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Der lange, beschwerliche Weg zum Runden Tisch

Das für die Einheit Deutschlands sowie für die mittel- und osteuropäischen Staaten schicksalhafte Jahr 1989 nahm seinen Anfang in Polen: Vom 06. Februar bis zum 05. April verhandelten am Runden Tisch Vertreter der kommunistischen Regierung und der Solidarność über notwendige Schritte, um das Land aus einer tiefen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Krise herauszuführen. Doch der Weg dorthin war lang und beschwerlich, musste doch die beide Seiten trennende abgrundtiefe Kluft überwunden werden. Mit Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1982 war die im August 1980 legalisierte unabhängige Gewerkschaft verboten und ihre Führer und Sympathisanten waren verhaftet worden. Doch die Solidarność wirkte weiter im Untergrund.

Bald nach dem 13. Dezember 1982 hatte der Gesellschaftliche Rat beim polnischen Primas einen Prozess der Verständigung zwischen den Machthabern und gesellschaftlichen Gruppierungen angemahnt. Darauf berief sich der Solidarność-Untergrund im Frühjahr 1982. Er forderte in seiner Erklärung neben der Wiederzulassung der Solidarność ein Ende der Repressionen sowie ein Reformprogramm zur Erneuerung des sozialen und wirtschaftlichen Lebens. Dieses Verhandlungsangebot hat die Gewerkschaft in den Folgejahren mehrfach wiederholt, doch es wurde stets von den kommunistischen Machthabern zurückgewiesen. Sie waren überzeugt, letztendlich die Krise durch kleine Zugeständnisse, doch ohne Beteiligung der Opposition lösen zu können. Um den gesellschaftlichen Druck auf Partei und Regierung zu mildern, erließen sie 1986 eine Amnestie, durch die die verhafteten Anhänger der Solidarność wieder frei kamen. Mit der Bildung eines Konsultativrates beim Vorsitzenden des Staatsrates Wojciech Jaruzelski verfolgten Partei und Regierung das Ziel, ausgewählte, mit der Solidarność verbundene Persönlichkeiten zur Mitarbeit zu bewegen und damit zugleich die Gewerkschaft zu schwächen. Doch derlei Bemühungen blieben erfolglos, und die Krise verschärfte sich weiter.

Derweil stärkte Lech Wałęsa in internen Auseinandersetzungen seine Position, indem er aus seinen Vertrauten einen Provisorischen Rat bildete, der 1987 durch eine Exekutivkommission abgelöst wurde. Auf diese Weise wollte er seitens der Gewerkschaft die Voraussetzungen für Verhandlungen mit der Regierung schaffen und über sie die Kontrolle behalten. Doch die Regierung zeigte weiterhin an Verhandlungen kein Interesse.

Dennoch lassen sich ab 1986 in der Führungsspitze der kommunistischen Partei erste Anzeichen einer wachsenden Verhandlungsbereitschaft erkennen. So erarbeiteten Analysten des Innenministeriums sowie ein spezielles Dreiergremium weitreichende Vorschläge zur Überwindung der Krise. Man versuchte, zur Verwirklichung dieser Pläne die Kirche zu gewinnen, nicht aber die Opposition. Das Vorhaben scheiterte, weil sich die Kirche unter dem Einfluss von Papst Johannes Paul II. und seiner Pilgerfahrt 1987 nach Polen zwar als Vermittlerin bereit erklärte, eine formelle Partnerschaft mit der Regierung aber ablehnte.

Als Vorsitzender des Staatsrates unternahm nun Jaruzelski einen letzten Versuch, durch ein Referendum eine breite Zustimmung der Bevölkerung zu dem mit einschneidenden Maßnahmen verbundenen Reformprogramm der Regierung zu erhalten. Es fand im November 1987 statt und scheiterte kläglich. Der kommunistischen Führung war damit klar, dass sie jegliches Vertrauen bei den Menschen verloren hatte und sie die Krise nicht aus eigener Kraft bewältigen konnte. Zudem wuchs der Druck auf die Regierung durch eine heftige Streikwelle im Frühjahr 1988 weiter. Wałęsa und die Exekutivkommission nutzten die Gelegenheit, die Regierung zum wiederholen Male zu Verhandlungen aufzufordern. Es kam erstmals zu einem Treffen beider Seiten. Die Regierungsvertreter signalisierten Verhandlungsbereitschaft, machten diese aber von der Beendigung der Streiks abhängig. Wiederum wurde die Kirche als Vermittlerin angefragt. Doch radikale Kräfte innerhalb des Parteiapparats inszenierten in Nowa Huta brutale Übergriffe auf Streikende, woraufhin der Episkopat mit großem Bedauern weitere Bemühungen um Dialog und Verständigung als chancenlos bezeichnete.

Doch man blieb im Gespräch. Nach Ende der Streiks unterbreitete die Regierung der Kirche ihre Reformvorschläge: Eine auch der Kirche zugutekommende Reform des Vereinsrechts; ein auf 65% begrenzter Anteil kommunistischer Abgeordneter im Sejm; die Einführung eines Senats unter Beteiligung der Opposition; schließlich die Möglichkeit zur Bildung einer Koalitionsregierung mit Vertretern des „konstruktiven“ Teils der Opposition. Ausgeschlossen aber blieb die Legalisierung der Solidarność. Im Juni 1988 sprach Jaruzelski erstmal von einem „Runden Tisch“.

Zwei Monate später kam es erneut zu einer großen Streikwelle, und dies unter der Losung „Keine Freiheit ohne Solidarność“. Sie zeigte Wirkung. Am 26. August machte Innenminister Czesław Kiszczak in einer Fernsehansprache das Angebot, am Runden Tisch Gespräche mit „Vertretern verschiedener gesellschaftlicher und politischer Gruppierungen“ aufzunehmen. Daraufhin trafen sich Kiszczak und Wałęsa. Bei diesem Treffen ging Wałęsa das Risiko ein, sich ohne Zusicherung der geforderten Legalisierung der Solidarność für ein Ende der Streiks auszusprechen. Er musste seine ganze Autorität einsetzen, um gegen den Widerstand radikaler Gruppen in den eigenen Reihen diese Entscheidung durchzusetzen. Wäre Wałęsa mit seiner Taktik gescheitert, hätte er sich kaum als Anführer der Solidarność halten können. Doch die Verhandlungen kamen in Gang. Es gab zwar seitens der Regierung einige Störmanöver, so dass der 17. Oktober als Termin des Verhandlungsbeginns nicht eingehalten werden konnte und der eigens für diesen Zweck angefertigte Runde Tisch vorerst ausgelagert werden musste.

In dieser Phase der Verzögerung war die vom Fernsehen übertragene Debatte wischen Lech Wałęsa und Konstanty Miodowicz, dem Chef der der kommunistischen Partei unterstellten Gewerkschaft, von entscheidender Bedeutung. Aus der von Millionen Polen verfolgten Debatte ging Wałęsa als klarer Sieger hervor. Nun musste sich die Parteiführung endgültig eingestehen, dass ein weiteres Taktieren sinnlos war und trotz erheblicher Widerstände im Parteiapparat die Aufnahme ernsthafter Gespräche mit der Solidarność unausweichlich war. Sie begannen am 06 Februar 1989 und dauerten acht Wochen. Die wichtigsten Übereinkünfte sind: Die Wiederzulassung der Solidarność, die Etablierung eines Staatspräsidentenamtes, freie Wahlen für den neu geschaffenen Senat sowie für 35% der Sitze im Sejm.

Die halbfreien Sejmwahlen fanden am 04. Juni 1989 statt. Von den 100 Senatssitzen fielen 99 auf Vertreter der Solidarność. Im Sejm gingen sämtliche Sitze der 35% in freier Wahl zu erringenden Sitze an Kandidaten der Solidarność. Den Kommunisten gelang es nicht einmal, für die Kandidaten ihrer Landesliste die erforderlichen Stimmen zu erhalten, so dass sie erst durch ein Zugeständnis der Solidarność im zweiten Wahlgang gewählt wurden. Der 04. Juni war somit mehr als ein Wahltag, er war faktisch ein Plebiszit für das Ende kommunistischer Herrschaft. Er ermöglichte die Bildung einer Regierung, wenngleich unter Einbezug einiger kommunistischer Minister, unter dem Oppositionellen Tadeusz Mazowiecki.

Der Streit um die Deutungshoheit

Bis weit in das neue Jahrtausend hinein galt der Runde Tisch fast unangefochten als Symbol für den Anfang vom Ende des Kommunismus, und dies nicht allein für Polen, sondern auch für die DDR und die einstigen sowjetischen Sattelitenstaaten Mittel- und Osteuropas. Doch mit ihrer Regierungsübernahme im Herbst 2015 stellt „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) diese Deutung radikal infrage. Für die Kaczyński-Partei seht der Runde Tisch für eine verratene Revolution und für die Ermöglichung der den nationalen Interessen widersprechenden „postkommunistischen“ III. Republik. Dabei beruft man sich auf die Auseinandersetzungen, die es 1988/89 innerhalb der Solidarność in der Tat gegeben hat: Wałęsas Entscheidung, 1988 ohne Zusicherung der Wiederzulassung der Solidarność die Streiks zu beenden; die von Wałęsa getroffene Auswahl der Vertreter der Solidarność für die Verhandlungen am Runden Tisch, die nicht das gesamte Spektrum der Gewerkschaft abdeckte und zumal den radikalen Flügel ausschloss; das Entgegenkommen im Falle der im ersten Wahlgang durchgefallenen Kandidaten der kommunistischen Landesliste; die Zulassung, dass der für die Verhängung des Kriegsrechts verantwortliche General Jaruzelski als Staatspräsident gewählt werden konnte; letztendlich der Verzicht, die Schwäche der Kommunisten voll auszunutzen, statt ihnen die Möglichkeit zu weiterer politischer Tätigkeit zu eröffnen. All diese Kritikpunkte dienen heute PiS dazu, die Deutungshoheit über den Runden Tisch zu gewinnen. Dabei bleiben jene Argumente, die für diesen friedlichen Machtwechsel sprechen, unbeachtet. So die Tatsache, dass sich dieser Machtwechsel noch unter den Bedingungen der Zugehörigkeit Polens zum Warschauer Pakt vollzog und die Kommunisten in Polen immer noch die Kontrolle über die Armee und die Sicherheitskräfte besaßen. Nach den Erfahrungen des Kriegsrechts war die Möglichkeit eines Bürgerkrieges nicht von der Hand zu weisen, falls – wie sich dies PiS heute gewünscht hätte – die Macht nicht durch Verhandlungen, sondern durch eine Revolution errungen worden wäre.

Was PiS m mit ihrer Deutung des Runden Tisches und seiner Folgen erreicht hat, ist eine tiefe Spaltung des historischen Bewusstseins der Gesellschaft, und dies in einer für das Selbstverständnis der polnischen Nation entscheidenden Frage. Ob diese nationale Wunde durch eine objektive Wertung der Fakten zu heilen ist, erscheint – zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt – äußerst fraglich.

Quelle: £ukasz Kamiński, Okrągły Stół: Jak było (Der Runde Tisch. Wie es war), Tygodnik Powszechny v. 03. 02. 2019, S. 58-61.

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