Keine harmlose Gymnastik
- Theo Mechtenberg
- 8. Juli 2019
- 5 Min. Lesezeit
„Mens sana in corpore sano“. Diese verkürzte, ursprünglich als Gebetsbitte formulierte Sentenz des römischen Dichters Juvenal gilt seit Jahrhunderten als Leitmotiv eines gesunden, die Gesundheit fördernden Lebens. Dass allerdings die tägliche Gymnastik ganz anderen Zielen dienen kann, zeigt eine Bewegung, die – von Russland kommend – sich seit 2015 in Polen ausbreitet. Diese „slawische Gymnastik“ wird vor allem in den Städten von Frauen der Mittelschicht praktiziert. Es handelt sich um ein System von 27 psychophysischen Übungen. Sie sollen den gesamten Organismus beleben, den Menstruationszyklus regeln, die Blutwerte verbessern, den Rücken stärken, die Schwangerschaft erleichtern und für ein problemloses Gebären sorgen. Vor allem aber sollen die sich dieser Übungen unterziehenden Frauen zu sich selbst finden, zu ihrer Fraulichkeit und zu ihrem Slawentum.
Glaubt man den Frauen, die sich im Internet über ihre Erfahrungen mit dieser Methode austauschen, dann verfehlt sie ihre Wirkung nicht. „Auf magische Weise – äußerst sich eine im Netz – beruhigt sie den Geist, ermöglicht es, im Hier und Jetzt zu sein. Ein herrliches Gefühl. Zudem habe ich den Eindruck, dass mein Körper mit jeder Übung mehr vermag.“
Auch die Medien interessieren sich inzwischen für die „slawische Gymnastik“. Im Morgenmagazin des staatlichen Fernsehens trat kürzlich eine Trainerin auf und erklärte, diese Methode habe ihren Ursprung in der heimischen Tradition und sei damit für alle Slawinnen ideal. Seit Neuestem befasst sich selbst die Wissenschaft mit ihr. Die Immunologische Abteilung der Posener Medizinischen Hochschule verfolgt z. Zt. ein Projekt, das als erstes in der Welt „die Effekte dieser Gymnastik medizinisch-diagnostisch untersucht.“
Die Suggestion eines irrealen Slawentums
Was ist slawisch an dieser Gymnastik? Sehr nebulös wird ihre Methode auf slawische Legenden und mündliche Überlieferungen der Vorfahren zurückgeführt. Einen wissenschaftlichen Anschein verleiht ihr der Weißrusse Giennadij Adamowicz mit seinem Buch „Gymnastik der Zauberinnen“. Der Autor greift zurück auf das „Buch Welesa“, das unter Slawophilen in Russland, Weißrussland und der Ukraine geradezu als Bibel des Slawentums gilt und seit 2016 auch in polnischer Übersetzung vorliegt. Angeblich handelt es sich um ein Dokument aus vorchristlicher Zeit, doch die wissenschaftliche Forschung hat es längst als eine um 1800 verfasste Fälschung erwiesen.
Das „Buch Welesa“ bildet den neuheidnisch-mythologischen Hintergrund der „slawischen Gymnastik“. Danach besteht das All aus drei miteinander verbundenen Welten, aus Prawia, Jawia und Nawia, wobei es sich hier um erdachte Begriffe handelt. Prawia steht für die übernatürliche, unsichtbare geistige Welt, Jawia für die uns umgebende sichtbare Welt und Nawia für die Welt der Ahnen. Die „slawische Gymnastik“ ermögliche es, an dieser dreiteiligen Welt teilzuhaben, ihre bioenergetischen Kräfte zu nutzen, das durch den Geschlechterzusammenhang bedingte Karma zu reinigen, in einem Prozess der Selbstfindung die slawische Identität zu stärken und auf diese Weise ein Leben in voller Harmonie mit sich selbst und der Welt zu führen.
Mit einer slawischen Tradition hat dies alles nichts zu tun. Aber es gelingt, den Frauen durch diese neuheidnische Esoterik bestimmte Werte und Verhaltensnormen einzuflößen – die eines Panslawismus. Aussagen von Frauen im Internet belegen, dass diese Art der Beeinflussung ihre Wirkung nicht verfehlt.
Das Frauenbild der „slawischen Gymnastik“
Auf den ersten Blick erscheint das durch die „slawische Gymnastik“ vermittelte Frauenbild in leuchtenden Farben: ein gesunder Lebensstil, Selbstverwirklichung, Harmonie mit der Natur, glückliche Erfahrungen des eigenen Frauseins. Ein zweiter Blick allerdings ergibt eine eher kritische Einschätzung. Bezeichnenderweise heißt die russische Variante der slawischen Gymnastik „Siła Beregini“ (Kraft der Beregina). Bei Beregina handelt es sich um eine altslawische Schutzgöttin, in Form eines Holzvogels ein beliebtes Motiv russischer, weißrussischer und ukrainischer Volkskunst.
Mit dieser Schutzgöttin verbindet sich der slawische Mythos des Matriarchats, der in der UdSSR der 1980er Jahre sowie unter Gorbatschows Perestrojka im Sinne einer sowjetischen „Superfrau“ propagiert wurde. Die Kehrseite dieses Frauenbildes war allerdings eine deutliche Orientierung der Frau auf Mann und Kinder. Im Unterschied zur westlichen liberalen Gesellschaft und der sich in ihr in jenen Jahren vollziehenden Emanzipation der Frau bedeutet der Beregina-Mythos eine Sakralisierung der Mutterschaft in einem vom Patriarchat bestimmten System. So heißt es denn auch auf den von den Clubs der „slawischen Gymnastik“ betrieben Foren, man könne dank ihrer einen Partner finden und eine Familie gründen.
Auch das Stereotyp der „schönen Polin“ wird durch die „slawische Gymnastik“ bedient. Im Vorwort des Buches von Adamowicz heißt es: In allen Jahrhunderten wurde viel über die Schönheit junger slawischer Frauen geschrieben. Man sprach sogar davon, dass es unter den genialen Männern slawische Frauen gab; zumal in der Mitte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts.“ Als Beispiele verweist Adamowicz auf Napoleons Romanze mit einer Polin sowie auf den mit einer Polin verheiratetem Balzac. Das Anziehende slawischer Frauen sei „in erster Linie die innere Schönheit, die Schönheit ihres Antlitzes und ihres Körpers.“ Ein derart auf den häuslichen Herd, auf Mann und Kinder orientiertes Frauenbild ist unpolitisch und leicht manipulierbar.
Die Renaissance des Panslawismus
Der Anfang des 19. Jahrhunderts entstandene, stark antiwestlich ausgerichtete Panslawismus verfolgte das Ziel einer politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Einheit aller Slawen. Im Verein mit der Orthodoxie diente er den Zaren als Ideologie zur Schaffung eines slawischen Imperiums unter russischer Führung. Mit der Oktoberrevolution trat an die Stelle des Panslawismus die russische Version der die Weltherrschaft ansrebenden Ideologie des Marxismus-Leninismus. Nach dem Untergang des Kommunismus und dem Moskauer Projekt eines Eurasiens erlebt der Panslawismus seit 2011 eine Wiedergeburt.
Als Hauptvertreter des wiederbelebten Panslawismus gilt der nationalistische russische Ideologe Aleksandra Dugin, dem ein großer Einfluss auf den Kreml nachgesagt wird. Er entwickelte das Konzept einer „Vierten Politischen Theorie“. Nach der Überwindung des Faschismus und des Kommunismus sei es nun an der Zeit, auch den westlichen Liberalismus zu überwinden, der gleichfalls den Bedürfnissen des Menschen nicht entspreche. Dugin erhebt den Anspruch, dies mit Hilfe seiner „Vierten Politischen Theorie“ zu leisten.
Spezifisches Ziel der „Vierten Politischen Theorie“ ist es somit, den westlichen Liberalismus mit allen verfügbaren Mitteln zu bekämpfen. Entsprechend werden seit Jahren die verschiedenen populistisch-nationalistischen Bewegungen innerhalb der Europäischen Union, zu denen Dugin persönliche Beziehungen unterhält, von Moskau unterstützt. Durch die von ihm entworfene und vom Kreml praktizierte Strategie sollen EU und NATO geschwächt und letztlich zum Scheitern gebracht werden. Zur Verwirklichung seiner Absichten operiert der Kreml auf verschiedenen Ebenen sowie durch den Gebrauch unterschiedlicher Mittel. Teil dieses Gesamtkonzepts ist auch die „slawische Gymnastik“. Die Auswertung von Aussagen auf Facebook zeigt, dass mit ihrer Ausbreitung in Polen ein zunehmend positives Russenbild einhergeht. Auf den Plattformen der Trainerinnen und der sich für diese Methode begeisternden Frauen finden sich Informationen zu russischen Medien, die mit der Werbung für die „slawische Gymnastik“ antiwestliche Werte verbinden. Eher unbewusst als bewusst werden auf diese Weise die Sympathisantinnen der „slawischen Gymnastik“ zu Förderinnen russischer Interessen.
Für Dugin ist, wie er selbst betont, soft power ein vorzügliches Instrument politischer Einflussnahme, so dass das Internet gleichsam zu einem modernen Kriegsschauplatz wird. Auf dreierlei Weise, so Dugin, lassen sich die Ziele der „Vierten Politischen Theorie“ im Netz erreichen: durch Unterstützung der in jedem westlichen Staat vorhandenen ethnischen Minderheiten und religiösen Sekten sowie durch Denkfabriken und populistisch-nationalistische Bewegungen und Parteien. In beiden Fällen erleichtere die in westlichen Staaten herrschende Meinungs- und Versammlungsfreiheit diese Art der Einflussnahme. Sie diene zudem der Vorbereitung einer dritten Form weit gesteckter Ziele, der Bildung von Agenturen, die durch wissenschaftliche Konferenzen, gezielte Pressearbeit und andere Handlungsformen im Ausland eine dem russischen Interesse dienende gesellschaftliche Indoktrinierung betreiben. Auf diese Wese komme es in den westliche Gesellschaften zur Herausbildung eines „neuen“, russophilen Menschen und russophiler Organisationen, die – wie dies bereits heute der Fall ist – die russische Annexion der Krim verteidigen und für die russische Aggression in der Ostukraine Verständnis zeigen und damit zugleich die Einheit von EU und NATO schwächen.
Quelle: Olga Solarz, Wdech, wydech, Putin (Einatmen, ausatmen, Putin), Tygodnik Powszechny v. 09. 06. 2019, S. 28-30.
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