Die weitreichenden Folgen des IPN-Gesetzes
Über die Empörung, die das neue, die Aktivitäten des Instituts Nationalen Gedenkens (IPN) regelnde Gesetz der nationalkonservativen Regierung Polens in Israel und bei jüdischen Organisationen ausgelöst hat, trat der Bezug zur Ukraine in den Hintergrund. Doch auch sie ist betroffen, denn sie wird in dem Gesetz ausdrücklich erwähnt: Wer die im Zweiten Weltkrieg von ukrainischen Nationalisten an Polen verübten Verbrechen leugnet oder diese bagatellisiert, dem droht ebenso eine Strafe bis zu drei Jahren Haft wie demjenigen, der von „polnischen Konzentrationslagern“ spricht oder auf andere Weise eine Verstrickung Polens in den Holocaust behauptet.
Der Journalist und Publizist Mirosław Czech hat sich sehr eingehend mit den die Ukraine betreffenden Aussagen des IPN-Gesetzes befasst. Er wertet sie als Teil der von der nationalkonservativen Regierung betriebenen Gedächtnispolitik, die eine Verschlechterung der polnisch-ukrainischen Beziehungen bewusst in Kauf nimmt. Diese beginnt bereits mit der Definition der ukrainischen Gebiete, auf die sich das IPN-Gesetz bezieht. Sie werden als Klein- bzw. als Ostpolen bezeichnet. Auffallend sind auch zeitgleich mit der Verabschiedung des IPN-Gesetzes antiukrainische Äußerungen aus nationalkonservativen Kreisen. So äußerte sich Piotr Skwieciński, ein mit der Kaczyński-Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) eng verbundener Publizist, indem er in Anspielung auf die Verehrung ukrainischer Nationalisten an die Adresse der Ukrainer gewandt schrieb: „Ihr seid euch nicht darüber im Klaren, dass man euch mit dem Kult von Bandera‘isten, die nicht nur Polen, sondern auch Juden ermordet haben, nicht zum Westen zulässt.“ Auch Ministerpräsident Tadeusz Morawiecki nutzte seine Rede am 13. 02. 2018 in Chełmo dazu, ein weit in der Geschichte zurückliegendes Ereignis in Erinnerung zu rufen, das den mörderischen ukrainischen Nationalismus als in der nationalen Tradition verankert erscheinen lässt. Es handelt sich um den von Bohdan Chmelnyzkyj angeführten Kosakenaufstand (1648-1657), dem polnische Magnaten und in ihrem Dienst stehende Juden zu tausenden zum Opfer fielen. Morawiecki stellte Chmelnyzkyj in eine Reihe mit Hitler und Himmler. Noch vor wenigen Jahren, so Czech, hätte sich ein führender polnischer Politiker eine derartige Äußerung mit Rücksicht auf den ukrainischen Nachbarn erspart.
Eine rätselhafte Datierung
Das IPN-Gesetz bestimmt in Artikel 2a die Jahre 1925-1950 als Zeitraum der von ukrainischen Nationalisten gegen Polen verübten Verbrechen. Während das Schlussdatum 1950 als Todesjahr von Roman Szuchewycz, des letzten Kommandanten der nach dem Zweiten Weltkrieg gegen die sowjetische Besatzungsmacht weiter kämpfenden Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA) verständlich ist, gibt das Anfangsdatum 1925 Rätsel auf. Dieses relativ frühe Zeitpunkt zeigt als erstes, dass sich das IPN-Gesetz nicht allein auf die 1942 gründete UPA bezieht, deren Morde an Frauen, Kinder und Greise vom polnischen Sejm am 11. Juli 2016 sehr zum Ärger von Kiew als Völkermord verurteilt wurde, sondern darüber hinaus grundsätzlich auf ukrainische Nationalisten angewandt werden soll. Unter diesem Aspekt hätte sich auch 1920 als Gründungsjahr der geheimen ukrainischen Verteidigungsorganisation angeboten, die damals in der Ostukraine gegen Polen kämpfte und der das 1921 gescheiterte Attentat auf Józef Piłsudski zur Last gelegt wird. Warum also 1925?
Czech nimmt für sich in Anspruch, dieses Rätsel gelöst zu haben. Er verweist darauf, dass das Jahr 1925 für die Sowjetunion eine deutliche Zäsur darstellt. Sie vollzog in diesem Jahr einen Strategiewechsel. Nachdem trotz der Hyperinflation, hoher Arbeitslosigkeit und großem Elend der von der Komintern erwartete Arbeiteraufstand in Deutschland ausblieb, gab der Kreml die Hoffnung auf eine „Weltrevolution“ auf. Von dieser Entscheidung sei auch die ukrainische Armeeorganisation „Związek“ betroffen gewesen. Czech zitiert ausführlich einen Brief ihres zeitweiligen Kommandanten Jewhen Konawalec vom Mai 1930, in dem dieser aufdeckt, dass die Organisation 1923 vom sowjetischen Geheimdienst ein Kooperationsangebot erhalten habe. Bedingung sei seine Amtsentfernung gewesen. Man habe das Angebot angenommen und finanzielle Unterstützung erhalten. Doch mit dem sowjetischen Strategiewechsel seien diese Mittel ausgeblieben, und die sowjetische Seite habe auf eine Liquidierung der Organisation hingearbeitet. Diese sei 1925 erfolgt, und es sei unter sowjetischer Kontrolle die radikal antipolnische Westukrainische Organisation der Volksrevolution entstanden. Dieser von Konowalec in Briefform verfasste Bricht werde durch Dokumente des sowjetischen Geheimdienstes bestätigt. Konowalec selbst wurde 1938 auf Befehl Stalins ermordet.
Czech bringt den Bericht von Konowalec in Zusammenhang mit einem Rapport des sowjetischen Geheimdienstes mit Sitz in Berlin. Darin wird auf die Verhandlungen Bezug genommen, die Piłsudski 1920 mit Ukrainern geführt hat, um ihre Unabhängigkeitsbewegung im Kampf gegen die Bolschewiken zu unterstützen. Der Bericht schließt mit der Befürchtung einer polnisch-ukrainischen Allianz im Kampf gegen die Sowjetunion. Nachdem es aufgrund des 1921 zwischen Polen und der Sowjetunion abgeschlossenen Friedensvertrags von Riga nicht dazu gekommen ist, zog die Sowjetunion aus der Möglichkeit dieser Gefahr die Konsequenz, die ukrainische Unabhängigkeitsbewegung in der Westukraine in ihrem Kampf gegen Polen zu unterstützen.
Sowohl der Brief von Konowalec als auch der Berliner Rapport des sowjetischen Geheimdienstes zeigen, dass die Sowjetunion in den polnisch-ukrainischen Konflikt von Beginn an verwickelt war. Das könnte die Erklärung sein für das Jahr 1925 als Anfangsdatum des im IPN-Gesetz festgeschriebenen, den ukrainischen Nationalismus betreffenden Zeitraums. Aufschlussreich für Czech ist auch, dass das Gesetzesprojekt, das von Experten der Partei Kukiz 15 erarbeitet worden war, am 06. Juli 2016, drei Monate vor der von Putin verfügten Schließung der Archive, im Sejm eingebracht wurde. Es sei nicht ausgeschlossen, dass jene Experten noch Zugang zu den nunmehr geheimen Dokumenten gehabt hätten und diese Kenntnis die Fassung des IPN-Gesetzes beeinflusst habe. Czech sieht jedenfalls in den Russen geheime Mitautoren des IPN-Gesetzes.
Das IPN-Gesetz im russischen Interesse
„Wer die Vergangenheit kontrolliert, der hat Macht über die Zukunft. Wer das Heute kontrolliert, der hat die Vergangenheit in der Hand.“ Czech zitiert diese Sätze von George Orwell gleichsam als Leitwort seiner These, dass es Putin ist, der mit dem Schatz in den Archiven verborgener Dokumente die Kontrolle über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der polnisch-ukrainischen Beziehungen besitzt. Er geht in seiner Vermutung so weit, dass er es für möglich hält, der Kreml könne, wenn die nationalkonservative PiS-Regierung im Westen ihr Ansehen verspielt hat, Polen sogar die Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs geben. Und dies mit der Begründung, der Hitler-Stalin-Pakt sei nur eine Folge des 1934 abgeschlossenen und im März 1939 beendeten deutsch-polnischen Nichtangriffspakts gewesen. Ohne ihn hätte die Geschichte einen anderen Verlauf genommen. Und es könnten sich in den russischen Archiven noch Dokumente befinden, die sich für diese These nutzen ließen.
Czech kommt zu dem Schluss, dass „das IPN-Gesetz eine weitere Etappe auf dem Weg ist, Polen aus dem Westen herauszuführen, mit den Nachbarn in Konflikt zu bringen und Russland unterzuordnen.“
Was unter „ukrainische Nationalisten“ zu verstehen ist
Präsident Andrzej Duda hat das IPN-Gesetz unterschrieben, es dann aber zur Klärung einiger Fragen an das Verfassungsgericht weiter geleitet. Dabei geht es auch um den im Gesetz verwandten Begriff „ukrainische Nationalisten“, der zu allgemein sei und im polnischen Rechtssystem nicht funktionieren könne. Diese Feststellung des Präsidenten, so Czech, ist falsch. 1994 habe das Parlament mit den Stimmen des Linksbündnisses SLD und der Bauernpartei PSL einen Beschluss gefasst, mit dem jene, die während der Jahre 1944-45 in den sogenannten „Vernichtungsbataillonen“ zum Schutz der polnischen Bevölkerung vor den „ukrainischen Nationalisten“ gekämpft haben, als Kombattanten anerkannt wurden.
Bei den „Vernichtungsbataillonen“ handelte es sich um Formationen des NKWD. Geschaffen wurden sie am 24. Juli 1941 zur „Säuberung“ der Gebiete hinter der Front von „antisowjetischen Elementen“. Das IPN-Bulletin vom Juni 2002 vermerkt, das hunderte Soldaten örtlicher Abteilungen der Heimatarmee (AK) unter Führung von Offizieren des NKWD in diesen Bataillonen gekämpft haben. Und dies nicht nur gegen ukrainische Partisanen. Sie waren auch an der „Pazifizierung“ ganzer Dörfer beteiligt. Trotzdem erhielten sie 1994 den Status von Veteranen.
Im Unterschied zum Terminus „Ukrainische Aufstandsarmee (UPA) umfasst der Begriff „ukrainische Nationalisten“ nicht nur Untergrundkämpfer, sondern auch ihre „bewussten oder unbewussten Unterstützer“, und dies ohne Rücksicht auf Geschlecht und Alter. Dieses Verständnis sei von der kommunistischen Volksrepublik als eines der Fundamente ihrer „patriotischen“ Legimitation übernommen worden, neben der Angst vor dem deutschen Revisionismus und – ab 1968 – vor dem Zionismus. Das IPN-Gesetz stehe mit der Aufnahme des Begriffs „ukrainische Nationalisten“ in dieser Tradition.
Das IPN-Gesetz als Bumerang
Ganz entgegen der Absicht der nationalkonservativen Regierung öffne das IPN-Gesetz, so Czech, die „Pforte zur Verurteilung von Handlungen der II. Republik und der kommunistischen Volksrepublik“. Nach internationalem, auch von Polen anerkanntem Recht seien Verbrechen gegen die Menschlichkeit, darunter auch systematische Attacken gegen die Zivilbevölkerung, wie beispielsweise die „Pazifizierung“ ganzer Dörfer, unter Strafe gestellt. Und derlei von Polen begangene Verbrechen habe es innerhalb des im IPN-Gesetz festgelegten Zeitraums gegeben.
Czech listet derlei Verbrechen im Einzelnen auf: Den Staatsstreich von Piłsudski im Mai 1926 mit 400 Toten; die Internierung tausender Oppositioneller in der Zeit des „Sanacja“ (1926-1939); die jüdische Staatsbürger diffamierenden „Gettobänke“ an den Universitäten und den für sie geltenden „numerus clausus“; die völkerrechtswidrige Besetzung des tschechischen Olsagebiets im Oktober 1938.
Dazu die Verbrechen unter kommunistischer Herrschaft: Der formal freiwillige, in Wahrheit erzwungene polnisch-ukrainische Bevölkerungsaustausch 1945-46; die Umsiedlungsaktion Wisła“ im Jahr 1947, von der 140 000 polnische Bürger ukrainischer Herkunft betroffen waren; die zahlreichen an jüdischen Mitbürger verübten Morde während des Zweiten Weltkriegs; schließlich unmittelbar nach dem Krieg das Pogrom von Kielce, bei dem 37 polnisch-jüdische Bürger ums Leben kamen.
Bezeichnend ist in diesem Kontext eine Aussage von Premier Morawiecki in seiner Rede in Chełmo: „Man muss mit aller Deutlichkeit unterstreichen, dass das Pogrom von Kielce ganz sicher Teil einer Provokation der kommunistischen Macht war.“ Abgesehen davon, dass dies keineswegs „ganz sicher“ war, ist der immer wieder von PiS-Leuten geäußerte Einwand, man könne die unter kommunistischer Herrschaft verübten Verbrechen nicht dem polnischen Staat anlasten, weil es damals keinen souveränen Staat gegeben habe, absurd. Zu Ende gedacht, würde diese Schutzbehauptung bedeuten, dass sämtliche in jener Zeit erlassenen Gesetze unwirksam wären, womit letztlich die Nachkriegsordnung als solche in Frage gestellt würde.
Auf welche Weise das IPN-Gesetz als Bumerang im Ausland wirkt, das zeigt die Reaktion auf eine im Sinne dieses Gesetzes erhobene Anklage gegen eine Redaktion in Argentinien. Die Medien waren daraufhin voller Berichte über von Polen verübten Verbrechen. Weitere derartige Reaktionen im Ausland dürften zu erwarten sein. Sie räumen gründlich mit dem nationalkonservativen Mythos einer – wie Czech notiert – „unbefleckten 1000jährigen Geschichte“ auf. Und in Polen selbst verstärkt ein solcher Bumerang die ohnehin bestehende Mentalität einer von Feinden belagerten Festung, wodurch sich Polen zunehmend international isolieren wird.
Das von Czech gezogene Fazit: „Polen unter der PiS-Regierung ist ein souveräner Staat und begeht aus eigenem, nicht aufgezwungenen Willen Selbstmord – als Mitglied der Europäischen Union und der NATO, als eine zur europäischen Zivilisation gehörende Nation. Die Souveränität dieses „PiS-Polens“ ist eine Fassade, die sich uneingeschränkt für Manipulationen eignet. Selbst ein für die Interessen des Staates schädliches Gesetz geht im Galopp durch das Parlament, selbst die größte Dummheit und Schändlichkeit gewinnen den Rang eines Elements staatlicher Politik.“
Destabilisierung der Europäischen Union
Czech sieht Polen aufgrund des IPN-Gesetzes „aufgehängt durch PiS auf einer von Russland vorbereiteten Schnur.“ Ob – wie Czech vermutet – bei Entstehung des IPN-Gesetzes der Kreml die Fäden zog und sie gleich einem Marionettenspieler weiterhin nutzt – das sei dahingestellt. Tatsache ist, dass dieses Gesetz zu einer im Interesse Russlands liegenden Destabilisierung des westlich orientierten Europas beiträgt. Nimmt man vergleichbare Entwicklungen in Mitteleuropa hinzu, etwa die in Ungarn und Rumänien, dann könnten sich am Ende, wie Czech befürchtet, diese Länder als „nicht europäisch“ erweisen und sich ihre Aufnahme in die Europäische Union als „missglücktes Experiment“ herausstellen. Dann würde diese Entwicklung letztendlich auf eine Neuordnung Mitteleuropas hinauslaufen, und zwar, wie gehabt, unter Vorherrschaft Russlands. Dann wäre all das „nichts anderes als ein schöner Traum von Freiheit, Demokratie und Solidarität freier Bürger freier Nationen gewesen. Und das an dem Ort, an dem sich dieser Traum schon fast erfüllt hatte. Im Vaterland der Solidarność.“
Quelle: Mirosław Czech, Rok 1925 mógł wpisać do ustawy o IPN tylko ktoś znający archiwa wywiadu sowieckiego (Das Jahr 1925 konnte nur jemand mit Kenntnis der Archive des sowjetischen Geheimdienstes in das IPN-Gesetz hineinschreiben), Gazeta Wyborcza v. 03. 03. 2018.