Wieder Proteste in polnischen Städten
Diesmal waren es Polens Richter, die am 18. Dezember zum Protest aufriefen. In über 200 Städten gingen Tausende auf die Straße, protestierten in Warschau vor dem Sejm, ansonsten vor den Gerichtsgebäuden. Solidarisch mit den Richtern zeigte sich eine Vielzahl von Bürgern, unter ihnen sehr prominente Persönlichkeiten wie der frühere Staatspräsident Bronisław Komorowski, der einstige Vorsitzende des Verfassungsgerichts, Professor Andrzej Rzepliński, Senatsmarschall Professor Tomasz Grodzki, die Kandidatin der Bürgerplattform für die anstehende Präsidentschaftswahl, Małgorzata Kidawa-Błońska, sowie die Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk.
Anlass der Proteste war ein in den Sejm eingebrachtes Gesetzesprojekt, das „Tätigkeiten, die das Funktionieren der Gerichtsbarkeit unmöglich machen oder erschweren“ unter Strafe stellen. Damit antwortete die Regierung auf einen speziellen Vorfall, bei dem ein Richter unter Berufung auf europäisches Recht eine Rechtsbestimmung infrage gestellt hatte und dafür sanktioniert wurde. Mit dem geplanten Gesetz will sich nun die Regierung die Möglichkeit verschaffen, jene Richter zu bestrafen, die unter Hinweis auf europäisches Recht die Legalität von der Regierung erlassener Gesetzesbestimmungen anzweifeln. Dies betrifft u. a. Urteile des Europäischen Gerichtshofes, der im Dezember 2019 erklärt hatte, dass aufgrund ihrer politisch motivierten Besetzung die Disziplinarkammer beim Obersten Gericht keine juristische Institution im Sinne des europäischen Rechts ist. Die Nichtanerkennung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofes schaffe nach Ansicht mancher Kommentatoren eine Situation, in der sich Polen außerhalb der europäischen Rechtsordnung stelle und sich damit in die Gefahr begäbe, die EU gänzlich zu verlassen.
Auf den Ernst der Lage verwiesen denn auch die Redner, die bei den Protesten zu Wort kamen: 10 000 Richter im Land seien von dem Gesetzesprojekt betroffen und in ihrer Existenz bedroht, falls sie entsprechend ihres Berufsethos handeln und damit gegen das geplante Gesetz verstoßen würden. Sie würden abwertend als „Kaste“ bezeichnet. „Man nahm und die Meinungsfreiheit. „Man nahm uns die Freiheit, Rechtsvorschriften zu interpretieren. Man nahm uns die Würde, den guten Namen.“
Professor Rzepliński rief die letzten vier Jahre der nationalkonservativen Regierung in Erinnerung und sagte vor der versammelten Menge: „PiS setzte sich in den letzten vier Jahren an die Stelle der einstigen Kommunisten, demontierte die Institutionen des Rechtsstaates und schuf ein ersichtlich zur Korruption neigendes System.“ Und jetzt wolle man uns auf unsere Kosten aus der EU herausführen.
Begonnen hatte dieser Kampf gegen die polnische Richterschaft bereits mit der Regierungsübernahme der Kaczyński-Partei im Herbst 2015. Als erstes erstellte PiS ein medienwirksames Zerrbild der polnischen Gerichtsbarkeit, wonach die Richter ineffektiv arbeiten würden und korrupt seien. Die Mehrzahl von ihnen habe bereits zu kommunistischer Zeit ihr Amt ausgeübt, sodass es sich bei ihnen um Kryptokommunisten handle, die dafür verantwortlich seien, dass sich die erhoffte Demokratie als ein postkommunistisches System erwiesen habe. In diesem System bilden – so Parteichef Kaczyński – „die Gerichte die letzte Barrikade“.
Auch die Europäische Kommission hatte sich eingeschaltet, um die Verabschiedung dieses Gesetzes zu verhindern. Vera Jourowá, die Vizepräsidentin der Kommission, richtete ein Scheiben an Präsident Duda und Premier Morawiecki. Darin stellte sie klar, dass sämtliche legislative Änderungen im Einklang mit den Erfordernissen der Rechtsordnung der Europäischen Union stehen müssen. Und sie warnte vor einer weiteren Verschlechterung der Rechtsstaatlichkeit in Polen. Man solle die Beratungen zu diesem Gesetzt solange unterbrechen, bis alle erforderlichen Konsultationen erfolgt seien.
Weder die massenhaften Proteste noch die Intervention der Europäischen Kommission beeindruckten die polnischen Nationalkonservativen. Einer der PiS-Abgeordneten verstieg sich sogar zu der Aussage, Frau Jourowá solle sich um „ihre Tschechen kümmern“. Ein deutliches Zeichen, dass PiS jegliche Einwände und Warnungen der Europäischen Kommission als unangebrachte äußere Einflüsse auf die staatliche Eigenständigkeit zurückweisen wird. Wie lange dieses unwürdige Spiel dauern wird, ohne dass es am Ende zu einem Polexit kommt, bleibt abzuwarten.
Mit der absoluten PiS-Mehrheit wurde das Gesetz in dem für diese Partei bezeichnenden Eilverfahren am Nachmittag des 20. Dezember verabschiedet. Von den rund 80 Änderungsanträgen der Opposition wurde nicht ein einziger berücksichtigt. Ihr blieb nichts weiter übrig, als diese Karikatur eines rechtsstaatlichen Prozesses mit den Rufen „Schande“ zu kommentieren.
Das Gesetz ist damit noch nicht in Kraft. Es wurde dem Senat zur Stellungnahme überwiesen. Dort hat die Opposition eine knappe Mehrheit, so dass zu erwarten ist, dass der Senat dem Gesetz nicht zustimmen wird. Damit wird es für eine gewisse Zeit blockiert; verhindern kann letztlich der Senat das Gesetz allerdings nicht.