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100 Tage der erneuten PiS-Regierung Eine kritische Betrachtung einiger Aspekte

Nach ihrem Wahlsieg im Oktober 2019 wurde die Regierung der polnischen Nationalkonservativen am 15. November vereidigt. Am 23. Februar 2020 ist sie damit 100 Tage im Amt. Zeit für eine Bilanz einiger als besonders kritisch zu wertender Aspekte.

Ministerpräsident blieb Mateusz Morawiecki. Zbigniew Ziobro wird weiterhin in Personalunion die Funktionen des Justizministers und Generalstaatsanwalt ausüben. Auch sonst gab es kaum Änderungen im Regierungsapparat. Und Jarosław Kaczyński bestimmt als Parteichef von „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) wie gehabt die Politik der Regierung aus dem Hintergrund. Weil auf diese Weise die Kontinuität der Regierung gewahrt wurde, kann PiS ihre Politik des angeblich „guten Wandels“ bruchlos fortsetzen.

Ein Fall von „Senatgate“

Die Nationalkonservativen waren in den Oktoberwahlen nicht gänzlich erfolgreich. Sie verloren, wenngleich knapp, die Mehrheit in der zweiten Kammer, dem Senat. Nachdem ihre Bemühungen, einzelne Senatsabgeordnete mit Versprechungen auf ihre Seite zu ziehen, gescheitert waren, wurde Senatsmarschall Prof. Tomasz Grodzki von der oppositionellen Bürgerplattform (PO) ihr Ziel höchst unfairer Attacken. Er sei korrupt, habe von Patienten Geld genommen. Auf einer Pressekonferenz machte er am 7. Januar 2020 die Machenschaften gegen seine Person öffentlich und sprach – in Analogie zu Watergate - von einem „Senatgate“. Einige seiner früheren Patienten seien unter Druck gesetzt worden, gegen ihn auszusagen, anderen habe man für eine Falschaussage Geld geboten,

Nach dieser enthüllenden Pressekonferenz gab die Kaczyński-Partei keineswegs ihren Kampf gegen Grodzki auf. Im Gegenteil. Die Nationalkonservativen verstärkten ihn noch in der Annahme, Grodzki würde unter der Last öffentlicher Beschuldigungen am Ende sein Amt aufgeben, wodurch sich für PiS die Chance ergeben könnte, die Mehrheitsverhältnisse im Senat zu ihrem Gunsten zu verändern, den Senatsmarschall zu stellen und damit die reibungslose Fortsetzung ihrer Justizreform zu gewährleisten.

Vor Jahren hatte Parteichef Kaczyński erklärt, man müsse den Menschen nur lange genug etwas einreden, damit sie es am Ende auch glauben. Nach dieser Devise verfuhren die PiS-Medien. So verbreitete die „Gazeta Polska“ Abbildungen von Dollarscheinen mit dem Konterfei von Grodzki. Nachdem man den Medizinprofessor auf diese Weise öffentlich als korrupt bezeichnet hatte, gab man eine Umfrage in Auftrag, in der 1042 Personen gefragt wurden, ob sie glauben, dass Tomasz Grodzki während seiner Tätigkeit als Arzt Geld genommen hat. 51% der Befragten bejahten die Frage. Das Ergebnis wurde zur besten Sendezeit in den Abendnachrichten des staatlichen Fernsehens präsentiert.

Dass viele Patienten von Prof. Grodzki in Briefen an ihn oder auf Facebook seine Unbestechlichkeit bezeugen und wie eine Mauer hinter ihm stehen, das wird natürlich im staatlichen Fernsehen und in den PiS-Medien verschwiegen. Ob es allerdings nach all diesen schmutzigen Attacken tatsächlich zu einem Prozess gegen Grodzki kommt, erscheint angesichts der fälschlich konstruierten Beweislage unwahrscheinlich. Doch wer weiß, was in dem von PiS regierten Polen nicht alles möglich ist.

Das Kesseltreiben gegen ihn kommentierte Prof. Grodzki mit den Worten: „Wenn sich das Schmiergeldthema erschöpft hat, und das wird bald der Fall sein, denn bei all dem handelt es sich um Verdrehungen, dann fabriziert man irgendwelche andere Verhaltensweisen, dann macht man aus mir einen Alkoholiker, weil schließlich alle Ärzte trinken, dann einen Händler, der menschliche Organe nach China liefert, denn ich befasse mich ja mit Transplantation.“ Und weiter: „Wenn die Herstellung von Beweisen gegen eine dritte Person im Staat zur Norm wird, dann heißt das, dass sich Polen in einer tieferen Krise befindet, als dies allen erscheint. […] Es tobt ein Kampf gegen ein freies Polen. Entweder wir bleiben in der Familie europäischer Zivilisation, oder wir begeben uns in die Hände der Diktatur des Ostens. Das sind entscheidende Jahre.“

Weitere Gesetze zur Kontrolle der Justiz

Nach ihrer erneuten Bestätigung verlor die PiS-Regierung keine Zeit, ihre fragwürdige Justizreform fortzusetzen. Ein ganzes Gesetzespaket, das Bestimmungen zum Obersten Gericht, zur Verwaltungs- und Militärgerichtsbarkeit, zu den allgemeinen Gerichten sowie zu den Staatsanwaltschaften umfasst, dient der Kontrolle über das gesamte Gerichtswesen. Eine beim Landesjustizrat angesiedelte Disziplinarkammer wurde vom Sejm mit PiS loyalen Richtern besetzt und soll die Unangreifbarkeit von in ihrem Sinn erlassenen Bestimmungen gewährleisten. Dies betrifft insbesondere die Situation, in der ein Gesetz oder ein Richterspruch dem EU-Recht widerspricht. Es soll in solchen Fällen ausgeschlossen werden, dass sich Richter auf das geltende EU-Recht berufen und ihm widersprechende Bestimmungen und Gesetze nicht anwenden. Ihnen droht bei solcher Verweigerung eine Degradierung oder gar der Verlust ihres Amtes.

Das noch nicht unter der Kontrolle von PiS stehende Oberste Gericht bezeichnete am 17. Dezember 2019 in einer vierzigseitigen Stellungnahme das Gesetzespaket als mit dem EU-Recht unvereinbar und warnte vor einem weiteren Konflikt mit der Europäischen Kommission. Ein Vertragsverletzungsverfahren könne die Folge sein, werde dieses Gesetzespaket vom Sejm verabschiedet.

Doch alle Bedenken und Einwände nutzten nichts. Mit der absoluten PiS-Mehrheit wurde das Gesetzspaket in dem für diese Partei bezeichnenden Eilverfahren am Nachmittag des 20. Dezember verabschiedet. Von den rund 80 Änderungsanträgen der Opposition wurde nicht ein einziger berücksichtigt. Ihr blieb nichts weiter übrig, als diese Karikatur eines rechtsstaatlichen Verfahrens mit den Rufen „Schande“ zu kommentieren.

Die Gesetze waren damit noch nicht in Kraft. Sie wurden dem Senat zur Stellungnahme überwiesen. Der legte, wie zu erwarten, ein Veto ein. Das staatliche Fernsehen quittierte diese Entscheidung damit, der Senat stehe unter der „Diktatur des Auslands und übe Verrat an Polen.“ Und der Sejm wies das Veto umgehend zurück. Es bedurfte nur noch der Unterschrift des Präsidenten.

Die Auseinandersetzungen gingen weiter. Am 23. Januar 2020 meldete sich das Oberste Gericht erneut zu Wort. In seiner Erklärung stellte es künftige Urteile des Landesjustizrates infrage, weil seine Richter aus politischen Gründen berufen worden waren und damit in ihren Entscheidungen nicht frei seien. Im Klartext bedeutet dies, dass das Oberste Gericht den Landesjustizrat und seine Organe nicht als eine richterliche Instanz ansieht, sondern als eine politische Institution. Mit dieser Intervention wolle man den Bürgern das Recht auf unparteiische Gerichte garantieren und dränge darauf, das durch PiS im polnischen Gerichtswesen hervorgerufene Chaos in Ordnung zu bringen.

Fünf Tage später nahm das unter der Kontrolle von PiS stehende Verfassungsgericht zu diesen Beschlüssen des Obersten Gerichts Stellung und erklärte diese für nicht rechtskräftig. Das Oberste Gericht sei nicht berechtigt zu bewerten, ob der Landesjustizrat, die von ihm berufenen Richter sowie deren Kompetenz mit dem europäischen Recht vereinbar sind. Faktisch bedeutet dies eine Entmachtung des Obersten Gerichts durch das Verfassungstribunal.

Dem Urteil des Verfassungsgerichts wurde unverzüglich von prominenten Juristen widersprochen. Dem Obersten Gericht abzusprechen, die Vereinbarkeit polnischer Gesetzgebung mit dem geltenden EU-Recht zu überprüfen, stehe im Widerspruch zur polnischen Verfassung und Beschlüssen der Europäischen Union. Das Verfassungsgericht habe sich mit seinem Urteil selbst diskreditiert und sich als unfähig erwiesen, seine eigentliche Funktion, über die Einhaltung der Verfassung zu wachen, wahrzunehmen. Noch deutlicher wurde der Verfassungsrechtler Prof. Marcin Matczak: „Dass das Verfassungsgericht nach Beratungen mit der Regierungspartei gegen das Oberste Gericht einen derartigen Beschluss fasst, ist ein Skandal im globalen Maßstab und macht aus uns eine Bananenrepublik.“

Die Reaktion der Richterschaft

Weite Teile der Richterschaft wehrten sich gegen diese Rechtsbestimmungen und riefen am 18. Dezember zum Protest auf. In über 200 Städten gingen Tausende auf die Straße, protestierten in Warschau vor dem Sejm, ansonsten vor den Gerichtsgebäuden. Solidarisch mit den Richtern zeigte sich eine Vielzahl von Bürgern, unter ihnen sehr prominente Persönlichkeiten wie der frühere Staatspräsident Bronisław Komorowski, Senatsmarschall Professor Tomasz Grodzki sowie die Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk.

Auf den Ernst der Lage verwiesen Redner, die bei den Protesten zu Wort kamen: 10 000 Richter im Land seien von dem Gesetzesprojekt betroffen und in ihrer Existenz bedroht, falls sie entsprechend ihres Berufsethos handeln und damit gegen das geplante Gesetz verstoßen würden. „Man nahm uns die Freiheit, unsere Meinung zu sagen. Man nahm uns die Freiheit, Rechtsvorschriften zu interpretieren. Man nahm uns die Würde, den guten Namen.“ Und der frühere Vorsitzende des Verfassungsgerichts, Prof. Andrzej Rzepliński, ging mit der Partei, die sich ausgerechnet „Recht und Gerechtigkeit“ nennt, scharf ins Gericht: „PiS setzte sich in den letzten vier Jahren an die Stelle der einstigen Kommunisten, demontierte die Institutionen des Rechtsstaates und schuf ein ersichtlich zur Korruption neigendes System.“

Mit dem „Marsch der 1000 Roben“ gab es am 11. Januar 2020 einen weiteren Protest, zu dem die Richterschaft aufgerufen hatte. Ein schier endloser Zug von rund 30 000 Teilnehmern zog schweigend durch Warschau, unter ihnen – aus Solidarität – zahlreiche Richter aus dem Ausland.

Das Schweigen der Kirche

Was in Zusammenhang mit den neuerlichen Gesetzen der Justizreform auffällt, ist das Schweigen der Kirche. Kein kritisches Wort des Vorsitzenden der Bischofskonferenz zu den Befugnissen der Disziplinarkammer, die eine existentielle Bedrohung von Richtern bedeuten, die unter Berufung auf geltendes EU-Recht von der Regierung erlassene Rechtsbestimmungen nicht anwenden wollen.

Man kann dieses Schweigen schwerlich als Ausdruck politischer Neutralität rechtfertigen. Abgesehen davon, dass Polens Bischöfe stets für sich in Anspruch genommen haben, zu wichtigen, die Gesellschaft betreffenden Fragen Stellung zu beziehen, gibt es bereits eine kirchliche Intervention bezüglich der die Rechtsstaatlichkeit aushebelnden Justizreform. Als im Juli 2017 die über eine absolute Mehrheit verfügenden PiS-Abgeordneten im Sejm Gesetze verabschiedeten, welche die Unabhängigkeit höchst richterlicher Instanzen wie Verfassungsgericht, Oberstes Gericht und Landesjustizrat faktisch außer Kraft setzten und im ganzen Land zahllose Menschen aus Protest auf die Straße gingen, da erhoben gleich mehrere ranghohe kirchliche Vertreter warnend ihre Stimme. Die Bischofskonferenz appellierte durch ihren Sprecher „an sämtliche politische Gruppierungen, eine Verständigung anzustreben, die das Wohl Polens und seiner Bürger zum Ziel hat.“ Der Primas Polens, Erzbischof Wojciech Polak, forderte „einen auf den Fundamenten des Rechtsstaates basierenden Dialog“ und mahnte zudem, „die weitreichenden Folgen einer jeden Reform nicht aus den Augen zu verlieren.“ Der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Erzbischof Stanisław Gądecki, nahm persönlich Einfluss, indem er sich zur Lösung der Krise mit Staatspräsident Andrzej Duda traf. Rückendeckung erhielt Gądecki aus dem fernen Rom durch den „L´Osservatore Romano“, in dem zu lesen war, der Sejm habe „eine kontroverse Justizreform angenommen, die de facto die Autonomie des Justizwesens liquidiert.“ Die kirchliche Intervention zeigte Wirkung. Präsident Duda machte von seinem Vetorecht Gebrauch, und die Regierung entschärfte wenigstens teilweise das Gesetz zum Obersten Gericht. Wenige Stunden nach Erlass des Vetos erreichte den Staatspräsidenten ein Dankschreiben des Vorsitzenden der Bischofskonferenz, in dem sich als Kern der Satz befindet „eine authentische Demokratie ist nur in einem Rechtsstaat möglich.“

Warum also das jetzige Schweigen der Hierarchen, wo doch die neuerlichen Gesetze die Rechtsstaatlichkeit in Polen weiter zerstören? Die Vermutung liegt nahe, dass dafür eine durch den Film „Sag es nur keinem“ entstandene Situation ausschlaggebend ist. Die Fülle an kirchlichen Missbrauchsfällen, die damit ans Licht kamen, die von ihnen bestimmte öffentliche Diskussion sowie nicht zuletzt Entschädigungsforderungen der Opfer führten offenbar dazu, dass Polens Kirche um staatliches Wohlwollen, insbesondere um das des Justizministers und Generalstaatsanwalts Ziobro, bemüht ist. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang der Fall eines Ordenspriesters, der des sexuellen Missbrauchs schuldig gesprochen wurde. Per Gerichtsbeschluss wurde der Orden zur Zahlung von einer Million Zł. an das Opfer verpflichtet. Mit dem Argument, nicht die Ordensgemeinschaft, sondern allein der Täter habe das Opfer zu entschädigen, ging der Orden in die Berufung, verlor aber aufgrund von Mitschuld durch Vertuschen auch in der zweiten Instanz. Der Fall muss letztlich von der Zivilkammer des Obersten Gerichts entschieden werden. Doch auf einen Verhandlungstermin wartet man seit Monaten.

Für Polens Kirche steht viel auf dem Spiel. Müsste in diesem Musterprozess der Orden am Ende zahlen, dann kommen bei weiteren Prozessen enorme finanzielle Belastungen auf Polens Kirche zu, die es möglichst zu vermeiden gilt. Dies könnte der Grund für das kirchliche Schweigen sein. Als potentielle Nutznießerin der umstrittenen Justizreform würde Polens katholische Kirche damit allerdings an dieser verhängnisvollen Entwicklung mitschuldig.

Die „Gazeta Wyborcza“, die sich in einem Beitrag mit dem Schweigen der Kirche befasst, titelte: „Der Episkopat in Geiselhaft von Ziobro. Entschädigung für Missbrauchsfälle – ein Damoklesschwert über der Kirche.“

Im Konflikt mit der Europäischen Kommission

Bereits am 16. Dezember 2019 kündigte die EU-Kommission an, sich mit dem Gesetzespaket zu befassen. Zudem forderte die stellvertretende EU-Kommissarin Véra Jourová in einem Brief an Präsident Duda und Premier Morawiecki, von diesem Gesetzespaket Abschied zu nehmen. Sie stellte klar, dass sämtliche legislative Änderungen im Einklang mit den Erfordernissen der Rechtsordnung der Europäischen Union stehen müssen. Und sie warnte vor einer weiteren Verschlechterung der Rechtsstaatlichkeit in Polen. Man solle die Beratungen zu diesem Gesetz unterbrechen und mit der für die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit zuständigen Venedig Kommission Kontakt aufnehmen, um sie zu konsultieren. Diese reiste denn auch nach Polen, allerdings auf Einladung von Senatsmarschall Prof. Grodzki und nicht der Regierung, die für sich keinen Grund sah, mit der Venedig Kommission ins Gespräch zu kommen und sie auf diese Weise ignorierte.

Wohl unter dem Eindruck des „Marsches der 1000 Roben“ beantragte die Europäische Kommission am 14. Januar beim Europäischen Gerichtshof eine einstweilige Verfügung, die Tätigkeit der die Existenz der Richter bedrohenden Disziplinarkammer auszusetzen.

Am 16. Januar 2020 befasste sich das Europaparlament mit dem polnischen Gerichtswesen. Die Abgeordneten kritisierten die Personalunion von Justizminister und Generalstaatsanwalt sowie die faktische Unterordnung der Gerichte unter die Exekutive. Diese Politisierung der Justiz schaffe in Polen eine bedrohliche Situation und bedeute eine direkte Gefährdung der Demokratie. Die Europäische Kommission und der Rat der Europäischen Union wurden aufgefordert, tätig zu werden, um zu verhindern, dass in Polen europäische Grundwerte verletzt werden. Man solle Vorschriften erarbeiten, die klarstellen, dass EU-Mittel an die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit gebunden sind. Die Resolution des Europaparlaments wurde mit 446 Stimmen, 178 Gegenstimmen und 41 Enthaltungen angenommen.

Angesichts des sich verschärfenden Konflikts reiste Verá Jourowá in ihrer Eigenschaft als stellvertretende Vorsitzende der Europäischen Kommission am 28. Januar nach Polen. Sie sprach mit Politikern der Opposition, so mit Senatsmarschall Prof. Grodzki und der Vorsitzenden des Obersten Gerichts, Prof. Małgorzata Gersdorf, ehe sie sich am Abend mit Justizminister Ziobro traf. Sie erläuterte ihm gegenüber, nach Ansicht der Europäischen Kommission ziele das Gesetzespaket auf die Kontrolle des Gerichtswesens durch die regierende Partei und verletze die Rechtsstaatlichkeit. ZIobro erklärte seinerseits, man mache nichts anderes als was in Deutschland und Frankreich die Norm sei. Damit wiederholte er eine Argumentation, die er gemeinsam mit Premier Morawiecki mit einem 100seitigen „Weißbuch“ bereits 2018 in Brüssel vorgebracht hatte und die von der Europäischen Kommission als unzutreffend zurückgewiesen worden war.

Zur Erläuterung: Auch in der Bundesrepublik werden wie in Polen Richter von Politikern ernannt, nicht aber von einer einzigen Partei. So werden Richter beim Verfassungsgericht mit einer 2/3-Mehrheit vom Bundestag gewählt, was der Opposition den Einfluss auf die Wahl sichert. Und die auf diese Weise gewählten Richter fällen im Übrigen oft genug Urteile gegen die Interessen der Regierung und warnen vorab vor nicht verfassungsmäßige Gesetze. Und wenn auch Minister der Länder oder des Bundes auf die Wahl von Richtern Einfluss nehmen, die Möglichkeit, sie danach zu disziplinieren, haben sie nicht. Der Vergleich des polnischen Justizministers führt somit in die Irre und ist geradezu absurd.

Auf der Pressekonferenz gab Verá Jourowá Auskunft über ihr Gespräch mit Justizminister Ziobro. Es habe eine Aufzählung der beiderseitigen Unterschiede zwischen der polnischen Regierung und der Europäischen Kommission gegeben, was im Grunde heißt, dass es bei dieser Begegnung zu keinem ernsthaften Dialog gekommen ist. Wörtlich sagte Frau Jourová: „Ich erklärte sehr entschieden, dass wir über die Einhaltung der Verträge wachen. Wenn die in Mitgliedstaaten angewandten Prinzipien nicht mit dem EU-Recht übereinstimmen, dann müssen wir zu einem Procedere gelangen, das diese Situation verbessert. Wir sind offen für einen Dialog, doch bezüglich der Werte und Prinzipien der Europäischen Union kann es keinen Kompromiss geben.“

Später erklärte Frau Jourová in einem Interview mit dem „Spiegel“, das Gespräch mit Ziobro habe keinerlei Fortschritte gebracht. Die Justizreform werde mit der „Brechstange“ durchgeführt und sei in Wahrheit ein Akt der Zerstörung. Die Reaktion von PiS folgte auf dem Fuße: Was Frau Jourová von sich gegeben habe, sei lügenhaft und ein Angriff auf die Souveränität Polens.

Wer erwartet hatte, Präsident Duda würde angesichts der Proteste im Land, der Stellungnahme des Europaparlaments und der Intervention der Europäischen Kommission von seinem Vetorecht Gebrauch machen, wurde enttäuscht. Nach längerem Zögern unterschrieb er die Gesetze am 4. Februar und setzte sie damit in Kraft.

Im Schatten des Wahlkampfs

Am 10. Mai sind in Polen Präsidentschaftswahlen. Die Parteien haben ihre Kandidaten bestimmt. Wie zu erwarten, tritt Präsident Andrzej Duda zu seiner Wiederwahl an, und die regierenden Nationalkonservativen setzen alles daran, dass der alte Präsident auch der neue sein wird. Ohne seine Bereitschaft, sämtliche von der Regierung erlassenen Gesetze ohne Veto durchzuwinken, wie dies bei ihm der Fall ist, könnte PiS kaum ihre Politik des angeblich „guten Wandels“ fortführen.

In diesem Wahlkampf suggeriert die rechte Presse, Präsident Duda werde von allen Seiten attackiert. Man stellt ihn als Opfer angeblich böswilliger Angriffe dar und erklärt sich zu seinem Verteidiger: Wir lassen es nicht zu, dass unserem Staatsoberhaupt eine solche Verachtung entgegengebracht wird, dass man gegen ihn hetzt, ihn mit Hass überschüttet. So argumentieren diejenigen, die ansonsten der Opposition Verrat an Polen unterstellen, die Richterschaft als ein Relikt des Kommunismus bezeichnen, die Demonstranten, die zum Zeichen des Protests gegen PiS auf die Straße gehen, übel beschimpfen und die für das Kesseltreiben gegen Senatsmarschall Prof. Grodzki verantwortlich sind. Ein typischer Fall von Verdrehen der Tatsachen. Was man selbst an Üblem unternimmt, das projiziert man auf andere.

Am 15. Februar hatte die regierende Kaczyński-Partei in die Warschauer Expo-Halle eingeladen, um Präsident Andrzej Duda als ihren Kandidaten für eine zweite Amtszeit zu präsentieren. Als erster sprach der Parteichef. Er pries den Kandidaten in den höchsten Tönen. Er sei der „Präsident unserer Träume“. Dass er sich nun für eine zweite Amtszeit zur Verfügung stelle sei „eine gute Nachricht für Millionen von Polen, die sich ein gerechtes, starkes, in Europa bedeutsames und unabhängiges Polen wünschen.“ Und – in Anspielung auf die Opposition - eine schlechte Nachricht für all jene, die dies nicht wollen.

Kaczyński versäumte es nicht, an seinen 2010 beim Flugzeugabsturz ums Leben gekommenen Zwillingsbruder Lech, den damaligen Staatspräsidenten, zu erinnern. Was dieser für Polen bedeutet habe, verkörpere nun Duda als sein Nachfolger – ein patriotisch wirkungsvolles Argument, das Premier Morawiecki anschließend aufgriff, indem er Duda als dessen Testamentsvollstrecker bezeichnete.

Andrzej Duda dankte Kaczyński für seine Worte. Er lobte die Reformen, die er gemeinsam mit der Regierung durchgeführt habe und die fortgeführt werden müssten. Auch er bediente sich der schon diabolischen Verdrehung: Das Justizwesen brauche Reformen, damit Polen ein Rechtsstaat sei, mit klugen, unabhängigen Richtern, die selbständig zu denken vermögen.

Interessant ist, was weder Kaczyński noch Duda zur Sprache brachten: Die Inflation von 4,4%, die höchste seit acht Jahren; das sehr langsame Wirtschaftswachstum, das weit hinter den Erwartungen der Regierung zurückbleibt. Ankündigung neuer sozialer Wohltaten wie vor den letzten Parlamentswahlen gab es nicht. Man pries die bislang erreichten sozialen Errungenschaften, für deren Erhalt Duda gewählt werden müsse.

Diese Eröffnung des Wahlkampfes durch PiS wirft die Frage auf, an welches Elektorat sich ihre Wahlpropaganda richtet. Offenbar an Wähler, deren Angst man schürt, durch einen Sieg der Opposition könne für sie das Erreichte verloren gehen. Vor die Alternative gestellt, Stabilität durch die Wahl von Duda oder Unsicherheit und Veränderungen durch einen Oppositionskandidaten, hofft PiS, dass sich die Masse der Wähler für Stabilität entscheidet, und das selbst auf Kosten demokratischer Grundrechte, die in dem Bemühen, sie mit Hilfe eines von der Opposition gewählten Präidenten wiederherzustellen, eine Staatskrise heraufbeschwören würde, wie dies PiS in ihrer Wahlpropaganda suggeriert.

Die Art und Weise dieser Wahlkampferöffnung durch PiS lässt keinen Zweifel darüber aufkommen, was Polen erwartet, sollte Duda die Präsidentschaftswahl gewinnen – ein autoritäres, wenn nicht diktatorisches System. Die Prognosen sehen ihn gegenüber seinen Mitkandidaten deutlich in Führung. Doch es ist unwahrscheinlich, dass er bereits am 10. Mai im ersten Wahlgang gewählt wird. Die Stichwahl bietet somit die Chance, ihm den Sieg letztlich streitig zu machen. Doch dazu müssten die ausgeschiedenen Kandidaten ihre Anhänger dazu aufrufen, für den Gegenkandidaten von Duda zu stimmen, gleich welche politische Formation er vertritt.

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