Leitungskaders polnischer Herkunft im Ministerium für Staatssicherheit sein sowie die viertel Million ‚Staśki‘ in den kommunistischen Organen des Terrors in toto. Zu diesem Thema weiß jedoch die katoendecja nichts zu sagen.“ (293)
Gross weiß sehr wohl, dass der nationale oder nationalistisch begründete Antisemitismus keine rein polnische, sondern eine im gesamten christlichen Europa verbreitete Erscheinung war. Und er hätte sich von anderen europäischen Formen des Antisemitismus kaum abgehoben, „wäre es nicht zur Okkupation Polens gekommen und mit ihr zu einer f o r t s c h r e i t e n d e n B r u t a l i s i e r u n g d e r V e r f o l g u n g v o n J u d e n.“ (321) Gross zeigt zudem, dass sich Vertreter der Endecja durch den Holocaust vor eine Entscheidung gestellt sahen: entweder die Konsequenzen des Antisemitismus kritisch zu überdenken oder die antisemitische Politik der Besatzer zu akzeptieren. Als positives Beispiel verweist er u. a. auf die Schriftstellerin Zofia Kossak-Szczucka, von Haus aus „eine Antisemitin“, die Gross mit den Worten zitiert: „Obgleich der Jude der nationale Feind des Polentums ist, so verlangt doch die christliche Ethik vom katholischen Polen, dass er sich der Ermordung der Juden widersetzt. [...]“ Als Mitglied der ‚Żegota‘, einer Untergrundorganisation zur Rettung von Juden, habe sie dazu aufgerufen, Juden zu helfen: „Wer angesichts des Mordens schweigt – der macht sich mit den Mördern gemein. Wer nicht verdammt – der erlaubt.“ (313) Während Gross diese klaren Worte einer Antisemitin zu würdigen weiß, vermerkt er zugleich, dass ihr Appell „von der Mehrheit der Gesellschaft und des katholischen Klerus ignoriert wurde.“ (313)
Das Schweigen der Kirche
„Wer angesichts des Mordens schweigt – der macht sich mit den Mördern gemein.“ Diesen Vorwurf erhebt Gross gegen Polens katholische Kirche. An der klaren Aussage des Dekalogs, „dass kein Mensch einen anderen Menschen töten darf“, habe es in Bezug auf die Vernichtung der Juden gemangelt. So habe der Krakauer Fürstbischof Adam Sapieha bei Generalgouverneur Frank gegen den Judenmord nicht protestiert. Unter Berufung auf den Jesuiten Stanisław Musiał verweist Gross darauf, „dass sich weder in dessen Aussagen noch in denen anderer Hierarchen der polnischen Kirche irgendwelche Spuren an Mitgefühl oder Trost finden. [...] Und das lässt sich durch kein Feigenblatt verhüllen, nicht durch die wenigen Namen von Christen und Ordensschwestern, die Juden gerettet haben. Denn in Ausübung des Berufs und aufgrund des Glaubens hätten sich a l l e o h n e A u s n a h m e dem Verbrechen des Holocaust widersetzen m ü s s e n.“ (314)
Ausführlich untersucht Gross die Reaktion des katholischen Amtskirche auf das Pogrom von Kielce. Hierzu habe Primas August Hlond, trotz Bitten von jüdischer Seite, geschwiegen. Von den Bischöfen habe sich allein der Ordinarius von Tschenstochau, Teodor Kubina, zu Wort gemeldet. Dieser habe „eindeutig den Antisemitismus der Kielcer Volksmenge und den Unsinn der verbreiteten Gerüchte um der von Juden verübten Ermordung christlicher Kinder verurteilt.“ (186) Doch für seinen Alleingang sei er auf der Bischofskonferenz vier Monate später scharf kritisiert worden. Im Sitzungsprotokoll heißt es, alle Bischöfe seien verpflichtet, „sich bei ausnahmslos sämtlichen Vorgängen im Land eines individuellen Standpunkts zu enthalten und keine Situation herbeiführen wie im Falle der Ereignisse in Kielce [...], dass sich der Ordinarius einer Diözese [...] an einer Verlautbarung beteiligt, deren Inhalt und Intentionen andere Ordinarien aus grundsätzlichen und kanonischen Erwägungen der katholischen Kirche für inakzeptabel halten.“ (137) In der Tat hatte Bischof Kubina gemeinsam mit Vertretern örtlicher Behörden eine gegen das Morden in Kielce gerichtete Erklärung unterzeichnet, wobei ihr Wortlaut allerdings für eine kirchliche Beanstandung keinen Anlass bietet.
Doch Polens Kirche hat zum Pogrom in Kielce nicht nur geschwiegen, sie hat auch Stellung bezogen, allerdings nicht im Sinne einer klaren Verurteilung der Mordtaten, sondern im Ungeist einer antisemitischen Beschwichtigung. Gross zitiert aus dem auf Veranlassung von Bischof Kaczmarek erstellten Memorial. Darin wird behauptet, im Krieg habe es keinen Antisemitismus gegeben. Vielmehr „fühlten alle mit den Juden mit [...) Die Polen retteten viele Juden [...) So war es 1944 und zu Beginn des Jahres 1945. Nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen, nachdem die Lubliner Regierung ihre Macht über ganz Polen ausgeweitet hatte, änderte sich dieser Stand der Dinge grundlegend. Die Ablehnung der Juden nahm ihren Anfang.“ (197)
Das Memorial gibt auf die Frage, wie es zu den Ereignissen in Kielce kommen konnte, eine einzige Antwort: „Weil die Menge die Juden hasst.“ (197) Doch warum werden sie gehasst? „Die Juden in Polen sind die Hauptpropagandisten des kommunistischen Systems, das die polnische Nation ablehnt. [...] Die Ministerien, die Stellen im Ausland, die Positionen in den Fabriken, Ämtern, Armee sind voll mit Juden besetzt. [...] Sie sind im Sicherheitsapparat, nehmen Verhaftungen vor.“ (197) Der nationale Stolz verbietet offenbar die Vorstellung, dass in den kommunistischen Leitungskadern überwiegend Polen tätig waren. Also musste das Stereotyp „żydokomuny“ zur Erklärung herhalten. Es lässt „die Juden selbst für den Hass verantwortlich“ erscheinen, „der sie umgibt“ (198) und es rechtfertigt scheinbar das Schweigen der Kirche, denn ein entschiedenes Eintreten für das Lebensrecht der Juden und eine klare Absage an jeglichen Antisemitismus wäre – so die Logik des Memorial – einer Unterstützung des kommunistischen Systems gleich gekommen und hätte möglicherweise die Massen gegen die Kirche aufgebracht.
In den Schlusssätzen bringt Gross noch einmal seine moralische Intention zum Ausdruck. „Mit der Realität lässt sich nicht streiten – entweder man lebt in der Lüge oder man bekennt sich zur Wahrheit und geht auf sie zu. Wir müssen die Geschichte des Schicksals jüdischer Mitbürger, die unter den Ihren den Tod fanden, bis ins Letzte kennen. [...] Polen müssen sich einander die Geschichte der Verfolgungen der Juden in Polen in einer Weise erzählen, dass das Opfer in dieser Erzählung das eigene Los wieder erkennt.“ (318) Als ein solcher Versuch sollte Gross` „Angst“ gelesen werden.
Jan T. Gross, Strach. Antysemityzm w Polsce tuż po wojnie. Historia moralnej zapaści (Angst. Antisemitismus in Polen unmittelbar nach dem Krieg. Geschichte eines moralischen Versagens), Kraków 2007, S. 343.
Maria Hochberg-Mariańska und Noe Grüss, Dzieci oskarżarją (Kinder klagen an), Centralna Żydowska Komisja Historyczna w Polsce, Kraków-Łódź-Warszawa 1047, S. XXXII.
Zygmunt Klukowski, Dziennik z lat okupacji Zamoszczyzny (Tagebuch aus den Jahren der Okkupation des Gebiets von Zamość), Lublin 1958.
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