Der Pole als homo politicus
In den Jahren 2010 - 2014 gab es eine umfangreiche soziologische Untersuchung, um herauszufinden, welche politischen Grundeinstellungen von Polen vertreten werden. Die Ergebnisse liegen in dem 2018 erschienenen Sammelband „Doktrina Polaków. Klasyczna filosofia politiczna w dyskursie potoczym (Doktrin der Polen. Die klassische politische Philosophie im alltäglichen Diskurs) vor. Als einer der Mitautoren erläuterte Prof. Dr. Krzysztof Zagórski in einem dem „Tygodnik Powszechny“ erteilten Interview (9/2019 v. 03. 03. 2019) die Forschungsergebnisse.
Das Forschungsinteresse der Soziologen war nicht darauf gerichtet zu erkunden, an welchen Modellen sich Polen beim gesellschaftlichen und staatlichen Neuaufbau nach dem Ende des Kommunismus orientiert hat, ob der Transformationsprozess mehr von der bundesdeutschen sozialen Marktwirtschaft bestimmt war oder der freie Markt des amerikanischen Kapitalismus als Vorbild diente. „Wir wollten erforschen – heißt es in dem Interview von Prof. Zagórski – wie die hauptsächlichen Strömungen der klassischen politischen Philosophie im alltäglichen Denken der Gesellschaft in Erscheinung treten, die sich in keiner Weise mit dem klassischen gesellschaftspolitischen Denken befasst.“
Die Untersuchungen ergeben, dass sich der polnische homo politicus nicht auf bekannten stereotypen Formeln reduzieren lässt. Versuche, die Polen als erzkonservativ oder überaus freiheitsliebend zu charakterisieren, verfehlen die Problematik ebenso wie die beliebte Gleichsetzung von Pole und Katholik.
Das Staatsverständnis
Was den Staat betrifft, so sehen die Polen in ihm eine natürliche menschliche Daseinsform. Er ist ein der Gesellschaft immanentes Charakteristikum. Gleiches gilt von der staatlichen Macht. Sie stellt als solche kein Problem dar und wird von 85% der Polen grundsätzlich bejaht, dies allerdings unter der Voraussetzung, dass ihr eine organisierende und koordinierende Rolle zukommt. Dabei wird selten der kritische Aspekt der Macht betont, nämlich die Möglichkeit, dass die Interessen der regierenden Elite mittels ihrer Macht verwirklicht werden, und dies auf Kosten der schwächeren Glieder der Gesellschaft.
Stark betont wird dagegen die Verpflichtung des Staates den Bürgern gegenüber. Einerseits zeigen die Aussagen eine deutliche Tendenz zu einer liberalen Demokratie, andererseits wünschen sich die Polen in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht einen starken Staat und neigen damit zum Etatismus.
Die Liberalität der Polen findet darin ihren Ausdruck, dass sie jede staatliche Einmischung und jede staatliche Bevormundung im Bereich ihrer bürgerlichen Freiheiten strikt ablehnen. So verwahren sich 90% gegen Eingriffe des Staates in die Meinungsfreiheit und gegen vom Staat verhängte moralische Verbote. Bedeutsam ist, dass angesichts der im katholischen Polen immer wieder von kirchlichen Kreisen angestoßenen Debatten um ein absolutes Abtreibungsverbot sich lediglich 11% für eine verschärfte Gesetzgebung aussprechen. Auch ein Verbot von homosexuellen Partnerschaften, für die es bislang in Polen keine gesetzliche Regelung gibt, findet nur bei einer Minderheit von 24% Unterstützung.
Weiter zeigt sich, dass die Bekenntnis- und Meinungsfreiheit bei den Polen hochgeschätzt wird. 90% verlangen ein uneingeschränktes Recht, offiziellen Ansichten widersprechen zu dürfen, und jeder vom Staat ausgeübte bekenntniszwang wird in gleicher Weise abgelehnt. Den absoluten Schutz der Privatsphäre verlangt eine erdrückende Mehrheit. 80% akzeptiert weder eine Briefzensur, noch das Abhören von Telefonaten und auch nicht die Einschränkung der Reisefreiheit.
Auch das Demonstrations- und Streikrecht sowie die Versammlungsfreiheit wollen die Polen vom Staat garantiert haben. 60-70% akzeptiert in diesem Bereich keinerlei einschränkende staatliche Verbote. Allerdings hatten zu diesem Punkt viele keine eigene Meinung. Doch nur eine verschwindende Minderheit sprach sich dafür aus, dass der Staat diese Freiheitsrechte beschneiden darf.
Interessant ist auch das Ergebnis der Befragung zum Handel an Sonntagen. Die sonntäglichen Öffnungszeiten der großen Einkaufzentren erfreuen sich unter Polen großer Beliebtheit. Und dies selbst unter den Kirchgängern, die morgens den Gottesdienst besuchen und den Nachmittag gerne in den Konsumtempeln verbringen. 75% der Befragten war gegen ein Verbot des Sonntagshandels, für das sich neben der Kirche auch die Gewerkschaft einsetzt. Mit der Regierungsübernahme durch die nationalkonservative PiS im Herbst 2015 wurde die Zahl der verkaufsoffenen Sonntage stark reduziert. Neueste Umfragen zeigen, dass nur 19% der Polen es begrüßen würden, wenn an jedem Sonntag die Geschäfte geschlossen blieben, während sich 36% trotz der gesetzlichen Verbote den Handel an jedem Sonntag im Jahr wünschen.
Angesichts der in Polen mit harten Bandagen geführten politischen Auseinandersetzungen, die keine Gegner, sondern nur Feinde kennen, ist ein Ergebnis von besonderer Bedeutung. Die übertriebene Schärfe politischer Polemik, die in den Medien ihren Neiderschlag findet, ist für die sprichwörtliche schweigende Mehrheit nicht repräsentativ.
Unter dem Aspekt der Freiheitsrechte sprechen sich die Polen somit für einen Staat aus, der gegenüber den Bürgern eine dienende Funktion ausüben und sich nicht als ein über sie verfügendes Herrschaftssystem erweisen soll. In dieser Hinsicht entspricht der polnische homo politicus den Ideen von David Hume (1711-1776).
Ambivalente Einstellung zum Privateigentum
Während die Polen einerseits auf ihre bürgerlichen Freiheiten bestehen, verlangen sie anderseits einen sozialen Wohlfahrtsstaat. Dies wird an ihrer Einstellung zum Eigentum deutlich. Entsprechend der liberalen Position, wie sie beispielweise von dem Ökonomen Friedrich August von Hayek (1899-1992) vertreten wurde, ist das Privateigentum Fundament und Garant aller sonstigen Freiheiten, während es nach dem marxistischen Verständnis die Quelle aller sozialen Übel ist.
Was in der Theorie als ein unüberbrückbarer Gegensatz erscheint, weiß der polnische homo politicus zu einer Einheit zu verbinden. Über 90% sehen im Eigentum ein Naturrecht, das dem Menschen Sicherheit und Freiheit ermöglicht. 81% treten für eine uneingeschränkte Vererbung ein und sprechen sich damit gegen jede Form von Erbschaftssteuer aus. Doch nur jeder Dritte ist überzeugt, dass das Privateigentum die Grundlage einer gut funktionierenden Wirtschaft ist – und dies nach den negativen Erfahrungen mit der umfassenden Verstaatlichung der Produktionsmittel und der Planwirtschaft im kommunistischen Polen. Entsprechend wünscht eine überwiegende Mehrheit eine Vergesellschaftung verschiedener Wirtschaftszweige wie Energieversorgung, Bergbau, Krankenhäuser und Wälder.
Die Hälfte der Befragten äußerte eine deutliche Skepsis den Unternehmern gegenüber. Sie würden zu leicht reich werden. Je mehr Privateigentum, umso mehr Egoismus und Konkurrenzdenken sowie eine Schwächung der sozialen Bande in der Gesellschaft. Diese Skepsis zeigt sich auch in der Einstellung zur Steuerpolitik. Wenngleich die Auffassung der Polen zu dieser Frage nicht eigens ermittelt wurde, so folgert doch aus anderen Untersuchungen der Autoren dieses Sammelbandes, dass die Mehrheit der Polen der Überzeugung ist, die Reichen würden zu wenig Steuern zahlen und damit zu wenig zum Gemeinwohl beitragen. Andererseits sind 2/3 der Befragten dafür, dass der Staat schwachen Unternehmen, egal ob privat oder staatlich, helfen solle.
Anhand der Forschungsergebnisse kommt Prof. Zagórski zu dem Schluss, dass „von einem Kult des Privateigentums in der polnischen politischen Doktrin keine Rede sein kann. Es wird akzeptiert, aber es erschreckt uns. Viele von uns suchen instinktiv nach Mechanismen, die die Macht des Privateigentums zähmen.“
Plädoyer für einen Wohlfahrtstaat
Die Untersuchungen fielen in die Endphase der von der liberalkonservativen Bürgerplattform (PO) geführten Regierung. Entsprechend ihrer liberalen Grundüberzeugung stand die soziale Fürsorge für die Bürger nicht im Vordergrund ihres politischen Handelns. Ihre Überzeugung war, dass das Wirtschaftswachstum allen zugutekomme und damit das beste Mittel sei, Armut zu bekämpfen. Daher wurde, was die Presse scharf kritisierte, versäumt, sich der Nöte der Transformationsverlierer durch entsprechende Sozialmaßnahen ernsthaft anzunehmen. Dies ist im Übrigen einer der Gründe, warum die Liberalkonservativen 2015 nicht wiedergewählt wurden und die Nationalkonservativen mit ihren sozialen Versprechungen die Regierung übernehmen konnten.
Die Umfragen ergaben denn auch, dass 88% der Befragten der Meinung sind, es sei eine vorrangige Pflicht des Staates, die Bedürfnisse seiner Bürger zu befriedigen. Eben diese Forderung erfüllt die PiS-Regierung mit ihrem umfassenden Sozialprogramm: Ab dem zweiten Kind erhält jede Familie zusätzlich 500 Zł., wovon vor allem kinderreiche Familien profitieren; der von der Vorgängerregierung angehobene Renteneintritt wurde wieder zurückgenommen; mit Beginn des neues Schuljahrs zahlt der Staat jedem Kind 300 Zł.; ein umfangreiches Programm des sozialen Wohnungsbaus wurde beschlossen, um Geringverdienern die Mietzahlungen zu erleichtern; demnächst sollen die 500 Zł. bereits ab dem ersten Kind gezahlt und die Summe möglicherweise erhöht werden; Rentner und Rentnerinnen können sich freuen, unmittelbar vor den Europawahlen eine 13. Rentenzahlung zu erhalten. Diese Sozialleistungen sind denn auch der Hauptgrund für die hohe Zustimmung der Bevölkerung für PiS trotz ihrer Verletzungen demokratischer Grundprinzipien wie die praktische Aufhebung der Gewaltenteilung durch die Justizreform. Sie werden ihre Wirkung sicher nicht verfehlen.
Ein zwiespältiges Verständnis der Nation
Angesichts eines in Polen zunehmenden fremdenfeindlichen Nationalismus ist die Frage von besonderem Interesse, was der polnische homo politicus unter Nation versteht. Etwas vereinfacht gesagt gibt es bezüglich der Nation zwei Grundüberzeugungen: Die auf Aristoteles zurückgehende Auffassung, wonach der Begriff der Nation durch den gemeinsamen Siedlungsraum sowie durch die gemeinsame Geschichte und Kultur bestimmt wird. Wer in eine solche Gemeinschaft hineingeboren wird, der ist – unabhängig von seiner ethnischen Herkunft – Glied der Nation und Bürger des Staates. Im Gegensatz dazu gibt es das auf Blut, Religion, ja auf Rasse basierendes Verständnis der Nation, das jeden von der Gemeinschaft ausschließt, der diese Kriterien nicht erfüllt. Er bleibt in ihr ein Fremder, und dies selbst dann, wenn er die Staatsbürgerschaft besitzt.
Ähnlich wie beim Eigentum ergeben die Untersuchungen zum Verständnis der Nation, dass das, was in der Theorie als Widerspruch erscheint, sich in der Praxis gelebten Lebens zu einer Einheit fügt. Zwar überwiegt unter Polen die aristotelische Auffassung von der Nation gegenüber der ethnisch-nationalistischen, doch der Unterschied ist nicht gravierend, so dass beide Sichtweisen parallel und oft gleichzeitig vertreten werden.
Damit wird deutlich, dass die Tendenz zu einem ethnischen Verständnis der Nation bereits vor dem Regierungsantritt der Nationalkonservativen in der Bevölkerung verbreitet war. Interessant wäre es zu untersuchen, ob und in wieweit sich der Begriff der Nation unter der PiS-Regierung zugunsten eines stark ethnisch bestimmten Verständnisses verschoben hat.
Zusammenfassend stellt Prof. Zagórski fest. „Wesentliches Element der Doktrin des Polen ist der klassische Republikanismus, also die starke Überzeugung vom Primat des Gemeinwohls und der dienenden Rolle der Regierung. Es gibt den liberalen Widerstand gegen einen Missbrauch der Macht, und es gibt den Glauben, dass die Bürger ihre Regierenden kontrollieren müssen. Zu sehen ist allerdings auch eine gewisse soziale Angst vor einer Atomisierung der Gesellschaft aufgrund des Privateigentums. Hinzu kommt ein ziemlicher Etatismus sowie eine Skepsis gegenüber dem freien Markt, verbunden mit der Hoffnung, dass man bis zu einem gewissen Grad dennoch dem Markt vertrauen kann und im gewissen Maße Aktivitäten in der Erwartung billigt, dass die Moral den Egoismus zu zähmen vermag. Hier zeigt sich eine Nähe zur katholischen Soziallehre.“
Quelle: Prof. Krzysztoof Zagórski, Poszukiwacze sprzeczności (Dem Widerspruch auf die Spur kommen), Tygodnik Powszechny v. 03. 03. 2019.