Trotz Pandemie Präsidentschaftswahl am 10. Mai?
Um Beschlüsse im Kampf gegen die Corona-Pandemie zu fassen, trat der Sejm am 28. März zu einer außerordentlichen Sitzung zusammen. Der Planarsaal war nur schwach gefüllt. Viele Abgeordnete waren von daheim digital zugeschaltet. Die Regierung legte den von ihr erarbeiteten Rettungsschirm vor Er hätte die Grundlage für ein parteiübergreifendes Handeln im Kampf gegen die Coronaseuche sein können. Doch diese Chance wurde vertan. Und dies nicht nur deswegen, weil die nationalkonservative Mehrheit der Abgeordneten Verbesserungsvorschläge der Opposition zurückwies, sondern vor allem, weil sich um 2.00 Uhr in der Nacht zeigte, dass die Regierung mit ihrem Gesetzespaket auch eine Änderung der Wahlordnung verbunden hatte. Bei diesem Junktim handelt es sich, wie aus Kreisen von PiS zu erfahren war, um einen von Jarosław Kaczyński persönlich erstellten Plan. Damit solle die Opposition genötigt werden, ihren Widerstand gegen eine Wahl am 10. Mai aufzugeben. Würde sie - so das Kalkül – das Gesetzespaket wegen des Junktims ablehnen, dann stünde sie als jene dar, die der Nation die nötige Hilfe in der Stunde der Bedrohung versage.
Variante: Briefwahl für Senioren
Was die Änderungen der Wahlordnung betrifft, so dienen diese allein dazu, die von der Opposition geforderte Verschiebung des Wahltermins als grundlos zu erweisen. Für Wählerinnen und Wähler in Quarantäne und über 60 Jahren sehen sie eine Briefwahl vor, die es sonst im polnischen Wahlrecht nicht gibt. Damit wäre deren Teilnahme an der Wahl gesichert und bei Beachtung sonstiger Vorsichtsmaßnahmen eine Ansteckungsgefahr nicht gegeben. Eine höchst leichtfertige Annahme! Dass die Änderung der Wahlordnung zudem verfassungswidrig ist, scheint PiS nicht zu stören. Die ermöglicht nämlich Änderungen der Wahlordnung nur bis zu einem halben Jahr vor dem Wahltermin. Doch das mit PiS-loyalen Richtern besetzte Verfassungsgericht dürfte wohl eine Begründung für diese Ausnahmeregelung finden. Außergewöhnliche Situationen verlangen eben außergewöhnliche Entscheidungen. . .
Die Opposition durchschaute natürlich dieses Spiel und reagierte empört: PiS mache aus dem Sejm einen „Zirkus“, so ein Abgeordneter der Bürgerplattform (PO), der sich für diese Aussage einen Verweis einhandelte. Die Wogen gingen hoch, die Wut in den Reihen der Opposition wuchs. Jarosław Kaczyński sah sich persönlichen Angriffen ausgesetzt: „Ihr Vorschlag ist so, als würden sie mit den nächsten Gesetzen Polen geradewegs wieder zur Volksrepublik machen.“ Und der Präsidentschaftskandidat der Linken sprach von „Schande“ und betonte, für dieses gemeine Spiel würden die Polen den Preis zu zahlen haben. „Über Leichen zur Macht.“
Ablehnung durch den Senat
Alle Proteste nutzten nichts. Die Änderungsvorschläge der Opposition wurden wie gewohnt abgelehnt, das Gesetzespaket mit der PiS-Mehrheit beschlossen. In Kraft ist es damit noch nicht. Als nächstes nahm der Senat, in dem die Opposition über eine knappe Mehrheit verfügt, Stellung. Er ließ keine unnötige Zeit verstreichen und trat bereits am 30. März zusammen. Zunächst sprach der vom Senatsmarschall Grodzki eigens eingeladene Premier Morawiecki. Der bat die Senatoren um unverzügliche Annahme des Rettungsschirms und betonte den Ernst der Lage, die dringliches Handeln erfordere. Frühere Aussagen, man sei gut vorbereitet und habe alles unter Kontrolle, versagte er sich.
Doch die Senatoren kamen mehrheitlich seiner Bitte nicht nach. Als erstes verlangten sie, dass sämtliche Artikel, die nicht direkt die Coronakrise betreffen, aus dem Rettungsschirm gestrichen werden. Das bedeutet die strikte Ablehnung des von Kaczyński ausgeheckten Plans, den 10. Mai als Wahltermin durch Änderungen der Wahlordnung unbedingt einzubehalten.
Auch zu den unmittelbar dem Kampf gegen das Coronavirus dienenden Bestimmungen erteilte der Senat nicht einfach seinen Segen. Er nahm vielmehr an dem Gesetzespaket zahlreiche Änderungen vor. Unter anderem sollen die Arbeiter der aufgrund der Krise stillgelegten Betriebe aus dem Staatshaushalt 70% ihrer normalen Bezüge erhalten. Auch soll die Zahlung von Sozialbeiträgen und Steuern für die Zeit nach der Pandemie aufgeschoben werden. Mit seinen Vorschlägen geht der Senat noch über das Finanzvolumen hinaus, das die Regierung für die Bewältigung der medizinischen und absehbaren wirtschaftlichen Krise vorgesehen hat.
Am 31. 03. befasste sich der Sejm mit der Stellungnahme des Senats. Wie nicht anders zu erwarten, wurde sie von der über die absolute Mehrheit verfügenden Nationalkonservativen zurückgewiesen. Und dies ganz entsprechend ihrer Maxime, dass in der Demokratie einzig und allein der Wahlsieger das Sagen hat. Dass auch die Opposition die Möglichkeit erhalten muss, ihren Beitrag zur Gestaltung der Gesellschaft zu leisten, das wird seit langem von der Kaczyński-Partei ignoriert.
Variante: Briefwahl für alle
Doch es ging am letzten Märztag nicht nur um diese Zurückweisung der Stellungnahme des Senats. Es ging auch um ein neues Projekt zur Veränderung der Wahlordnung, das sich Kaczyński hat einfallen lassen. Statt angesichts des in der Gesellschaft wachsenden Widerstandes gegen den Wahltermin des 10. Mai endlich einer Verschiebung zuzustimmen, machte er nun den Vorschlag einer allgemeinen Briefwahl. Keine Wählerin und kein Wähler müssen außer Haus gehen, um ein Wahllokal aufzusuchen, womit die Gefahr einer Ansteckung durch das Corona-Virus gebannt sei. Damit setzte sich Kaczyński erneut über alle rechtlichen Bedenken hinweg, ganz abgesehen von der Bewältigung des organisatorischen Aufwands in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit und der Ansteckungsgefahr für und durch die Helfer sowie für die Wähler auf dem Weg zum Briefkasten.
Doch gegen dieses – mit Verlaub gesagt idiotisches – Projekt erhob sich selbst in den eigenen Reihen Widerstand. Jarosław Gowin, Chef der mit PiS verbundenen Partei „Verständigung“ und Minister für Wissenschaft und Bildung, lehnt diesen Vorschlag entschieden ab. Er möchte die Präsidentschaftswahl am Liebsten bis ins kommende Jahr verschieben und fühlt sich durch das Kaczyński-Projekt unter Druck gesetzt. Er drohte, mit seinen Leuten die Regierung zu verlassen und ihr die Interstützung zu verweigern, was bedeuten würde, dass PiS ihre absolute Mehrheit verlieren würde. Kaczyński hoffte auf Gowins Gesinnungswandel und vertagte die Entscheidung über sein erneutes Projekt auf den 03. April.
Konflikt im Regierungslager
Am frühen Morgen des 3. April hatte Jarosław Kaczyński nochmals in einer Radiobotschaft seine Position vertreten, die Präsidentschaftswahl am 10. Mai per allgemeiner Briefwahl stattfinden zu lassen. Verantwortlich für ihre Durchführung solle die Post sein. Dies würde bedeuten, dass den Briefboten die Last der Zustellung und Abholung der Wahlunterlagen für die rund 30 Millionen wahlberechtigten Bürger zu tragen hätten; eine kaum zumutbare und organisatorisch schwer zu bewältigende Aufgabe. Aber Kaczyński kündigte auch einen Plan B an, der wie der Vorschlag von Gowin eine Verschiebung der Präsidentschaftswal vorsieht, diese allerdings nicht begrenzt auf die Zeit der Bedrohung durch das Corona-Virus, sondern gleich für mehrere Jahre.
Auf der anschließenden Sejmsitzung lehnte, wie angekündigt, die Partei von Gowin den 10. Mai als Wahltermin entschieden ab. Einer ihrer Abgeordneten verglich das rechte Regierungsbündnis mit einem Dreimaster. Der höchste Mast sei ohne Frage PiS, aber die kleineren Masten, die Partei von Ziobro „Solidarisches Polen“ sowie die von Gowin geführte „Verständigung“ seien auch notwendig, damit das Schiff manöverierfähig bleibe. Daher müsse der Vorschlag von Gowin ernsthaft in Erwägung gezogen werden. Im Übrigen verdiene es Präsident Duda nicht, dass ihm eine zweite Amtszeit unter der fragwürdigen Beibehaltung des Wahltermins gewährt werde.
Diese konsequente Haltung der Gowin-Partei nötigte Kaczyński, auf seinen Plan B zurückzugreifen. Nun forderte seine Partei eine Verlängerung der Amtszeit von Präsident Duda bis in das Jahr 2022. Dazu wäre aber eine Verfassungsänderung erforderlich, der 2/3 der Abgeordneten zustimmen müssten, eine Mehrheit, über die die Nationalkonservativen nicht verfügen. Die Opposition sprach sich geschlossen gegen diesen Plan aus und forderte, wie gehabt, eine Verschiebung der Wahl einzig und allein aufgrund der Bedrohung von Leib und Leben der Bürger, wozu keine Verfassungsänderung notwendig ist.
Eine doppelte Überraschung
Die Sejmsitzung am 6. April brachte gleich zwei Überraschungen: Die erste betraf den Rücktritt von Jarosław Gowin als Vizepremier und Minister für Wissenschaft und Bildung, nicht aber als Vorsitzender seiner Partei „Verständigung“. Ihm war es nicht gelungen, Kaczyński für seinen Vorschlag zu gewinnen, mit einer Verfassungsänderung die Amtszeit von Präsident Duda bis ins Jahr 2022 zu verlängern, um auf diese Weise eine Wahl während der Corona-krise zu vermeiden. Doch er verzichtete auf den Fraktionszwang, um die Stabilität der Regierung nicht zu gefährden, so dass seine 18 Abgeordneten frei waren, für das Projekt zu stimmen.
Die zweite Überraschung war das Abstimmungsergebnis über das Kaczyński-Projekt einer allgemeinen Briefwahl am 10. Mai. Begründet wurde es u. a. unter Hinweis auf die Kommunalwahlen in Bayern, bei denen die Stichwahl wegen der Corona-Bedrohung per Briefwahl erfolgte. Warum sollte man in Polen nicht das machen, was in Bayern gut gelaufen sei? Allerdings betraf die Briefwahl in Bayern nicht 30 Millionen Wählerinnen und Wähler, sondern lediglich eine Million, von der nur rund 50% von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht hatten.
Die zweite Überraschung war das Abstimmungsergebnis: 228 Abgeordnete des Regierungslagers hatten für, 228 gegen den Gesetzesentwurf gestimmt, der damit aufgrund der Pattsituation abgelehnt worden war. Es gab 6 Neinstimmen aus den Reihen von PiS und drei Enthaltungen von Abgeordneten der Gowin-Partei. Erstmals war ein von Kaczyński gewolltes Gesetz im Sejm gescheitert, was die Abgeordneten der Vereinigten Rechten mit Bestürzung, die der Opposition mit Applaus bedachten.
Variante: Entscheidung über eine mögliche Verschiebung der Präsidentschaftswahl trifft der Gesundheitsminister
Doch Kaczyński gab sich nicht geschlagen. Für den Abend wurde eine erneute Sejmsitzung anberaumt. Die Zwischenzeit nutzte PiS, um jene Abgeordneten zu mobilisieren, die aus unterschiedlichen Gründen der Sitzung fern geblieben waren und nun aufgefordert wurden, ihre Stimme elektronisch abzugeben. So wurde am Ende doch das Briefwahlgesetz in etwas abgeänderter Form mit einer Mehrheit von 230 zu 224 Stimmen angenommen. Eine Klausel sieht eine zeitnahe Verschiebung des Wahltermins vor, sollte die gesundheitliche Bedrohungslage dies nahelegen. Die Entscheidung darüber liegt beim Gesundheitsminister, der selbst von Beruf Arzt ist.
Senat: Bedenken bleiben, die Prüfung des Gesetzes wird dauern
Doch damit ist über Termin und Art der Präsidentschaftswahl immer noch nicht die letzte Entscheidung gefallen. Denn das vom Sejm verabschiedete Gesetz liegt nun beim Senat. Senatsmarschall Grodzki hat bereits angekündigt, dass der Senat es auf seine Verfassungsmäßigkeit und praktische Durchführbarkeit unter Wahrung der für eine freie und geheime Wahl, geltenden Kriterien gründlich prüfen zu lassen. Und das dauert. 30 Tage stehen dem Senat dazu zur Verfügung. Sollte er diese Zeit voll nutzen, wäre schon aus diesem Grund eine Wahl am 10. Mai nicht möglich.
Zudem bleiben die grundsätzlichen Bedenken, die Grodzki ein weiteres Mal betonte: „Wenn die Erfüllung des Aktes einer demokratischen Wahl mit der Bedrohung der eigenen und der fremden Gesundheit sowie des Lebens verbunden ist, dann muss man sich – insbesondere in unserer mitteleuropäischen und christlichen Kultur – die Frage stellen, was wichtiger ist: das Leben und die Gesundheit der Menschen oder der Wahlakt.“
Eine Blitzumfrage ergab im Übrigen, dass bei Anhalten der Corona-Krise über 80% nicht wählen werden. Nur 3% haben sich klar für ihre Stimmabgabe entschieden. Sollte sich diese Statistik am Wahltag bestätigen, wäre die Anerkennung einer solchen Wahl ein demokratisches Desaster.
Fälschung von Wahllisten
Wie verhalten sich angesichts dieser Situation die Präsidentschaftskandidaten der Opposition? Wahrscheinlich werden sie die Wahl boykottieren, sollte sie tatsächlich am 10. Mai stattfinden. Dies haben sie jedenfalls bis auf den politisch bislang kaum bekannten, sehr nationalistisch eingestellten Bierproduzenten Mark Jakubiak bereits angekündigt. Und bei dem handelt es sich um eine sehr fragwürdige Kandidatur. Am letzten Tag der Anmeldefrist gab er sie bekannt. Er ließ bereits wissen, die Wahl nicht zu boykottieren.
Doch wird er überhaupt kandidieren können? Gegen ihn läuft bereits ein Prüfungsverfahren, ob seine für die Zulassung erforderliche Liste von über 100 000 Unterschriften gefälscht ist. Unabhängig davon hat er gegen die Wahlordnung verstoßen, weil er nach eigener Angabe diese Namen bereits seit Dezember 2019 gesammelt habe, was aber erst ab dem 5. Februar 2010 erlaubt war. Der Verdacht liegt nahe, dass es sich bei diesem Kandidaten lediglich um eine Figur auf dem Schachbrett von Kaczyński handelt, dazu ausersehen, ohne auch nur die geringste Chance auf seine Wahl zu haben, den Boykott der Oppositionskandidaten zu durchkreuzen, um auf diese Weise die Wiederwahl von Duda am 10. Mai sicherzustellen.
Inzwischen hat sich das Geheimnis um die Jakubiak-Listen aufgeklärt. Danach erschien am 10. März auf Facebook eine russisch abgefasste Annonce, mit der Interessenten eingeladen wurden, sich in Warschau für 40 Zł. die Stunde als Scheiber zu verpflichten. Gemeldet haben sich vor allem in Polen lebende junge Ukrainer. Anders als bei Polen, war bei ihnen nicht mit kritischen Nachfragen zu rechnen. Einer dieser angeworbenen Schreiber hat sich einen Monat später bei der „Gazeta Wyborcza“ gemeldet und im Detail über ihre Tätigkeit berichtet. Sie bestand darin, auf Karten Namen und Adressen sowie sogar die Identifikationsnummern einzutragen. Das Feld für die Interschrift blieb indessen frei. Es gehe, so sei ihnen gesagt worden, um die Erstellung von Wahllisten im amtlichen Auftrag. Dass es sich um Wahllisten für Jakubiak gehandelt habe, gehe daraus hervor, dass auch Karten mit der Anschrift seines Wahlteams zu schreiben waren. Der Informant gab zudem den Ort des Geschehens und die Namen der Organisatoren bekannt.
Rechtsanwalt Giertych, der eine Überprüfung der Jakubiak-Listen gefordert hatte, erhielt von der Wahlkommission die Nachricht, dass Unregelmäßigkeiten festgestellt wurden und die Staatsanwaltschaft informiert worden sei. Für derartige Wahlfälschungen drohen den Urhebern bis zu drei Jahren Haft.
Mark Jakubiak gab zwar die Fälschungen zu, behauptet aber, davon nichts gewusst zu haben. Offenbar gäbe es Leute, die ihn diskkreditieren wollen. Die Auseinandersetzung um die Präsidentschaftswahl gleicht damit einer Kriminalgeschichte.