Steht Jarosław Kaczyński über dem Gesetz?
Am 10. Jahrestag des Absturzes der Präsidentenmaschine bei Smolensk begab sich Jarosław Kaczyński, Chef der nationalkonservativen PiS, mit einer Delegation zum Denkmal seines dabei ums Leben gekommenen Zwillingsbruders und Präsidenten Lech sowie zum Grab seiner Mutter. Damit verstieß er sowohl gegen das wegen der Corona-Krise verhängte Versammlungsverbot als auch gegen das Verbot, den Friedhof zu betreten.
Die Drehbuchautorin Ilona £epkowska richtete aus diesem Anlass an Jarosław Kaczyński folgenden offenen Brief:
Sehr geehrter Herr Jarosław Kaczyński!
Ich muss Ihnen an diesem im Zeichen der Pandemie stehenden ungewöhnlichen Karsamstag diese wenigen Worte schreiben. Ich schreibe sie bewusst auf Facebook, wenngleich ich, wie Sie sich denken können, durchaus einen anderen, privaten Kanal nutzen könnte, Sie zu erreichen. Ich möchte jedoch, dass das, was ich Ihnen zu sagen habe, nicht irgendwo auf dem Weg zu den Leuten verloren geht, deren Aufgabe seit langem darin besteht, darüber zu wachen, dass Sie in Ruhe und mit einem guten Selbstgefühl leben können.
Heute sah ich im Internet Ihr Foto, wie Sie die auf der Allee des Powązki-Friedhofs parkende Limousine verlassen, wo Sie sich trotz der Verbote befanden, um das Grab Ihrer Mutter aufzusuchen.
Damit zeigten Sie eine tiefe Verachtung und einen völligen Mangel an Verständnis für die Gefühle von Millionen gewöhnlicher Polen, Menschen, in deren Interesse Sie angeblich seit Jahrzehnten tätig sind. Gegenüber den Polen, denen es an diesen Feiertagen nicht gegeben ist, die Gräber ihrer Angehörigen aufzusuchen, denn ihnen, den einfachen Polen, ist dies verboten.
Ich schätze die Liebe zu Ihrer Mutter, die Fürsorge, die Sie ihr gemeinsam mit Ihrem Bruder erwiesen haben, und ich verstehe den Schmerz ihres Verlustes. Doch die Liebe zu den Eltern und der Schmerz über ihren Tod sind eines der Dinge, die Menschen miteinander verbinden sollen. Stattdessen werden sie heute zu einer Trennungsmauer zwischen Ihnen und den übrigen Polen.
Indem Sie mit der Limousine und unter Personenschutz (wovor fürchteten Sie sich auf diesem Weg, auf dem menschenleeren Friedhof, Herr Präses?) unterwegs waren, zeigten Sie Ihren Landsleuten, dass Ihr Schmerz mehr bedeutet und wichtiger ist. Denn sie KÖNNEN. Denn Ihnen STEHT ES FREI, ihn zu zeigen. Sie fahren nach Powąski – wo auch ich das Grab meiner Nächsten habe – wie ein König zu einer Privatkapelle. Wie ein Kaiser zum Mausoleum seiner Ahnen in seinem Privatpalast.
Sie zeigten nicht zum ersten Mal, wohl aber erstmals in dieser besonderen Zeit, die eine Ausnahmezeit sein soll, eine Zeit wechselseitiger Empathie, Solidarität und Einfühlsamkeit, dass Sie sich für etwas Besseres, Wichtigeres halten, für jemanden, für den Verbote und Gebote nicht gelten.
Ich glaube, das wird sich für Sie und Ihr politisches Lager rächen. Ich wünsche Ihnen nichts Böses, denn das ist nicht meine Art und nicht mein Charakter, aber ich sage Ihnen aus tiefer Überzeugung, dass Ihre Landsleute so etwas nicht vergessen. Von welchen Beratern sind Sie umgeben, dass keiner Sie von dieser Visite auf dem Friedhof abhielt? Das sind keine Berater, sondern Claqueure oder Feiglinge. Gefährlich ist jedoch, dass diese Sie auch in anderen Fragen beraten, die für die Existenz unserer Gesellschaft und für das Wohl und Wehe unserer Nation fundamental sind.
Ich schreibe Ihnen dies als eine Person, die sich in den Bedürfnissen und Gefühlen der Polen gut auskennt, was die Millionen von Zuschauern der von mir geschaffenen Serien belegen. Und mit diesen Millionen Zuschauern, alles ganz normale Polen, sage ich Ihnen – Sie haben einen großen Fehler begangen. Den Menschen, die gleichfalls ihre Eltern lieben, die sich aber an die ihnen von ihrer Regierung auferlegten Verbote halten, haben Sie mit Geringschätzung bedacht. Eine Schande, mein Herr.
Es ist zwar schon zu spät, aber würde mich jemand aus Ihrer Umgebung fragen, was ich Ihnen geraten hätte – geraten hätte ich Ihnen, nicht zum Grab Ihrer Mutter zu fahren, wenngleich Ihnen dies sehr schwer gefallen wäre; geraten hätte ich Ihnen, an diesem Tag bei den gewöhnlichen Polen zu bleiben, denen es nicht erlaubt war, Friedhöfe zu betreten. Vielleicht würde ich Ihnen sogar raten, sich eine Träne abzuwischen, würden Sie sich auf diese Weise äußern. Ich versichere Ihnen, mit derlei Worten wäre Ihrer Partei ein Zuwachs von einigen Prozenten sicher…
Habe ich Angst, Ihnen zu schreiben? Nein. Denn ich fürchte im Leben ohnehin wenig und ganz gewiss nicht – was die mir Nahestehenden und meine Bekannten wissen – die Wahrheit zu sagen; davor habe ich niemals Angst… Also schwerlich, dass ich mit 66 Jahren beginne, mich zu fürchten, dem einfachen Abgeordneten Jarosław Kaczyński die Wahrheit zu sagen.
Zum diesjährigen Ostern und für die Zeit danach wünsche ich Ihnen, zu überlegen, was Sie den Polen zu Ihrem Besuch auf dem Powązki-Friedhof sagen möchten. Denken Sie drüber nach, lieber spät als gar nicht; den guten Rat gebe ich Ihnen.
Drehbuchautorin Ilona £epkowska