Das V. Weltforum Auschwitz im Schatten des polnisch-russischen Konflikts
Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und rettete damit die letzten Überlebenden dieses Ortes unmenschlichen Grauens. Seit Jahrzehnten wird an jedem 27. Januar in Auschwitz der Befreiung gedacht, bei der aus aller Welt ehemalige KZ-Insassen und politische Vertreter anreisen. Vor fünf Jahren gab es dann erstmals eine zweite Gedenkveranstaltung, organisiert von dem russischen, in der Schweiz wohnhaften Oligarchen Moshe Kantor, der auch die israelische Staatsbürgerschaft besitzt. Bislang stand dieses Auschwitz-Forum im Schatten der Veranstaltungen in Auschwitz und fand keine sonderliche Beachtung. Doch 2020 gewann das V. Weltforum Auschwitz ein breiteres öffentliches Interesse. Und dies in erster Linie, weil es unter Anwesenheit von fast 50 hochrangigen Vertretern verschiedener Staaten in der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem stattfand und erstmals ein deutscher Bundespräsident an diesem Erinnerungsort zu Wort kam. In Polen wurde allerdings dieses Forum als Affront wahrgenommen, weil Präsident Andrzej Duda zwar wie die Oberhäupter anderer Länder eingeladen war, .ihm aber nicht gestattet wurde, in Yad Vashem eine Rede zu halten, woraufhin er die Reise nach Jerusalem absagte.
Im Folgenden soll über den Verlauf dieses Auschwitz-Forums berichtet, die Absage von Präsident Duda erläutert und auf die Auschwitzveranstaltung am 27. Januar Bezug genommen werden.
Das V. Weltforum Auschwitz
Das Auschwitz-Forum fand am 23. Januar statt, vier Tage vor den Gedenkveranstaltungen in Auschwitz. Eröffnet wurde es vom israelischen Präsidenten Reuven Rivlin als Gastgeber. Nach ihm sprach Ministerpräsident Benjamin Netanyahu. Er sah in Auschwitz das letzte Symbol jüdischer Ratlosigkeit und Schwäche. Der Staat Israel sei die Antwort auf den Holocaust. „Den Fundamenten des Staates Israel liegt die Überzeugung zugrunde, dass es keinen weiteren Holocaust geben wird.“
Netanyahu nutzte die Gelegenheit zu einer Verbalattacke gegen den Iran, durch den sich Israel in seiner Sicherheit bedroht fühlt. Er dankte Präsident Trump für seinen „Kampf gegen die Tyrannei des Iran“, der für den Nahen Osten und die ganze Welt eine Bedrohung darstelle. Und er rief die Regierungen dazu auf, sich an diesem Kampf zu beteiligen.
Dann kam Moshe Kantor, der Organisator der Gedenkveranstaltung, zu Wort. Indem er auf den wachsenden Antisemitismus in Europa verwies, gab er für die folgenden Reden das Thema vor. Wieder seien Synagogen das Ziel von Attacken und nötige die Juden, Europa zu verlassen. Halte dieser Trend an, „dann wird es in 30 Jahren keine Juden mehr in Europa geben.“ Dabei nahm er ausdrücklich Russland von dem in Europa sich verbreitenden Antisemitismus aus. Dort sei infolge der kompromisslosen Politik gegen den Antisemitismus dieser wohl am geringsten.
Als weitere Redner sah das Protokoll die Präsidenten der vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs vor sowie – gleichsam als Vertreter der bezwungenen Nation – den deutschen Bundespräsidenten. In seiner fünfminutigen Rede wandte sich Präsident Putin gegen Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus. Um diesen negativen Erscheinungsformen die Stirn zu bieten, machte er den überraschenden Vorschlag, die UNO möge „zur Wahrung unserer Zivilisation“ unter Führung der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs sowie Chinas eine entsprechende Konferenz einberufen.
Zudem sprach er die verheerenden Folgen an, die der Zweite Weltkrieg für das russische Volk gehabt habe. Es habe den gewaltigen Preis millionenfachen Opfers gezahlt. Und was die Verbrechen des Holocaust betreffe, dem in der UdSSR 1,4 Millionen Juden zum Opfer gefallen seien, so hätten diese neben den Nazis „viele Autoren“. Auch unter den in Auschwitz umgekommenen Häftlingen seien 40% Bürger der Sowjetunion gewesen. Mit diesen Zahlen erhob Putin den Anspruch, kein anderes Volk habe unter dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust mehr gelitten als das russische.
Den Kampf gegen den Antisemitismus thematisierten dann auch die Vertreter der drei westlichen Siegermächte des Zweiten Weltkriegs – Vizepräsident Mike Pence, Prinz Charles in Vertretung der britischen Königin sowie Präsident Emmanuel Macron.
Mit besonderer Spannung war die Rede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier erwartet worden. Und er wurde den Erwartungen gerecht. Als Reverenz gegenüber den Gastgeber begann er auf Hebräisch, setzte dann seine Ansprache auf Englisch fort, um den wenigen anwesenden Überlebenden des Holocaust die Sprache der Täter zu ersparen. Er sei „belastet mit großer historischer Schuld“ nach Yad Vashem gekommen und betonte die vorrangige deutsche Verantwortung im Kampf gegen den Antisemitismus. Wörtlich erklärte er: „Er wünschte, sagen zu können: ‚Wir Deutsche haben für immer aus der Geschichte gelernt.‘ Aber das kann ich nicht sagen, wenn Hass und Hetze sich ausbreiten. Das kann ich nicht sagen, wenn jüdische Kinder auf dem Schulhof bespuckt werden. Das kann ich nicht sagen, wenn unter dem Deckmantel angeblicher Kritik an israelischer Politik kruder Antisemitismus hervorbricht. Das kann ich nicht sagen, wenn nur eine schwere Holztür verhindert, dass ein Rechtsterrorist an Jom Kippur in einer Synagoge in Halle ein Blutbad anrichtet.“ Steinmeier versprach, mit aller Kraft den wachsenden Antisemitismus zu bekämpfen.
Gründe, Hintergründe und Folgen der Absage von Präsident Andrzej Duda
Es scheint, dass der polnische Präsident auf dem V. Auschwitz-Forum nicht sonderlich vermisst wurde. Auf seine fehlende Anwesenheit angesprochen sagte Moshe Kantor, ein Skandal sei dies nicht, sondern lediglich eine Sache der Statistik. Bei der Präsenz von annähernd 50 hochrangigen Politikern aus den unterschiedlichsten Ländern falle. so lässt sich seine Aussage interpretieren, die Abwesenheit des polnischen Präsidenten nicht sonderlich ins Gewicht. Eine derartige Feststellung kommt einer deutlichen Marginalisierung Polens gleich. Und dies ausgerechnet in Zusammenhang mit Auschwitz.
In Polen wurde viel darüber spekuliert, warum man Präsident Duda nicht erlaubt hat, in Yad Vashem zu sprechen. Dass ihm angeboten worden war, beim Abendessen mit dem israelischen Präsidenten das Wort zu ergreifen, blieb in den PiS nahen Medien unerwähnt. Diese Möglichkeit war ohnehin für Duda kein Ersatz für ein Auftreten in Yad Vashem. Manche polnische Kommentatoren vermuteten, Präsident Putin habe diese Verweigerung bewirkt. Andere machten dafür den Organisator Kantor selbst verantwortlich, der sich damit an Duda gerächt habe, weil ihm untersagt worden war, in Polen eine Industrieanlage zu erwerben. Wieder andere sahen in dem durch die IPN-Gesetze, welche die Behauptung einer polnischen Mitschuld am Holocaust unter Strafe stellen, belastete polnisch-israelische Verhältnis den Grund. Doch vielleicht ist der Grund viel naheliegender. Es sollten eben nur die Präsidenten der vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs und der der besiegten deutschen Nation sprechen. In dieses Protokoll passte Polen nicht hinein, das nicht zu den Siegermächten zählt. Aber wäre es bei gutem Willen nicht trotzdem möglich gewesen, den Präsidenten des Landes, in dem die Gaskammern und Kamine des Holocaust ihren Ort hatten, das Wort an diesem jüdischen Erinnerungsort zu erteilen?
Die Absage des polnischen Präsidenten stand im Übrigen in einem engen Zusammenhang mit dem im Vorfeld des Auschwitz-Forums von Putin ausgelösten und politisch relevanten polnisch-russischen Historikerstreit. Ende Dezember 2019 hatte er mehrfach öffentlich Polen eine Mitschuld am Zweiten Weltkrieg sowie am Holocaust unterstellt. Polen zeigte sich über die Parteigrenzen hinaus zu Recht empört. Der Sejm verurteile einmütig diese Unterstellung. Auch Ministerpräsident Morawiecki nahm gegen die Geschichtsfälschung Stellung, und Präsident Duda berief eigens ein Expertengremium zur Widerlegung der falschen Anschuldigungen. Auf dem Weltwirtschaftstreffen in Davos erklärte er zudem in einem „Radio Polska“ gewährten Interview sein Unverständnis darüber, dass zwar der Bundespräsident des Tätervolks in Yad Vashem zu Wort komme, nicht aber der Präsident Polens, dessen Bürger vor allen anderen zu Opfern des Holocaust geworden seien.. Und was Frankreich betreffe, dessen Präsident in Yad Vashem gleichfalls sprechen werde, so habe sich sein Land im Zweiten Weltkrieg der Kollaboration schuldig gemacht und im Verein mit den Deutschen Juden auf Transport in den Tod geschickt.
Zum Grund der Absage gehört auch, dass Präsident Duda davon ausging, Putin werde in Yad Vashem seine Anschuldigungen auf die eine oder andere Weise wiederholen. Dies war jedoch nicht der Fall, sieht man einmal davon ab, dass sich die eine oder andere seiner Aussagen, etwa der Hinweis auf die „vielen Autoren“ des Holocaust oder die Behauptung, Russland habe von allen Völkern das größte Opfer im Zweiten Weltkrieg wie im Holocaust bringen müssen, als versteckten antipolnischen Seitenhieb deuten lasse.. Direkt hat sich Putin jedenfalls zu Polen nicht geäußert. Er hat Polen und die Polen vielmehr mit keinem Wort erwähnt.
Es bleibt noch die Frage, als wie folgenreich Dudas Absage zu bewerten ist. Sie macht vor allem deutlich, dass Polen keineswegs jene Stimme besitzt, von der PiS stets behauptet, dass sie international Gehör findet. Insofern bestätigt die Absage des polnischen Präsidenten eine internationale Marginalisierung, die sich im Übrigen die regierende PiS mit ihrer die demokratischen Grundprinzipien der Europäischen Union verletzenden Politik selbst zuzuschreiben hat. Sie schwächt aufgrund der wachsenden Konflikte mit der Europäischen Kommission Polens Position innerhalb der EU, was es Putin erleichtert, sich auf aggressive Weise gegen Polen zu äußern. Seine Politik ist darauf ausgerichtet, den mit der Auflösung der UdSSR verbundenen Bedeutungsverlust zu beheben und die einstige Macht und den früheren weltpolitischen Einfluss zurückzugewinnen. In Verfolgung dieses Ziels liegt ihm daran, es möglichst rückgängig zu machen, dass Polen bleibend ein Teil des Westens wird. Jede Schwächung Polens ist für ihn ein Schritt hin zu diesem Ziel. Daher muss wohl Dudas Absage als diplomatisch unklug gewertet werden, spielt sie doch der Politik Putins in die Hände.
Doch die Masse der polnischen Wähler dürfte diesen komplexen Zusammenhang kaum durchschauen. So lässt sich Dudas Absage in dem nun beginnenden Wahlkampf um seine Widerwahl als patriotische Tat deuten. Ihn in Yad Vashem nicht zu Wort kommen zu lassen, komme einer Ehrverletzung der polnischen Nation gleich, die wie keine andere unter der Naziherrschaft und dem Holocaust gelitten habe. Darauf habe es nur eine patriotische Antwort geben können– die Absage seiner Teilnahme an diesem Auschwitz-Forum. Dass diese Sicht der Dinge bei den Wählern gut ankommt, zeigt eine Umfrage, nach der sich 44% für eine Wiederwal Dudas aussprechen, was diese so gut wie sicher macht.
Und die Wiederwahl Dudas liegt zudem im Interesse Putins. Sie garantiert nämlich die Fortsetzung der von PiS verfolgten Politik, die die Konflikte mit der Europäischen Union weiter verschärfen und dadurch die Position Polens in der EU immer mehr schwächen wird, wobei nicht ausgeschlossen werden kann, dass sie am Ende in einen Polexit mündet.