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Russland – das Land mit dem geringsten Antisemitismus?

Ende letzten Jahres hatte Präsident Putin gleichsam aus heiterem Himmel eine antipolnische Kampagne gestartet. Er bezeichnete den polnischen Botschafter in Berlin der 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts als „Drecksack“ und „antisemitisches Schwein“. Er meinte zudem, Polen trage aufgrund des dort herrschenden Antisemitismus eine Mitschuld am Holocaust. Und auf dem Ho1locaust-Forum, das am 23. Januar in der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem stattfand, behauptete der russische Oligarch Kantor als Organisator des Forums, Russland sei das Land mit dem geringsten Antisemitismus.

Der Journalist Wacław Rodziwiwnowicz ging in einem am 30. Januar in der „Gazeta Wyborcza“ erschienenen Beitrag dieser Behauptung nach. Er deckte auf, dass es sich bei Piotr Tolstoi, der mit knapper Mehrheit zum stellvertretenden Vorsitzenden des Europarates gewählt wurde, um einen eingefleischten Antisemiten handelt. Und nicht nur dies.

Dieser Urenkel von Leo Tolstoi ist eng mit der Putin unterstützenden Partei „Einiges Russland“ verbunden und Vizevorsitzender der Duma. Er zählt zu den Personen, die von den westlichen Sanktionen betroffen sind und in Europa nicht frei reisen können. Im Auftrag von Putin leitete er die russische Delegation beim Europarat. Dieser wählte ihn am 28. Januar zum stellvertretenden Vorsitzenden. Und dies wohl, ohne zu wissen, mit wem man es nun zu tun hat.

Vor drei Jahren bewirkte Piotr Tolstoi, dass eine bislang im staatlichen Besitz befindliche, kunstvoll ausgestattete und zur Besichtigung frei gegebene Kirche in St. Petersburg in den Besitz der orthodoxen Kirche überging. Sie wurde daraufhin für den Publikumsverkehr geschlossen, was manchem Petersburger nicht gefiel. Es kam zu Protesten, die Tolstoi mit einer antisemitischen Argumentation scharf verurteilte: Er bezeichnete die “Rädelsführer“ als Enkel und Urenkel derer, die „1917 aus dem von den zaristischen Behörden der jüdischen Bevölkerung zugewiesenen Wohnviertel hervorbrachen und mit Peitschen in den Händen unsere Heiligtümer verwüsteten.“ Damit bediente er das auch in Russland verbreitete Stereotyp: Juden sind allem schuld, vor allem an der Zerstörung von Tradition, Kultur und Glaube.

Auch sonst herrsche in Russland kein Mangel an antisemitischen Äußerungen. Die Presse sei voll davon. So erinnere man in negativer Absicht an die jüdische Herkunft des jetzigen ukrainischen Präsidenten. Und es sei eine beliebte Methode, Oppositionellen das Stigma eines Juden zu verpassen. In der „Konsomolska Prawda“ habe gar eine Journalistin ihr Bedauern zum Ausdruck gebracht, „dass die Nazis aus den Vorfahren heutiger Liberaler keine Lampenschirme gemacht haben.“

Und bei einer den russischen Präsidenten betreffenden Anekdote hielt man eine Richtigstellung für erforderlich: Auf dem Jerusalemer Auschwitz-Forum hatte ein Israeli von seinem Besuch in St. Petersburg berichtet. Er habe dort bei einem alten Freund erfahren, dass der junge Putin habe in Ermanglung eines Aufzugs eigenhändig eine „jüdische Oma“ in den vierten Stock eines Mietshauses gebracht.

Eine solche Hilfsbereitschaft des jungen Putin kommt gewiss in der Öffentlichkeit gut an, offenbar aber weniger der Bezug zu einer jüdischen Oma. Putins Sprecher sah sich daher zu einer Erklärung veranlasst: Einen solchen Liebesdienst habe Putin mehrfach geleistet, doch bei der hilfsbedürftigen Alten habe es sich nicht um eine Verwandte, schon gar nicht um seine Großmutter gehandelt, sondern um eine Nachbarin.

Oppositionelle als Juden zu bezeichnen und dafür zu sorgen, dass nur kein jüdischer Schatten auf Putin fällt, das macht nur Sinn, wenn man damit rechnen kann, dass in der Bevölkerung der Antisemitismus weit verbreitet ist.

Wer im Glashaus sitzt, der sollte besser nicht mit Steinen werfen.

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