Konturen einer neuen polnischen Europapolitik
Die Europapolitik der nationalkonservativen Regierung unter Ministerpräsidentin Beata Szydło und Außenminister Witold Waszczykowski war defensiv ausgerichtet. Immer wieder sah sie sich durch wiederholte Ermahnungen der EU-Kommission wegen ihrer Verletzung demokratischer Grundprinzipien zur Verteidigung genötigt. Dabei sparten beide, von den staatlichen Medien unterstützt, nicht mit aggressiven Abwehrreaktionen: Es sei an der Zeit, „von den Knien aufzustehen“ und sich „jede Einmischung in innere Angelegenheiten des Staates zu verbieten“. Der EU-Kommission und der Berliner Republik als stärkste Kraft innerhalb der Europäischen Union wurden unterstellt, Polen ihrer Dominanz zu unterwerfen. Unter dem Eindruck einer europafeindlichen Propaganda mehrten sich in der Gesellschaft die Stimmen, die es für besser hielten, „unabhängig und arm“ zu sein, als, wie so oft in Polens Geschichte, unter „fremde Herrschaft“ zu geraten.
Euroapolitische Neujahrsansprache des polnischen Präsidenten
Mit der eine Charmeoffensive einleitenden Regierungsumbildung zeichnet sich auch eine veränderte Europapolitik ab. Ihre Konturen wurden erstmals in der vor dem diplomatischen Korps gehaltenen Neujahrsansprache von Präsident Andrzej Duda sichtbar. Zum Ausgangspunkt seiner Rede wählte er den diesjährigen 100. Jahrestag der Unabhängigkeit Polens. Man habe „den günstigen historischen Augenblick“ genutzt, der sich mit dem Ende des Ersten Weltkriegs ergab. Doch nicht nur Polen habe damals die Unabhängigkeit erlangt, sondern Mitteleuropa insgesamt. 1918 sei „ein Jahr des Triumphes der Freiheit und der Souveränität in Mitteleuropa“ gewesen. Der heutige Charakter Mitteleuropas „als ein Mosaik von Nationalstaaten zwischen Ostsee, Adriaküste und Schwarzem Meer“ sei als ein Erbe jenes Kriegsausgangs anzusehen.
Für Präsident Duda ist dies keine bloße Beschreibung der politischen Neuordnung Mitteleuropas. Er greift vielmehr, wenn auch unter einem anderen Vorzeichen, eine Debatte wieder auf, die seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre in Hinblick auf eine Aufnahme mitteleuropäischer Staaten in die europäische Gemeinschaft geführt wurde.
„Zurück nach Europa“
In seinem Text „Unser Europa“ (1986) hob Czesław Miłosz die Geschichtsverbundenheit der Mitteleuropäer als ihr Spezifikum hervor. Milan Kundera beklagte in seinem Essay „Die Tragödie Europas“ (1986) die Zerstörung dieses multikulturellen Raums durch seine Sowjetisierung. Als dann die Erosion der kommunistischen Regime immer deutlicher wurde, lautete das Motto in den mitteleuropäischen Ländern „zurück nach Europa“, verstanden als Protestbegriff gegen die Hegemonie der Sowjetunion. Ein Motto der Befreiung also. Eine Forderung, die auf eine Revision der Nachkriegsordnung hinauslief, auf eine Überwindung der Spaltung Europas. Ein Begriff, unter dem diese Völker ihre Zugehörigkeit zum westlichen Europa anmeldeten, von dem sie ohne eigene Schuld, wohl aber durch westliche Mitschuld, amputiert worden waren, wobei hintergründig auch eine in diesen Ländern seit Jahrhunderten lebendige Tradition eines „Verrats Europas“ an seinen östlichen Randstaaten durchaus spürbar war. Bereits damals wurde dieses die kulturell-politische Situation Mitteleuropas verkürzende Motto von östlichen Intellektuellen und Politikern kritisiert. Tadeusz Mazowiecki, der erste Ministerpräsident Polens nach der europäischen Wende, sprach am 30. Januar 1990 in seiner Rede vor dem Europarat davon, dass „Rückkehr nach Europa“ den gegenwärtigen Prozess nur unzureichend kennzeichne und man „von einer Wiedergeburt Europas reden“ müsse, „das im Grunde seit den Beschlüssen von Jalta aufgehört hatte zu existieren.“ Er fragt sodann, was Polen neben seiner „Schwäche“ auch an „Stärke“ in die europäische Gemeinschaft einzubringen habe. Als Antwort verweist er auf die Erfahrungen unter dem totalitären System, auf die Kräfte, die es ermöglichten, diese Zeit zu überstehen. Wörtlich erklärte er: „Wir kennen den Preis für das, was Europa ist, für die europäische Norm, deren Erben heute die Bewohner des Westens sind, ohne eine Erbschaftssteuer entrichten zu müssen.“
Als sich die Perspektive einer Aufnahme mitteleuropäischer Staaten in die europäische Gemeinschaft eröffnete, hatte das Motto „zurück nach Europa“ ausgedient. Ersetzt wurde es durch den Terminus „Osterweiterung“. Mit diesem Austausch der Begriffe war ein Perspektivwechsel verbunden: Es ging nun um die Realisierung eines wirtschaftlichen und politisch-institutionellen Modernisierungsprozesses der Integration unter dem Primat Westeuropas. Damit war, wenngleich zunächst verdeckt, in Mitteleuropa ein Konflikt zwischen Modernisierung und nationaler Identität verbunden, der gegenwärtig einerseits in den mitteleuropäischen Staaten, zumal in Polen und Ungarn, ausgetragen wird sowie andererseits die Ost-West-Beziehungen innerhalb der Europäischen Union belastet und inzwischen selbst in den westlichen Ländern mit dem Aufkommen rechtsnationaler Strömungen und Parteien in Erscheinung tritt. Nun rächt es sich, dass es in der Vergangenheit kaum einen ernsthafter Europadialog zwischen mitteleuropäischen und westlichen Intellektuellen und Politikern gegeben hat.
Präsident Andrzej Duda fordert einen Europadialog
Dieser in der Vergangenheit vernachlässigte Europadialog wird nun vom polnischen Präsidenten eingefordert. Er müsse den Ausgangspunkt einer „Diskussion um die Zukunft Europas bilden“; eine Diskussion auf der Grundlage der vor 100 Jahren gewonnenen Erfahrungen „eines souveränen Mitteleuropa“, dessen Nationen damals ihre Unabhängigkeit von den sie beherrschenden Großmächten gewannen und ihre Nationalstaaten errichten konnten. Doch mit dieser gewonnenen Unabhängigkeit verbindet sich das Trauma ihres möglichen Verlustes. Und dies zumal, weil sie in diesen hundert Jahren infolge des Zweiten Weltkriegs und der ihm folgenden Sowjetisierung wieder verloren ging. Daraus resultiert die in nationalkonservativen und mehr noch in nationalistischen Kreisen und Parteien verbreitete Aversion gegen die Europäische Union. Auch wenn Duda sie nicht eigens beim Namen nennt, so zielt doch seine Aussage, „Europa verliert, wenn es dem Konzert der Großmächte und ihrer Dominanz unterworfen wird und es gewinnt Frieden und Bedingungen wirtschaftlicher Entwicklung, wenn es aus dem Reichtum all seiner Nationen und Staaten schöpfen kann“, gegen ein europäisches Gebilde, bei dem im fernen Brüssel Entscheidungen getroffen werden, welche die Souveränität Polens und der anderen mitteleuropäischen Staaten betreffen und von ihnen akzeptiert werden müssen.
Damit wird ein Europaverständnis deutlich, das dem Frankreichs und Deutschlands diametral entgegen gesetzt ist. Während die beiden Führungsmächte in der EU den Integrationsprozess weiter vorantreiben wollen, um ein starkes Europa zu schaffen, das in der Welt Gewicht hat, beschwört Duda als Gegenreaktion auf eine verstärkte Integration die Gefahr einer „Dekomposition“. Der Brexit sei ein Warnsignal. Und auch sonst würden sich bereits innerhalb der EU Ansätze eines Zersetzungsprozesses zeigen. Ihm mit der Vorstellung „zweier Geschwindigkeiten“ begegnen zu wollen, sei keine Lösung. „Wir wollen, dass Europa sich harmonisch entwickelt.“ Dazu gehöre, dass „die Teilungen zwischen Nord und Süd, Ost und West, Zentrum und Peripherie ein Ende finden.“
Indem der polnische Präsident die „Dekomposition“ gleichsam vorweg nimmt, spricht er sich für eine „Reintegration“ der europäischen Nationalstaaten aus. Dabei bleibt freilich unklar, wie mit ihr die von ihm angesprochenen Teilungen überwunden werden können. Auch sonst bleiben seine Aussagen vage oder fordern etwas, das für die Europäische Union ohnehin gilt: „Einheit, Solidarität und Gleichheit aller Mitgliedstaaten“ als ihre unverzichtbare Grundlage, wobei anzumerken ist, dass Polen Solidarität in der Flüchtlingsfrage bekannter Weise verweigert, deren Lösung er im Übrigen einfordert. Doch auch hier fehlt es an konkreten Vorschlägen. Nichts Neues ist auch sein Bekenntnis zu den wirtschaftlichen Vorteilen der EU mittels einer „vernünftigen Reintegration durch Stärkung des europäischen Marktes“ sowie durch Wahrung der „Vier Freiheiten“ (Waren, Personen, Dienstleistungen, Kapital).
Konflikt im Werteverständnis
Die vom polnischen Präsidenten geforderte Reintegration ist grundsätzlicher Art. Sie betrifft die bereits erwähnten unterschiedlichen Geschichtserfahrungen zwischen West- und Mitteleuropa sowie das mit ihnen in einem engen Zusammenhang stehende Werteverständnis: Reintegration verlange „vor allem die Rückkehr einer wahren Hierarchie der Werte im sozialen Leben. Keine ideologischen und politischen Beschwörungen, sondern wahre Werte, auf denen die jahrhundertlange Identität Europas basiert. Europa ist nicht das Werk heutiger Politiker, Europa ist uns durch Generationen europäischer Nationen anvertraut, die Europas schwierige, aber faszinierende Geschichte schufen. Wer meint, er habe das Monopol über die Definition, was Europa ist, ohne nach der Ansicht anderer zu fragen und ihre Gründe zu berücksichtigen, der ist ein Usurpator der europäischen Idee und kein Reformator.“ Der hier angesprochene Konflikt ist nicht neu. Er trat bereits bei der Entscheidung zutage, ob Polen überhaupt der Europäischen Union beitreten solle oder nicht. Man sah, insbesondere innerhalb der einflussreichen katholischen Kirche, im weitgehend laizistischen und liberalen westlichen Europa die eigenen Werte nicht akzeptiert, ja im Falle eines EU-Beitritts im eigenen Land gefährdet.
Bezeichnend ist eine Äußerung von Primas Józef Glemp zum EU-Beitritts Polens aus dem Jahr 1995: „Sollen wir einem imaginären Europa beitreten, mit legalisierter Abtreibung, mit Verletzung der Prinzipien des Christentums, mit Geringschätzung von Ehe und Familie? Stehen derlei Bedingungen nicht im Widerspruch zu unserer Unabhängigkeit, unserer Identität?“ Hinter diesen Fragen verbirgt sich das Unverständnis gegenüber einer von der westlichen Aufklärung geprägten Sozialordnung, wobei leicht übersehen wird, dass diese durchaus durch säkulare Grundwerte bestimmt ist, die ihren Ursprung in jüdisch-christlichen Maximen besitzen. Erst unter dem Einfluss des Hildesheimer Bischofs Josef Homeyer, der damals den deutschen Episkopat in der Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft (ComECE) als ihr Präsident vertreten hat, gelang es, den polnischen Episkopat umzustimmen.
Mit dem Dokument des Polnischen Episkopats zum EU-Beitritt ihres Landes vom 21. März 2002 war der innerkirchliche Klärungsprozess abgeschlossen. Darin betonen die Bischöfe ihre Zuversicht, dass Polen mit seinem Beitritt zur Europäischen Union nichts von seiner „christlichen Tradition und Identität“ einbüßt; sie hoffen vielmehr, „die reiche, kulturelle, religiöse und geistige ‘Mitgift’ unserer Nation […] mit anderen Völkern unseres Kontinents teilen zu können.“
Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Im Gegenteil: Indem westliche laizistische Strömungen auch auf Polen übergriffen, kam es zu der befürchteten Einbuße an „christlicher Tradition und Identität“. Dies führte in der Endphase der von der Bürgerplattform geführten Regierung zu einem von Kaczyńskis nationalkonservativen Oppositionspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) unterstützten Kulturkampf, in dem die Kirche alle Anstrengungen unternahm, die Ratifizierung der dem Schutz von Frauen vor häuslichere Gewalt dienenden Istanbuler Konvention sowie eine gesetzliche Regelung künstlicher Befruchtung zu verhindern und vor den Einflüssen des „Genderismus“ eindringlich zu warnen.
Zudem trat angesichts des sich vollziehenden Integrationsprozesses unter den prowestlichen polnischen Regierungen nach 1989 die Betonung nationaler Unabhängigkeit in den Hintergrund. Und ihre Geschichtspolitik war weniger darauf ausgerichtet, die Erinnerung an das in der Vergangenheit erfahrene Martyrium der Nation zu wahren, sondern mehr die bislang nicht aufgearbeiteten Schatten polnischer Geschichte bewusst zu machen. Die Kaczyński-Partei und ihre Regierung sehen darin eine von ihnen abgelehnte „Pädagogik der Scham“ und betonen ihr gegenüber stark die nationalen Werte wie Heroismus, Stolz und Unabhängigkeit.
Allerdings bedarf zumal der auch von Präsident Duda hervorgehobene Rückgriff auf die Unabhängigkeit einer kritischen Reflexion, ist diese doch mit dem Trauma ihres möglichen Verlustes verbunden. Die Folge ist, dass man überall Feinde wittert, gegen die es zu kämpfen gilt. Daraus resultiert die aggressive Rhetorik der Regierung und der ihr nahestehenden Medien, mehr noch die der nationalistischen Gruppierungen, die sich im Namen des „Patriotismus“ gegen eine angeblich drohende Islamisierung sowie gegen europäische Institutionen richtet, die – wie man glaubt – eine die Unabhängigkeit Polens missachtende Dominanz anstreben.
Verhältnis zu den europäischen Institutionen
Das Verhältnis der nationalkonservativen Regierung zu den Institutionen der Europäischen Union ist äußerst gespannt: Deren Entscheidungen werden von ihr nicht akzeptiert, demokratische Grundprinzipien durch die Justizreform verletzt. Dabei geht es im Kern um einen von Kaczyński und der Regierung vertretenen „imposybilizm prawny“, also um die Unmöglichkeit, durch das Recht die „wahren nationalen Werte“ zu verwirklichen. Die Konsequenz einer solchen Staatstheorie ist u. a. die weitgehende Entmachtung der Richter aufgrund der Justizreform. Nunmehr sind es die politischen Instanzen von Parlament, Justizminister und Präsident, denen vor allem eine rechtlich relevante Entscheidungskompetenz zukommt. Ein solcher „imposybilizm prawny“ ist mit dem in der Europäischen Union geltenden Rechtsverständnis unvereinbar. Daher die wiederholten Ermahnungen der Europäischen Kommission und schließlich die Einleitung eines Verfahrens nach Artikel 7 des EU-Vertrages.
Es versteht sich, dass Präsident Duda aufgrund der auch von ihm offenbar vertretenen staatstheoretischen Grundauffassung von PiS für eine weitgehende Beschränkung des Einflusses der EU-Institutionen plädiert: „Europa soll stark sein durch den Willen seiner Nationen, und die gemeinsamen Institutionen sollen diesem Willen dienen. Wenn wir diese Hierarchie umkehren und die Institutionen über die Nationen stellen, dann zerstören wir die wahre Ordnung der Dinge. Der Effekt einer solchen Verirrung ist eine Abkehr der Gesellschaften von der Idee eines geeinten Europa, die man leicht anhand der Wahlen feststellen kann, die in den alten Staaten der EU 2017 stattfanden. Die Institutionen der Europäischen Union sollen ihren Teil der Verantwortung für diese gesellschaftliche Enttäuschung über die Integration übernehmen und eine Analyse begangener Fehler vornehmen. Aufgabe der gemeinsamen Institutionen ist eine harmonische Politik und keine Brandmarkung, keine Spaltung und kein Antagonismus europäischer Nationen.“
Dem ersten Satz dieser Aussage kann man zustimmen: Die Europäische Union ist aus dem Willen ihrer Nationen hervorgegangen und wird von diesem Willen getragen. Das aber besagt auch, dass die Krisen innerhalb der EU in dem Maße zunehmen, in dem es an diesem Willen mangelt. Und zu dem guten Willen gehört vor allem die Bereitschaft, zugunsten der Institutionen auf einen Teil nationaler Souveränität zu verzichten. Diesen Verzicht wieder rückgängig zu machen, ist offenbar das Anliegen polnischer Europapolitik, wie die Aussagen des Präsidenten belegen. Beschlüsse der Brüsseler Institutionen sollen, so scheint es, nur dann umgesetzt werden, wenn sie dem eigenen nationalen Interesse dienen. Tun sie dies nicht, dann wird ihnen unter Berufung auf die nationale Souveränität jede Verbindlichkeit abgesprochen. Wer auf diese Weise die europäischen Institutionen der nationalen Souveränität unterordnet, der ist es, der eine „Umkehrung der Hierarchie“ vollzieht und die „wahre Ordnung“ Europas zerstört.
Der Hinweis des Präsidenten auf die 2017 stattgefundenen Wahlen mit ihrem Stimmenzuwachs rechtsnationaler Parteien bestätigt in der Tat eine teilweise „Abkehr der Gesellschaften von der Idee eines geeinten Europa“. Doch eine solche fortschreitende, auf die Schwächung europäischer Institutionen zielende Entwicklung dürfte kaum einer europäischen „Harmonie“ förderlich sein und einer „Spaltung“ sowie einem „Antagonismus europäischer Nationen“ keineswegs entgegenwirken. Das Gegenteil ist der Fall. Eine Schwächung der Institutionen bei gleichzeitiger Rücknahme nationalstaatlicher Souveränität macht kaum einen Ausgleich innereuropäischer Interessengegensätze leichter, sondern erschwert ihn eher. Schließlich ist die Europäische Gemeinschaft aus den Erfahrungen zweier unseren Kontinent verheerender Weltkriege hervorgegangen, die ihre Ursache in der Aufspaltung Europas in einzelne Nationalstaaten hatte und den Aufstieg nationalistischer, die Vorherrschaft in Europa anstrebender Kräfte erst ermöglichte. Ohne eine wirksame Integration mit entsprechend starken Institutionen dürften Friede und Wohlstand in Europa auf Dauer kaum gewährleistet sein.
Der polnische Präsident wünscht sich eine Europäische Union, in der kein Mitgliedstaat vom Entscheidungsprozess ausgeschlossen wird, „ohne Teilung in bessere und schlechtere, ohne Reglementierung des Stimmrechts.“ Er wünscht sich ein Europa „loyaler Zusammenarbeit“ unter Beachtung der „Prinzipien der Subsidiarität“. Doch wie sollen derlei Wünsche in Erfüllung gehen, wenn – wie im Falle der polnischen Regierung – die europäischen Standards permanent verletzt und Beschlüsse der EU-Kommission missachtet werden? Wenn man nach der arroganten Parole verfährt, „die brauchen uns“ und „die werden gegen uns nichts machen können“? Wenn die eingeforderte Solidarität verweigert und die staatliche Propaganda eine europafeindliche Stimmung in der Bevölkerung fördert? Wenn es kein Verfahren gegen Mitgliedstaaten geben soll, die trotz wiederholter Ermahnungen nicht bereit sind, sich an die für alle geltenden Regeln zu halten? Auf diese Fragen bleibt Präsident Duda in seiner Neujahrsansprache die Antwort schuldig.
Das Drei-Meere-Projekt
Der polnische Präsident hat sich in seiner Neujahrsansprache zum Anwalt des „Mosaiks von Nationalstaaten zwischen Ostsee, Adriaküste und Schwarzem Meer“ gemacht. Damit spielt er auf ein in Polens Geschichte vorgegebenes und von der nationalkonservativen Regierung aufgegriffenes Projekt an, das – sollte es verwirklicht werden – ein Gegengewicht Polens samt anderer Mitteleuropaländer gegen die westlichen EU-Staaten schaffen würde. Aber dieses Projekt könnte sich auch – immer seine Verwirklichung vorausgesetzt – als Sprengkraft der Gemeinschaft erweisen.
Anfänge zur Verwirklichung einer Föderation von Meer zu Meer sind bereits gemacht: Von der Weltöffentlichkeit kaum beachtet trafen sich im August 2016 im kroatischen Dubrovnik die Repräsentanten einer zwölf Staaten umfassenden „Drei-Meere-Initiative“. Mehr Aufmerksamkeit fand das zweite Gipfeltreffen dieser Art, das am 6./7. Juli 2017 in Warschau stattfand und mit dem Besuch von Präsident Donald Trump eine besondere Bedeutung erhielt.
Wenngleich es sich bei dieser Initiative vorerst nur um eine „informelle Plattform“ handelt, die dazu dienen soll, die wechselseitige Zusammenarbeit zu fördern, um – wie die Teilnehmer ausdrücklich betonten – dadurch die Europäische Union insgesamt zu stärken, so stellt sich doch die Frage, welches spezielle Interesse die polnische Politik an dieser Initiative hat. Sie drängt sich insbesondere deswegen auf, weil es einen durch die Jagiellonen Republik vermittelten Traum einer Föderation der Völker zwischen Ostsee und Schwarzem Meer unter polnischer Führung gibt. Ihr Territorium umfasste neben Polen und Litauen auch Lettland und Weißrussland sowie Teile von Estland, Moldawien, Rumänien; Russland und Ukraine. Doch aufgrund der drei Teilungen (1772, 1792, 1795) durch Österreich, Preußen und Russland erlebte die Jagiellonen Republik und spätere Adelsrepublik ihren Untergang. Es sollte bis nach dem Ersten Weltkrieg dauern, ehe Polen seine Unabhängigkeit und Eigenstaatlichkeit zurück erhielt – ein bis heute nachwirkendes Trauma, verbunden mit dem Traum einer Wiederkehr jener verlorenen Zeit, eines sich von Meer zu Meer erstreckenden Herrschaftsbereichs.
Mit der Wiedergeburt Polens nach dem Ersten Weltkrieg glaubte man, die Voraussetzung für eine an der Jagiellonen Republik orientierte Föderation schaffen zu können. Die polnischen Regierungen in den 1920er und 1930er Jahren ließen daher nichts unversucht, im Ostseeraum wie auf dem Balkan entsprechende Bündnisse zu schmieden. Aber die Interessengegensätze der Staaten „zwischen den Meeren“ waren zu groß, und die jeweilige außenpolitische Orientierung war zu unterschiedlich. Zudem traf die von Polen beanspruchte Führungsrolle bei den potentiellen Mitgliedern einer solchen Föderation auf wenig Zustimmung. Und das Polen der Zwischenkriegszeit besaß auch nicht das nötige politische, ökonomische und militärische Potenzial, um einem solchen Anspruch gerecht zu werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg und aufgrund der Beschlüsse von Jalta, durch die Polen seine Ostgebiete verlor und nach Westen verschoben wurde, schien der Traum von einer Föderation von Meer zu Meer endgültig ausgeträumt.
Mit dem Wahlsieg von PiS im Herbst 2015 ist nun, wie es scheint, der Drei-Meere-Traum zurückgekehrt. So versprach Außenminister Witold Waszczykowski zu Beginn seiner Amtszeit, in den Ländern Mitteleuropas aktiv zu werden und ihnen deutlich die Gefahren vor Augen zu führen, „die uns erwarten, wenn wir uns nicht vereinen und solidarisch sind.“ Damit beschwor er das Trauma eines Verlustes der unter Opfern errungenen Unabhängigkeit und nutzte die Angst zur Antriebskraft einer eventuellen von Meer zu Meer reichenden mitteleuropäischen Föderation. Und Besuch und Rede von Donald Trump auf der jüngsten Drei-Meere-Initiative verliehen der Idee einen weiteren Auftrieb.
Doch es fehlt in Polen nicht an Stimmen der Kritik. Wie bereits in der Vergangenheit, so verfüge auch heute das Land nicht über das nötige Potenzial, eine derartige Föderation voranzutreiben. Zudem würden, wie einst, einem politischen Bündnis die Interessengegensätze ihrer Mitgliedstaaten entgegenstehen. Nicht einmal die vier Visegrad- Staaten seien in ihren politischen Absichten einer Meinung: Ungarn, das Polen zwar in seinen Konflikten mit der EU-Kommission unterstützt, verfolge einen Kurs der Annäherung an Russland, durch das sich Polen bedroht fühle. Die Tschechische Republik und die Slowakei betrachteten ihrerseits eher mit Sorge die polnischen Profilierungsversuche innerhalb der Europäischen Gemeinschaft und befürchteten, eine von Polen angeführte mitteleuropäische Föderation könne sich am Ende als eine fatale Alternative zur EU erweisen.
Sollten derlei Befürchtungen Wirklichkeit werden, würde sich der Traum einer Föderation von Meer zu Meer letztlich als neuerliches Trauma herausstellen, dann nämlich, wenn die nationalkonservative Regierung mit der Drei-Meere-Initiative tatsächlich das Ziel der von ihr ersehnten Föderation erreichen und sich dadurch eine weitere Stärkung gegenüber der EU erhoffen würde. Eine solche Strategie wäre aller Voraussicht nach mit zahlreichen Konflikten verbunden. Letztendlich könnte sie zu einer Isolierung Polens führen, so dass mit dem Verlust des Traums am Ende allein das Trauma nationaler Existenzbedrohung übrig bliebe.
Kosciół - Polska - Unia Europejska, Gliwice o. J., S. 3.