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Mitteleuropa – regieren mit den Mitteln der Angst

  • Theo Mechtenberg
  • 16. März 2018
  • 5 Min. Lesezeit

Als der Krakauer Kardinal Karol Wojtyła 1978 zum Papst gewählt wurde, war eine seiner ersten, oft wiederholten Botschaften der in den Evangelien mehrfach zu findende Aufruf „Fürchtet euch nicht!“ Er wurde, zumal in Polen, als Aufforderung verstanden, die Angst vor dem kommunistischen System abzulegen. Und in der Tat erwies sich nicht nur in Polen, sondern in allen Ländern Mitteleuropas das Freiwerden von Angst als innerste Voraussetzung für die Auflehnung gegenüber jenen totalitären Systemen und ihre Überwindung im Epochenjahr 1989.

Heute, fast 30 Jahre danach, wünschte man sich erneut einen Mitteleuropäer, der mit vergleichbarer Autorität und Eindringlichkeit wie Johannes Paul II. jenen Weckruf erneuern würde. Denn die Mitteleuropäer sind, wie es scheint, wiederum der Angst erlegen und werden mittels der Angst regiert.

Die Instrumentalisierung der Flüchtlinge durch die PiS-Regierung

Dies gilt vor allem für Polen, das Heimatland des „polnischen“ Papstes. Es gibt eine Liste von nachweislich 28 000 Aussagen polnischer Politiker zur Flüchtlingsproblematik, in denen sie sich der Angst bedienen. So sagte Jarosław Kaczyński, Chef der nationalkonservativen Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) am 10. Oktober 2015 während des Wahlkampfes um die Sitze im Sejm: „Es gibt bereits Ängste vor dem Ausbruch sehr gefährlicher und bislang in Europa unbekannter Krankheiten wie Cholera auf griechischen Inseln und Ruhr in Wien. Manche sprechen von anderen, noch schwereren Krankheiten. Und es gibt schließlich ganz sicher geografische Unterschiede – eine andere Art von Parasiten, die in den Organen jener Menschen nicht gefährlich sind, hierzulande aber bedrohlich sein können.“ Die von Kaczyński geweckte Angst vor von Flüchtlingen eingeschleppte Epidemien diente dazu, die von Ministerpräsidentin Ewa Kopacz im September 2015 gemachte Zusage, im Rahmen des von der EU beschlossenen Verteilungsschlüssels 6000 Flüchtlinge aufzunehmen, wieder rückgängig zu machen und mit diesem Argument die Wahlen zu gewinnen. Mit Beschwörung der Angst als Mittel des Wahlkampfes gewann PiS denn auch die absolute Mehrheit der Wählerstimmen.

Die nationalkonservative Regierung hält an ihrer Strategie der Angst fest. Denn es blieb nicht bei der Beschwörung eingeschleppter Krankheiten. PiS bedient sich vielmehr einer breiten Palette möglicher Ängste: Die Terrorakte des sogenannten Islamischen Staates (IS) in Belgien nutzte Ministerpräsidentin Beata Szydło, die Angst vor Flüchtlingen zu bekräftigen und zu betonen „die Sicherheit der Polen ist das Allerwichtigste.“ Und Minister Jarosław Gowin beschwor das Bild von IS-Kämpfern, die Babys durch die Luft schleudern: „Ich bin ein polnischer Politiker, um das Risiko, dass irgendwer polnische Babys durch die Luft wirft, zu verhindern oder doch zu minimieren.“ Auch vor Vergewaltigungen wurde gewarnt. Eine Analyse solcher Äußerungen zeigt, dass sie sich vor allem auf die Bedrohung von Werten beziehen, die den Polen heilig sind: Gesundheit, Familie, Sicherheit, Nation. Dabei geht es nicht um eine reale Gefahr, denn Polen ist vor Flüchtlingen sicher: Das Land besitzt keine Außengrenze, über die Flüchtlinge einströmen könnten, die Regierung will erklärtermaßen keinen einzigen Flüchtling aufnehmen und die dürften bei so viel Ablehnung keinerlei Lust verspüren, Polen als Ziel ihrer gefahrvollen Reise nach Europa zu wählen.

Mit ihrer radikal ablehnenden Haltung in der Flüchtlingsfrage geriet die polnische Regierung in Konflikt mit der Europäischen Kommission. Und mit diesem Konflikt gewann auch die Angst eine europäische Dimension: Europa sehe sich der Gefahr einer Islamisierung gegenüber, die es abzuwehren gelte, wobei sich Polen als Bollwerk zur Verteidigung des christlichen Europa erweise. Am Ende fungierte die Europäische Union in Aussagen von PiS-Politikern selbst als eine die nationale Souveränität und Identität bedrohende Gefahr, der man sich widersetzen müsse.

Die Bedrohung wird von PiS künstlich geweckt, um sich dann als Garant ihrer Abwehr zu erweisen. Dies ist der einfache, aber offenbar höchst wirksame Mechanismus einer auf Angst basierenden Herrschaft. Die Zustimmung zur Politik der polnischen Regierung wächst in dem Maße, in dem sie Angst verbreitet und von sich behauptet, sie allein sei in der Lage, der Nation Sicherheit zu bieten. Wären zum jetzigen Zeitpunkt Wahlen, würde PiS diese mit einer noch deutlicheren absoluten Mehrheit als 2015 gewinnen.

Das Beispiel Tschechien

In Tschechien zeigt sich ein ähnliches Bild wie in Polen. Es gibt dort ungefähr 3500 Moslems, unter der 10 Millionen zählenden Bevölkerung ein verschwindender Prozentsatz. 2017 wurden lediglich 172 Immigranten an der Grenze aufgegriffen, und die hatten nicht die Absicht, in Tschechien zu bleiben, sondern waren auf dem Weg nach Deutschland. Und doch operieren rechte Politiker auch hier mit der Angst vor einer Islamisierung. Unter Hinweis auf Staatspräsident Milos Zeman kommentierte der tschechische Politologe Jiri Pehe die Situation mit den Worten: „Zeman hat, ähnlich wie viele Politiker Mitteleuropas, entdeckt, dass man sich in einer politisch unreifen Gesellschaft leicht der Angst und eines Mangels an Sicherheit bedienen kann. Wie manche andere Politiker nutzt auch er nicht nur angebliche Bedrohungen, sondern er ruft sie geradezu hervor, und dies einzig und allein dazu, um den Bürgern zu versichern, dass er sie vor ihnen schützt. In der postkommunistischen Welt zeigen derlei populistische Strategien Wirkung, denn die Menschen verstehen den Westen nicht sonderlich gut und befürchten, äußere Faktoren wie Immigranten, Globalisierung oder die Europäische Union könnten sie um ihren bescheidenen Wohlstand und um ihre Sicherheit bringen.“

Der Mechanismus der Angst – ein postkommunistisches Erbe?

Jiri Pehe sieht die Ursache für den politischen Mechanismus der Angst in einer postkommunistischen Traumatisierung. Aus ihr resultiere das Misstrauen gegenüber der Außenwelt. Die Länder Mitteleuropas „waren lange Zeit vom Westen isoliert. Weiter zeigt sich hier etwas, das ich die postkommunistische Mentalität nenne. Es ist reine Ironie, dass manche aus der politischen Elite Mitteleuropas scharfe antikommunistische Ansichten vertreten, aber sie sind von den Denkweisen und der Art des Handelns aus kommunistischen Zeiten durchdrungen. Dass die flüchtlingsfeindliche Hysterie viel mit dem kommunistischen Erbe zu tun hat, lässt sich leicht durch die Tatsache verifizieren, dass die Ostdeutschen die gleichen Einstellungen zeigen wie Polen, Ungarn, Tschechen und Slowaken.“

Zur Andersartigkeit Mitteleuropas gegenüber dem Westen zählt auch das Identitätsverständnis. Es ist nicht auf den Staat und die Zivilgesellschaft bezogen, sondern durch eine ethnisch verstandene Nation als einem angeblichen „Monolith“ bestimmt, verbunden durch gleiche Kultur, Sprache und Religion.

Ein weiteres Element, durch das sich Mitteleuropa vom Westen unterscheidet, ist der politische und ökonomische Transformationsprozess. Er begann im westlichen Europa unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, in Mitteleuropa dagegen verspätet mit dem Umbruchsjahr 1989, und verlief dazu noch beschleunigt und parallel zur Globalisierung – eine Entwicklung, auf welche die Mitteleuropäer nicht vorbereitet waren und die sie irritiert.

Letztlich wäre die durch das Internet bedingte Informationsflut zu nennen, die bei den Menschen die Angst vor einem Kontrollverlust über das eigene Leben zu wecken vermag. Hier treten die Politiker in der Rolle derer auf, die beanspruchen, für sie die Kontrolle auszuüben und ihnen dadurch die Angst zu nehmen.

Fazit: Es verwundert, dass den Mitteleuropäern bei ihren Ängsten der Selbsterhaltungsinstinkt offenbar abgeht. Sie ängstigen sich vor etwas Unwirklichen, vor einer möglichen, zugleich unwahrscheinlichen Gefahr, anders als die Balten, die Angst vor einer realen Bedrohung verspüren: vor Russland.

Quellen: Marcin Żyła, Strasz i rządź (Fürchte und regiere), Tygodnik Powszechny v. 25. 02. 2015, S. 12-16; Patrycja Bulabska, Lęki środkowej Europej (Mitteleuropas Ängste) ebd., S. 52-55.

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