Das polnische Dorf zwischen Tradition und Moderne
Sämtliche Prognosen und Wahlanalysen belegen, dass die Kaczyński-Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) in den ländlichen Gebieten, vor allem in den ostpolnischen, ihre besten Ergebnisse erzielt. So betrug der Stimmenanteil der Dorfbevölkerung bei den Parlamentswahlen im Herbst 2015, die PiS eine absolute Mehrheit bescherten, 50% aller für die Nationalkonservativen abgegebenen Voten.
Dieser Befund wird in weiten Teilen der polnischen Gesellschaft, selbst von Politikern, als Zeichen für die Rückständigkeit der Ladbevölkerung gewertet. Der Konservatismus der Dorfbewohner resultiere aus dem Faktum, dass die zivilisatorische Verwestlichung Polens den Ostteil des Landes noch nicht erfasst habe.
Diese Deutung ist allerdings äußerst oberflächlich und wird durch neuste soziologische Erhebungen widerlegt – ein Grund, sich mit der Problematik des polnischen Dorfes näher zu befassen.
Das traditionelle Stereotyp dörflicher Rückständigkeit
Es gibt zwei Begriffe, die bis heute in der polnischen Umgangssprache gebräuchlich sind und mit ihrer negativen Tönung die Rückständigkeit der bäuerlichen Welt beinhalten: Wiocha und Cham. Wiocha ließe sich als Kuhdorf übersetzen, als eine Ansammlung ärmlicher Gehöfte ohne Wasserleitung und Kanalisation, ohne asphaltierte Wege, die sich bei Regen in Schlamm verwandeln. Auf diese von der übrigen Welt abgeschnittenen Kuhdörfer blickt der Städter mit Verachtung herab oder bringt ihnen bestenfalls Mitleid entgegen.
Der Terminus Cham steht für die Herkunft einer Person aus einem solchen Kuhdorf und beinhaltet die Vorstellung eines ungebildeten und unzivilisierten bäuerlichen Tölpels, dem es an gesitteten Manieren mangelt.
Auch wenn gut 85% aller Polen von bäuerlichen Vorfahren abstammen, so möchte man doch diese Herkunft nicht wahrhaben und liebt es, sich vom Cham abzusetzen. Dieses Verhalten resultiert letztlich aus einer bis in das 16. Jahrhundert zurückreichenden Spaltung der Gesellschaft, also bis in die Zeit der Adelsrepublik und der Leibeigenschaft der Bauern. Diese wurde zwar mit der Verfassung vom 3. Mai 1791 offiziell aufgehoben, überdauerte aber teilweise den Untergang der Adelsrepublik zumal unter der russischen Teilungsmacht bis ins 19. Jahrhundert.
Während aus der Schachta, dem polnischen Landadel, die Schicht der Intelligenz hervorging, die für Polens Nationalkultur prägend wurde, blieb die bäuerliche Welt mit ihrer den Jahreszeiten entsprechenden und stark religiös geprägten Volkskultur von dieser weitgehend ausgeschlossen. Sie fand zwar als Thema und Gegenstand in Literatur und bildender Kunst ihren Ort, doch zumeist der ihre Rückständigkeit tradierenden Form der „Wiocha“. Die Folge ist, dass sich der Pole, selbst wenn er bäuerlicher Herkunft ist, nicht mit ihr, sondern mit Vorliebe mit dem kulturellen Modell der Oberschicht identifiziert. So finden sich beispielsweise in Wajdas Film „Katyn“, der das Schicksal Tausender von den Sowjets ermordeter Offiziere zum Thema hat, ausschließlich Vertreter aus gehobenen Kreisen, doch kein einziger bäuerlicher Herkunft, und dies, obgleich Wajda „Katyn“ seinem im Rang eines Offiziers ermordeten Vater, Sohn eines Bauern, gewidmet hat.
Die Situation in der kommunistischen Volksrepublik
An der Rückständigkeit der polnischen Dörfer änderte sich mit der Gewinnung der Unabhängigkeit und Eigenstaatlichkeit sowie in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen kaum etwas. Erst mit Beginn der kommunistischen Herrschaft kam es zu einschneidenden Veränderungen, allerdings nicht zu Gunsten einer sinnvollen Entwicklung der Landwirtschaft. Für die Partei hatte der Aufbau industrieller Zentren Priorität, so dass schon aus diesem Grund die Haushaltsmittel für ihre Modernisierung fehlten. Und die in ihrer Agrarpolitik vorgesehene umfassende Kollektivierung der Landwirtschaft scheiterte am Widerstand der Bauern.
Erfolgreich war dagegen die politische Führung mit ihrem Versuch, das Reservoir der Dorfjugend für die Verwirklichung ihrer ehrgeizigen industriellen Projekte auszuschöpfen und – entsprechend der Ideologie – aus ihr die Arbeiterklasse zu formen. Wajdas Klassiker „Der Mann aus Marmor“ verdeutlicht dies am Aufbau des Großprojektes und der „sozialistischen“ Stadt Nowa Huta vor den Toren des konservativen Krakau. In Scharen zog Nowa Huta wie ein Magnet die Jungbauern an. Aus ihnen wurden Arbeiter, denen sich zugleich die Chance auf Weiterbildung und Karriere bot. Doch erste Konflikte flammten bereits auf, die einen Widerspruch zwischen dem bäuerlich-religiösen Werten und dem propagierten „sozialistischen Menschen“ signalisierten – ein Konflikt, der Jahrzehnte später zur Bildung der Gewerkschaft „Solidarność“ führte und am Ende zum Sturz des kommunistischen Systems. Gleichsam symbolhaft für diese Zusammenhänge steht die Biographie von Lech Wałęsa, dem vom Dorf stammenden legendären Anführer der „Solidarność“ sowie späteren Staatspräsidenten und Nobelpreisträger.
Keine Verbesserung der dörflichen Situation nach 1989
Das europäische Wendejahr 1989 brachte zunächst keine Verbesserung der Situation auf dem Land. Der mit einer Schocktherapie verbundene Transformationsprozess, durch den die kommunistische Planwirtschaft in eine freie Marktwirtschaft überführt wurde, verschlechterte vielmehr die ohnehin prekäre Lage der Bauern. Die Regierungen des nun freien und westlich orientierten Polen konzentrierten sich auf die Entwicklung der Großstädte, ohne sich sonderlich für die Lage auf dem Land zu interessieren. In einem von Politikern der Bürgerplattform (PO) erstellten Zukunftsprogramm „Polen 2030“ vertraten die Autoren die Auffassung, die Entwicklung der Großstädte würde – gleichsam automatisch – auch auf die ländlichen Regionen übergreifen und die dortige wirtschaftliche und soziale Situation früher oder später verbessern. Während manche Bewohner von Warschau, Breslau oder Krakau in den 1990er Jahren ihre Träume von einer Eigentumswohnung und einem Urlaub im westlichen Ausland wahrmachen konnten, herrschten in Ermangelung einer überzeugenden Agrarpolitik in den Dörfern Stagnation und Elend. So kam es, dass 2004, im Jahr des EU-Beitritts Polens, immer noch 18% der Polen in der Landwirtschaft arbeiteten, aber lediglich 4% des Bruttosozialprodukts erwirtschaften. Zum Vergleich: Im EU-Beitrittsland Ungarn verdienten zu diesem Zeitpunkt lediglich 5% ihren Lebensunterhalt in der Landwirtschaft, und ihr Anteil am Bruttosozialprodukt betrug immerhin 5,1%.
Der EU-Beitritt Polens - Impuls einer rasanten dörflichen Entwicklung
Es ist erstaunlich und beindruckend zugleich, wie schnell sich mit dem EU-Beitritt Polens die Situation auf dem Land positiv veränderte. Die Fördermittel aus Brüssel machten es möglich. In den letzten 14 Jahren erhielt Polen 180 – 190 Milliarden Zł. an Direktzahlungen für die Landwirte und Mittel aus dem Strukturfonds zur Verbesserung der dörflichen Infrastruktur und des Naturschutzes. Das Durchschnittseinkommen der Bauern wuchs zwischen 2004 – 2012 jährlich um 7,5%, das der Städter um 6,1%. Damit zeigt das Dorf gegenüber der Stadt einen schnelleren Prozess der Modernisierung. Das durchschnittliche Prokopfeinkommen eines bäuerlichen Betriebes beträgt 75% des städtischen Durchschnittseinkommens. Der Vergleich mit Kleinstädten fällt für die Dörfler mit 86% noch günstiger aus. Zwar verdient man in der Stadt immer noch mehr als auf dem Land, doch die weit geringeren Lebenshaltungskosten in den Dörfern gleichen diesen Mangel aus. Die Folge ist, dass sich Stadt und Land zunehmend angleichen, so dass sich die Soziologen fragen, ob der Unterschied zwischen ihnen wissenschaftlich noch berechtigt ist.
Das Dorf hat jedenfalls gegenüber der Stadt an Attraktivität gewonnen. 85% der Dorfbewohner sind mit ihrer Lebenssituation zufrieden. Eine aus der Not geborene, von der Hoffnung auf ein besseres Leben motivierte Abwanderung in die Städte ist Vergangenheit. Es zeigt sich sogar eine Trendwende. Umfragen zufolge wünschen sich 40% der Stadtbewohner einen dörflichen Wohnsitz, sei es als dauernde Bleibe, sei es als Zweitwohnung. 2016 erfüllten sich 289 000 Stadtbewohner diesen Traum, während lediglich 75 000 Polen vom Dorf in die Stadt wechselten. Angesichts dieser Fakten haben die Stereotypen „Wiocha“ und „Cham“ mit der Wirklichkeit nichts mehr gemein.
Beeindruckend ist der Bildungsanstieg der Dorfbewohner. Lag ihr Bildungsanteil an der Gesamtbevölkerung vor dem EU-Beitritt bei nur 1,3%, so beträgt er heute über 10%. Und immer mehr ihrer Söhne und Töchter besuchen die Universitäten. Auch das öffentliche Prestige der selbständigen Bauern ist gestiegen und bewegt sich auf der Ebene von Ärzten und Offizieren. Pfarrer und Lehrer sind nicht mehr, wie über Jahrhunderte, die uneingeschränkten Autoritäten des Dorfes. Übertroffen werden sie vom Dorfvorsteher, besonders dann, wenn er in der Lage ist, die Entwicklung des Dorfes voranzutreiben und Konflikte zu schlichten. Das Amt alleine garantiert nicht mehr Ansehen und Einfluss, gemessen werden sie an der die Funktion ausfüllenden Person.
Die politische Einstellung der Dorfbevölkerung
Bei derlei beeindruckenden Daten fragt man sich verwundert, warum PiS in den dörflichen Regionen ihr stärkstes Elektorat besitzt. Man würde eher erwarten, dass die Kaczyński-Partei angesichts ihrer Konflikte mit der EU-Kommission von der bäuerlichen Wählerschaft mit Skepsis und Misstrauen betrachtet wird, ist doch die Möglichkeit nicht von der Hand zu weisen, dass als Folge dieser Konflikte die bislang so reichlich fließenden Direktzahlungen und sonstigen Fördermittel schrumpfen oder gänzlich gestoppt werden.
An Erklärungsversuchen mangelt es nicht. So verweist man mit Vorliebe auf den in den ländlichen Regionen verbreiteten Konservatismus, der jene nationalen und christlichen Werte beinhaltet, die von PiS im Einklang mit der Kirche gegen die vom Westen vordringende Säkularisierung verteidigt werden. Auch dürfte die Erinnerung an die Vorgängerregierungen von PiS nachwirken, deren Politiker für die Nöte und Sorgen der Landbevölkerung wenig Verständnis aufbrachten und für die im Unterschied zur städtischen Gesellschaft die Entwicklung der Dörfer keine Priorität besaß.
Aufschlussreich ist zudem, wie sich die Dorfbewohner in der Auseinandersetzung um die von PiS verfolgte Politik des sogenannten „guten Wandels“ verhalten. Während es in den Städten, vor allem in den großen Zentren Warschau und Breslau, immer wieder zu starken Protesten gegen die Justizreform kam, durch die die Unabhängigkeit der Gerichte kaum mehr gewährleistet ist und damit die für eine Demokratie fundamentale Gewaltenteilung zur bloßen Fiktion wird, stießen diese Maßnahmen auf dem Land auf keinen Widerstand; man nahm sie gleichgültig hin oder befürwortete sie sogar. Offenbar ist die Demokratie für die Dorfbewohner kein sonderlicher Wert, für den sich der Gang zur Wahlurne lohnt, geschweige denn für dessen Verteidigung man auf die Straße geht. Dies belegt auch ihr Wahlverhalten. Nur an den Selbstverwaltungswahlen, bei denen es um die Wahrung ihrer konkreten Interessen geht, beteiligen sie sich in größerer Zahl. Bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ist ihre Beteiligung dagegen um vieles geringer. Und die Wahlen zum Europaparlament stoßen bei ihr auf völliges Desinteresse.
Das politische Verhalten der Dörfler ist vor allem vom Pragmatismus bestimmt. Man engagiert sich dort, wo dies einen Nutzen verspricht, und zwar hier und heute und nicht erst in ferner Zukunft. Genau darauf hat PiS ihre Politik abgestimmt, indem die Partei beispielsweise vor den Parlamentswahlen Zuwendungen ab dem zweiten Kind in Höhe von 500 Zł. versprach und dieses Versprechen nach der Wahl wahr gemacht hat, von dem vor allem die immer noch relativ kinderreichen Familien auf dem Land besonders profitieren. Und auch sonst reagiert die Regierung auf die Sorgen und Nöte der Bauern, stärkt ihre Marktsituation durch Bildung einer nationalen Holding und gibt die Wildschweine zum Abschuss frei, wo und wann immer sich die Bauern über die angerichteten Flurschäden beschweren.
Abwendung von der Europäischen Union?
Dem auf das Hier und Heute begrenzten Pragmatismus der polnischen Bauern mangelt es an Voraussicht. Man ist daran gewöhnt, dass die Fördermittel der EU wie eh und je fließen, statt sich darauf einzustellen, dass dies nicht endlos so weiter geht. Dabei könnte sich dieses Ende schon sehr bald ankündigen. Bereits aufgrund des Brexit sind Kürzungen im kommenden EU-Haushalt unumgänglich. Hinzu kommt, dass die Kritik an der Agrarpolitik der EU zunimmt. Das bisherige System der Direktzahlungen nach dem Gießkannenprinzip, wonach jeder Landwirt pro Hektar 300 -. 400 € Zuzahlungen erhält, steht auf dem Prüfstand. Die Stimmen mehren sich, dass die zur Verfügung stehenden Mittel sinnvoller verteilt werden sollen -primär an die konkurrenzfähigen mittleren landwirtschaftlichen Betriebe und nicht – vor allem aus ökologischen Gründen – an die übergroßen Schweinemast- und Michproduktionsbetriebe und auch nicht an Besitzer von Kleinstbetrieben. Davon gibt es in Polen immer noch 1,4 Millionen Höfe, von denen die meisten nicht in der Lage sind, ohne Zusatzzahlungen zu überleben. Sie vor allem wären bei einer Umstrukturierung der Brüsseler Direktzahlungen betroffen.
Auch die permanenten Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit könnten Polen teuer zu stehen kommen und sich zusätzlich auf die Landwirtschaft auswirken. Sollte die EU deswegen gegen Polen Sanktionen verhängen, würden dem Land empfindliche Strafen oder zusätzliche Mittelkürzungen aus dem EU-haushalt drohen.
Die Frage ist, wie die polnische Dorfbevölkerung auf ein solches Szenarium reagieren wird. Es wäre naheliegend, die Kaczyński-Partei und ihre Regierung wegen ihrer Anti-EU-Politik für diese Entwicklung mitverantwortlich zu machen und sich von ihr abzuwenden. Doch dazu wird es nicht kommen. Man wird vielmehr im Verein mit PiS Brüssel die alleinige Schuld geben, deutet doch alles darauf hin, dass Kaczyńskis gegenüber der Europäischen Union feindliche Politik von der Landbevölkerung geteilt wird. So waren beispielsweise im Vorfeld der Selbstverwaltungswahlen bei Bauernveranstaltungen Plakate mit der Losung zu sehen „Unfrei in der EU“.
Was hält Polen angesichts dieses Befundes noch in der Europäischen Union? Es sind für PiS wie für die bäuerliche Gesellschaft allem Anschein nach einzig und allein die bislang reichlich fließenden EU-Fördermittel. Der Schluss liegt daher nahe, dass mit dem Tag, an dem man sich darüber klar wird, dass diese Quelle zum Versiegen kommt, der Anfang vom Ende der EU-Mitgliedschaft Polens gekommen ist.
Quelle: Marek Rabij, Polska nowa wieś (Das neue polnische Dorf), Tygodnik Powszechny v. 12. 08. 2018, S. 10 – 14; Prof. Jerzy Wilkin, Maść na Brukselę (Salbe für Brüssel), ebd., S. 14 – 17.
Vor allem in der deutschen Reiseliteratur jener Zeit findet sich ganz im Sinne des Stereotyps „Polnische Wirtschaft“ die Beschreibung der elenden Kuhdörfer, so etwa in einem, selbst ins Polnische übersetzten Reisebericht von F. A. F. Greveniz von 1818. Dort heißt es u. a.: Schiefe Hütten, Gärten ohne Zaun und Bäume […], fehlende Aufklärung, Dreck, Säuferei und das verschiedenste Elend.“ Hier zitiert nach Hubert Orłowski, „Polnische Wirtschaft“. Zum deutschen Polendiskurs der Neuzeit, Wiesbaden 1996, S. 322.