Dritter Anlauf zu einem verschärften Abtreibungsgesetz
Polens demokratische Regierung übernahm nach 1989 zunächst das Gesetz vom 27. April 1956, das vor allem dem Gesundheitsschutz der Schwangeren diente und den Schutz des ungeborenen Lebens fast gänzlich außer Acht ließ. Für Polens Kirche war klar, dass dieses aus der kommunistischen Zeit stammende und Abtreibungen praktisch uneingeschränkt freigebende Gesetz durch ein neues ersetzt werden musste. Bereits gegen Ende der kommunistischen Herrschaft hatten mit dieser Absicht 76 katholische Abgeordnete aller im Sejm vertretenen Parteien am 10. Mai 1989 eine Gesetzesvorlage „über den Rechtsschutz des ungeborenen Kindes“ eingebracht. Sie geht davon aus, „dass das menschliche Leben als höchstes Gut vom Augenblick der Empfängnis an zu schützen und zu achten ist.“ Rechtswidrige Abtreibungen sollten mit bis zu drei Jahren Freiheitsentzug bestraft werden.
Gegen dieses Gesetzesvorhaben kam es landesweit zu Massenprotesten, die seine Verabschiedung verhinderten. Die Auseinandersetzungen bestimmten drei Jahre lang die öffentliche Diskussion. Anfang 1993 einigte man sich schließlich auf einen Kompromiss. Das am 7. Januar verabschiedete Gesetz „über Familienplanung, Schutz des menschlichen Fötus und Bedingungen für erlaubte Abtreibungen“ sieht drei Fälle legaler Schwangerschaftsunterbrechungen vor: bei Gefährdung der Gesundheit der Schwangeren, bei schweren Missbildungen der Leibesfrucht sowie bei Vergewaltigungen. Dieses Gesetz ist bis heute in Kraft, wenngleich es in der Vergangenheit nicht an Versuchen gefehlt hat, es einerseits zu liberalisieren, andererseits zu verschärfen.
Nach dem Wahlsieg der nationalkonservativen Kaczyński-Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) im Herbst 2015 geriet die Abtreibungsgesetzgebung erneut auf die Tagesordnung. Am 3. April 2016 kam in den Kirchen eine Erklärung des Präsidiums der Bischofskonferenz zur Verlesung, mit der die Bischöfe das geltende Recht in Frage stellten und betonten, es dürfe nicht bei dem gegenwärtigen Kompromiss bleiben. Damit unterstützten sie eine von „Pro Life“ initiierte Bürgerinitiative, die eine Verschärfung der Abtreibungsregelung forderte. Erneut kam es zu Massenprotesten, die auch die PiS-Regierung veranlasste, nachzugeben und das Gesetzesprojekt vorläufig auf Eis zu legen.
Und nun der dritte Anlauf. Diesmal sammelte die Stiftung „Leben und Familie“ unter dem Motto „Stoppt die Abtreibungen“ weit über 100 000 Unterschriften und reichte beim Sejm ihr Gesetzesvorhaben ein, das entgegen dem geltenden Recht auch bei ernster Schädigung der Leibesfrucht eine Schwangerschaftsunterbrechung untersagt. Und wieder gingen die Frauen, und nicht nur sie, in Massen auf die Straße. Der 23. März wurde durch die Organisatorinnen des „Allgemeinen polnischen Streiks der Frauen“ zum „schwarzen Freitag“ erklärt, an dem es vornehmlich in den Großstädten zu Massenprotesten kam. Allein in Warschau waren es 55 000, die vor dem Parlament und dem Sitz von PiS demonstrierten. Es waren mehr Menschen als im Oktober 2016.
Polens Kirche am Ziel ihrer Wünsche?
Auch diesmal meldete sich die Kirche zu Wort, unterstützte die Gesetzesvorlage „Stoppt die Abteibungen“ und drängte die Regierung zu einer schnellen Verabschiedung eines verschärften Gesetzes. In einem Kommuniqué vom 19. März 2018 betonte Erzbischof Stanisław Gądecki, der Vorsitzende der Bischofskonferenz, „das Recht eines jeden Kindes auf Geburt und Leben, unabhängig von genetischen Schäden. Die Rolle des Staates ist es, jedem Bürger Schutz zu garantieren, auch in seiner vorgeburtlichen Lebensphase.“ Und er dankte der Sejmkommission für Gerechtigkeit und Menschenrechte für ihre positive Begutachtung der Gesetzesvorlage.
Gądecki äußerte zudem die Auffassung, der Schutz Ungeborener sei „keine Frage der Religion oder Weltanschauung, sondern vor allem eine der Wissenschaft, die eindeutig zeigt, dass das Leben des Menschen mit dem Moment der Empfängnis beginnt.“ Dabei beruft er sich auf die Allgemeinde Erklärung der Menschenrechte, wonach das Leben das fundamentale Recht des Menschen sei, auf dem alle anderen Rechte beruhen würden. Allerdings ist es fraglich, ob sich die Aussage im Sinne der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte auf die pränatale Existenz beziehen lässt. Der entsprechende Artikel lautet: „Alle Menschen werden bezüglich ihrer Würde und ihrer Rechte frei und gleich geboren.“ Damit ist – wohl bewusst – über die pränatale Lebensphase nichts gesagt. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte lässt sich daher nur so interpretieren, dass die Schwangerschaftsunterbrechung zwar kein einklagbares Menschenrecht ist, aber das Verwehren einer Garantie, in bestimmten Situationen diese Möglichkeit zu haben, eine Verletzung der Menschenrechte wäre. So jedenfalls urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, wonach die Nichtgewährung einer realen Möglichkeit auf Schwangerschaftsunterbrechung im Falle der Bedrohung der Gesundheit der Schwangeren oder einer ernsten Schädigung der Leibesfrucht eine Missachtung des persönlichen und familiären Lebens ist.
Ein paar Tage nach dem Kommuniqué von Erzbischof Gądecki gab der Sprecher der Bischofkonferenz eine Stellungnahme ab, die sich mit der ihres Vorsitzenden deckt, den Standpunkt der Kirche aber noch um einiges deutlicher zum Ausdruck bringt. Er beschreibt zwar das Leiden und die dramatische Situation der Frau und ihrer Familie, wenn sich herausstellt, dass die Leibesfrucht genetische Schäden aufweist, aber trotzdem komme es ihnen nicht zu, das Embryo seines Lebensrechts zu berauben. Auch verfange das Argument nicht, die Frau sei frei über ihre Gesundheit und Selbstverwirklichung zu entscheiden, und daher stünde ihr auch das Recht auf Abtreibung zu. Das Recht auf Entscheidungsfreiheit sei zwar zu schätzen, nicht aber auf Kosten eines anderen Lebens. Im Übrigen gäbe es die Möglichkeit, das Kind nach der Geburt zur Adoption freizugeben.
All das sind sachliche Argumente, welche die Auffassung der Kirche zum Lebensschutz Ungeborener widerspiegelt. Die Frage ist allerdings, ob damit bereits ihre gesetzlich verbindliche Umsetzung in einer pluralistisch-demokratischen Gesellschaft gefordert werden kann.
Unsachlich dagegen äußerte sich Józef Michalik, emeritierter Erzbischof und früherer Vorsitzender der Bischofskonferenz. Für ihn wird der Mutterschoß bei einer Abtreibung zum Kreuz, an dem der „Kreuzweg der Ungeborenen“ sein Ende findet. Zudem behauptete er, „das Recht auf Abtreibung ist eines der traurigsten Hinterlassenschaften des Stalinismus.“ Dabei hätte er eigentlich wissen müssen, dass unter dem Stalinismus Abtreibungen verboten waren und sie in Polen erst mit dem Gesetz aus dem Jahr 1956 erlaubt wurden. Ein höchst peinliches Versehen, denn man könnte nun ausgerechnet das von der Kirche geforderte Abtreibungsverbot als ein Erbe des Stalinismus verstehen - eine Schlussfolgerung, die selbst auf sehr kirchenfeindlichen Plakaten demonstrierender Frauen am „schwarzen Freitag“ nicht zu lesen war.
Noch ist der Ausgang der Auseinandersetzung offen. Die Frage ist, ob die PiS-Regierung trotz der massiven Proteste dem Wunsch der Kirche nachkommt, ein verschärftes Abtreibungsgesetz zu verabschieden.
Quellen: Michał Szaflarski u. a., „Czarny piątek“ w całej Polsce („Schwarzer Freitag“ in ganz Polen), Gazeta Wyborcza v. 23. 03. 2018; Łukasz Wożnicki, Biskupy w „czarne piątek“ (Bischöfe am „schwarzen Freitag“, ebd.