Der Kaczyński-Mythos
Am 16. Januar 2016 versammelten sich die Abgeordneten des Sejm zu einem Gedenken an den zwei Tage zuvor aus politischen Motiven ermordeten Danziger Stadtpräsidenten Paweł Adamowicz. Doch Jarosław Kaczyński, Chef der regierenden PiS, blieb dieser Ehrung fern. Dass Adamowicz der oppositionellen Bürgerplattform (PO) angehörte, dürfte nicht der einzige Grund für diesen Affront gewesen sein. Ausschlaggebend war wohl, diese Ehrung könnte der Anfang einer Entwicklung sein, die Adamowicz über seinen Tod hinaus eine nationale Bedeutung verleihen und damit in Konkurrenz zu dem von ihm angestrebten Mythos der seiner Familie treten könnte.
Denn darum geht es Kaczyński. Bezeichnend ist, dass am selben Tag, an dem im Sejm Adamowicz gedacht wurde, im Geburtsort seiner verstorbenen Mutter im Gedenken an ihren Todestag ein vom staatlichen Fernsehen übertragener Gottesdienst stattfand. Und einen Tag vor der Beerdigung von Adamowicz, an der Kaczyński nicht teilnahm, begab er sich mit einem Gefolge von Spitzenpolitkern seiner Partei nach Krakau, um im Wawel am Grab seines Zwillingsbruders zu verweilen, der als Staatspräsident am 10. April 2010 beim Flugzeugabsturz am Flughafen von Smolensk ums Leben kam.
All dies ist kein Zufall. „Jarosław Kaczyński schafft für seine Partei und Wählerschaft eine eigene Welt, in der seine Mutter, sein Bruder, ihre Ahnen und seine Kusinen das Pantheon an Vorbild und Tugend bilden. Kaczyński betrachtete seine Familie immer als eine auserwählte. Die Ursache dafür muss man in seinem Denken suchen, dem zur Folge der Kaczyński-Clan im 19. und 20. Jahrhundert das schwere Los der elitären polnischen Intelligenz erfahren hat, gegen die Teilungsmächte und Okkupanten kämpfte, dann gegen den in Polen vom Kreml installierten Kommunismus und schließlich die Kooperation mit den Postkommunisten verweigerte, die die Grundlage für die III. Republik schufen.“
Die Glorifizierung von Zwillingsbruder Lech
Für den Kaczyński-Mythos spielt die Flugzeugkatastrophe von Smolensk eine herausragende Rolle. Daher durfte es sich nicht um einen tragischen Unfall handeln. Ohne jegliche Beweise wird bis heute kolportiert, Staatspräsident Lech Kaczyński und sämtliche Fluggäste seien einem Attentat des Kremls im Verein mit der Opposition zum Opfer gefallen. Diese Version ermöglichte es, Lech Kaczyński den Rang eines nationalen Märtyrers zu verleihen, der es – trotz eines erheblichen Widerstandes in der Gesellschaft – verdient habe, in der den Königen und Nationalhelden vorbehaltenen Krypta des Wawel bestattet zu werden. Er sei nicht einfach umgekommen, sondern „gefallen“. Gegen diese Deutung protestierte der wandte sich der Rat zur Wahrung des Gedenkens an die Gefallenen, der daraufhin von der PiS-Regierung aufgelöst wurde.
Acht Jahre lang faden an jedem 10. eines Monats von PiS organisierte Gedenkveranstaltungen zur Erinnerung an die Katastrophe von Smolensk statt, die Jarosław Kaczyński regelmäßig dazu nutzte, seinen Zwillingsbruder zu glorifizieren und die Opposition des Verrats an der Nation zu beschuldigen.
Inzwischen gibt es auf Initiative von PiS Denkmäler und Tafeln, die dem Gedenken an Lech Kaczyński gewidmet sind, sowie zahlreiche Straßen, die seinen Namen tragen. In die Schulbücher findet die angeblich historische Rolle des Staatspräsidenten Eingang. Überregional befassen sich Schüler mit Themen wie „Die Rolle von Präsident Lech Kaczyński für die Gewinnung nationalen Stolzes“; „Präsident Lech Kaczyński als Führer der Staaten Mittel- und Osteuropas“. Eine geschichtspolitische Überhöhung der Peron des verunglückten Staatspräsidenten, die einer wissenschaftlichen Überprüfung in keiner Weise standhält.
Ein Lech Kaczyński gewidmetes Museum in derzeit in Warschau in Bau. Einen Grundstock an Erinnerungsstücken gibt es bereits im Nachbargebäude von Kaczyńskis Villa. Dort finden im kleinen Kreis Seminare statt, und mitunter empfängt Jarosław Kaczyński an diesem symbolhaften Ort Staatspräsident Duda.
Auch wenn die Zwillingsbrüder zur antikommunistischen Opposition gehörten, einen entscheidenden Anteil am Sturz des Systems hatten sie nicht. Diese historische Bedeutung gebührt vielmehr Lech Wałęsa und seinen engsten Vertrauten. Daher das Bestreben von Jarosław Kaczyński und seiner PiS, Wałęsa als Mitarbeiter des Sicherheitsapparates zu diskreditieren, seine Bedeutung herunterzuspielen und ihn in der Öffentlichkeit als eine Person zu präsentieren, die nicht ernst zu nehmen sei. So finden in der von PiS vertretenen und verbreiteten Geschichtspolitik Wałęsa, Kuroń und Mazowiecki keine Erwähnung, dafür aber Lech Kaczyński und einzelne Persönlichkeiten des nationalistischen Flügels von „Solidarność“.
Die Ehrung der Mutter
Die Kaczyński-Brüder hatten zu ihrer Mutter ein äußerst inniges Verhältnis, doch eine über das Private hinausgehende nationale Bedeutung kommt ihr nicht zu. Die in Umlauf gebrachte Legende ihrer Teilnahme am Warschauer Aufstand ist nachweisbar falsch. Dass an ihrem Geburtsort ihres Todestages gedacht wird, steht außerhalb jeder Kritik. Zu kritisieren ist allerdings, dass diesem Totengedenken eine über die Privatsphäre hinausgehende Bedeutung beigemessen wird, wie dies durch die Fernsehübertragung des Gedenkgottesdienstes der Fall ist. Anderen Müttern, wie die des Märtyrers Popiełuszko, kommt diese Ehrung nicht zuteil.
Der vergessene Vater
Doch was ist mit dem Vater der Kaczyński-Zwillinge? Er scheint keiner Erwähnung wert und vom Kaczyński-Mythos ausgeschlossen zu sein. Dabei hat Rajmund Kaczyński durchaus seine nationalen Verdienste. Er gehörte zu den Warschauer Aufständischen, wurde gleich am ersten Tag verwundet und kämpfte dennoch bis zum letzten Tag. Für seinen Einsatz erhielt er hohe militärische Auszeichnungen, doch keine Straße trägt seinen Namen, von Denkmälern ganz zu schweigen. Und als er im April 2005, kurz vor der ersten PiS-Regierung, starb, blieben beide Brüder an seinem Grab stumm.
Der Grund für diese offensichtliche Distanz ist Rajmund Kaczyńskis weltanschaulicher und politischer Gegensatz zu seinen Söhnen. Ihm lag ihre übertriebene patriotische Denkweise und die damit verbundene messianische Vision Polens fern. In der kommunistischen Volksrepublik verhielt er sich pragmatisch, war kein Mitglied der Partei, unterhielt aber zu einigen ihrer einflussreichen Funktionäre gute Beziehungen. Dieses Verhalten passt nicht zum Kaczyński-Mythos. Im Übrigen erfreute sich dank seiner die Familie eines gewissen Wohlstandes, was auch den Söhnen zugutekam.
Der weitere Kreis des Kaczyński-Clans
Zum Kaczyński-Clan gehören auch weite Teile der verzweigten Verwandtschaft; so Stanisław Tomaszewski. Er war mit einer Schwester von Jadwiga Kaczyński, der Mutter der Zwillingsbrüder, verheiratet und Taufpate von Lech. Zudem war er es, der Lech und Jarosław in ihrem kindlichen Alter die Möglichkeit verschafft hatte. In dem Film „Zwei, die den Mond stahlen“ die Hauptrollen zu spielen.
Die nationalen Verdienste von Stanisław Tomaszewski stehen außer Frage. Im Zweiten Weltkrieg arbeitete er im Untergrund-Büro für Information und Propaganda. Seine Spezialität – Karikaturen, welche die Deutschen lächerlich machen und die Moral der Truppe untergraben sollten. 1941 wurde er von der Gestapo verhaftet und gefoltert. Dem sicheren Tod entging er dadurch, dass die Heimatarmee ihm in die Haftzelle Typhusbakterien zukommen ließen und er – an Typhus erkrankt – in ein Haftkrankenhaus verlegt wurde. Dort gelang es, ihn gegen einen Toten auszutauschen, der als Stanisław Tomaszewski beerdigt wurde. Er selbst konnte, als Sanitäter verkleidet, entkommen.
Ein solcher Held passt gut zur Familie. Jarosław Kaczyński liegt entsprechend viel daran, dass sein Name nicht vergessen wird. Als 2016 das Nationale Kulturzentrum Tomaszewski eine Ausstellung widmete, übernahm Präsident Duda die Patenschaft und Kaczyński war selbstverständlich bei der Eröffnung zugegen.
Nähere und Weitläufige Verwandte von Jarosław Kaczyński sind in den verschiedenen, PiS nahestehenden Institutionen du Organisationen tätig.
Jarosław Kaczyński – der ungekrönte König Polens
Der Kaczyński-Mythos dient dem Chef von PiS einerseits zur Festigung seiner Macht, andererseits ist er aber nur möglich, weil Kaszyński als ungekrönter König Polens gelten kann. Obwohl er kein Regierungsamt bekleidet, ist er es allein, der die Geschicke Polens bestimmt. Die Regierung ist faktisch kein eigenständiges Organ, sondern sein persönliches Herrschaftsinstrument. Das Gerichtswesen untersteht damit seiner Kontrolle und schützt ihn, wie dies die verschiedenen Staatsaffären zeigen. Und die staatlich kontrollierten Medien dienen nicht zuletzt dazu, seine politischen Gegner brutal zu bekämpfen.
„All das gab es bislang nicht. Denn zu keiner Zeit gab es in der III. Republik eine Paramonarchie, in der die Institutionen des Staates voll und ganz einem einzigen Menschen unterstanden.“
Quelle, Andrzej Stankiewicz, Pierwsza ostatnia rodzina (Erste letzte Familie), Tygodnik Powszechny v. 18. 08. 2016