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100 Jahre Trianon

Im Sommer des Jahres 1957, so jedenfalls meine Erinnerung, besuchte ich erstmals Ungarn. Eingeladen hatte mich ein katholischer Pfarrer, den ich in der Lutherstadt Wittenberg als Gast des Pfarrhauses kennengelernt hatte. Bei ihm verbrachte ich meinen Urlaub und gewann einen Eindruck vom dortigen kirchlichen Leben unter kommunistischer Unterdrückung, das in manchem anders war als das, was ich in der DDR gewöhnt war.

So schwelgten diese Landpfarrer auf ihren Konventen mitunter in Nostalgie. Sie berichteten davon, dass sie in früheren Zeiten im Kutschwagen und im vollen Ornat über Land gefahren seien, um die Schulaufsicht auszuüben – wohl mehr Herren als Diener der Gläubigen, die mit einem Gemisch aus Angst und Ehrerbietung vor ihnen ihre Mützen zogen. Heute trauten sie sich kaum noch, außerhalb der Kirchmauern in Soutane zu erscheinen, die man als ein herrschaftliches Gewand betrachte und das sie nach Verlust an Macht und Einfluss in der Öffentlichkeit nicht mehr tragen mochten.

Das Spezifikum des ungarischen Nationalismus

Doch ich erfuhr im trauten Kreis auch noch etwas anderes, zu dem sich diese Pfarrer öffentlich nicht bekennen durften – ihren Nationalismus. Es war zwar kein Nationalismus von auftrumpfender Art, sondern ein Nationalismus aus erfahrener nationaler Demütigung, ein traumatischer Revisionismus, der ihre Erzählung von der einstigen Größe Ungarns prägte.

Ich gestehe, bis zu diesem Zeitpunkt von der Geschichte Ungarns nur wenig gewusst zu haben. In den drei Wochen, die ich bei den ungarischen Landpfarrern verlebte, wurde meine Wissenslücke reichlich gefüllt. Ein Datum spielte dabei eine entscheidende Rolle – der 4. Juni 1920. An diesem Tag setzte die ungarische Delegation unter ihrem Chef Ágost Benárd im Versailler Palast Trianon ihre Unterschrift unter den Friedensvertrag.

Ungarn – ein Opfer der Neuordnung Mitteleuropas

Nach dem Ersten Weltkrieg vollzog sich eine politische Neuordnung Mitteleuropas. Aus dem Zusammenbruch der Wiener und Berliner Monarchien sowie des russischen Zarentums entstanden neue Staaten oder erlebten, wie Polen, nach einer langen Phase des Verlusts der Eigenstaatlichkeit ihre Wiedergeburt. Anders Ungarn. Auch die Magyaren hatten wie andere Völker unter der Herrschaft der Habsburger gelitten und mehrfach versucht, sich durch Aufstände zu befreien. Und sie erzielten einem Teilerfolg, der ihnen nach dem Ersten Weltkrieg zum Verhängnis wurde: 1867 erhielten sie im Rahmen der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn eine auf die Regelung innerer Angelegenheiten beschränkte Autonomie. Die Finanz-, Außen- und Verteidigungspolitik verblieb in der Kompetenz des Wiener Hofes.

Aufgrund dieser politischen Konstruktion, bei der der Kaiser zugleich ungarischer König war, sah sich Ungarn, wenngleich widerwillig, genötigt, an der Seite Österreichs in den Krieg zu ziehen. Damit zählte Ungarn nach Kriegsende zu den Verlierern und wurde von den Siegermächten entsprechend behandelt.

Hinzu kam, dass das Königreich Ungarn ein Vielvölkerstaat war. Innerhalb seiner Grenzen lebten 16% Rumänen und 10% Slowaken. Dazu reichlich Juden und, in geringerer Anzahl, Deutsche, Ukrainer und Serben. Und weil die von der siegreichen Entente mehr oder weniger diktierte Neuordnung Mitteleuropas die Bildung von Nationalstaaten vorsah (was angesichts der ethnischen Verhältnisse kaum durchführbar war), verlor Ungarn Zweidrittel seines Vorkriegsterritoriums, vor allem an Rumänien und den von Slowaken bewohnten östlichen Teil der Tschechoslowakei. Gleichzeitig befanden sich damit gut drei Millionen Ungarn außerhalb der neuen Landesgrenzen.

Revisionismus als Folge nationaler Katastrophe

Angesichts dieser Fakten kann es kaum verwundern, dass die Ungarn in dem Friedensvertrag von Trianon die größte Katastrophe ihrer Geschichte sehen. Sie bildet den Nährboden für einen Revisionismus und macht blind für die Frage nach dem eigenen Anteil an diesem nationalen Unglück. Man sucht die Schuld allein bei den anderen, bei den in ihren Entscheidungen gegenüber Ungarn rücksichtslosen und ungerechten Siegermächten sowie bei den einstigen Minderheiten, zumal bei Slowaken und Rumänen, denen man Eigennutz und Verrat vorwirft. Man will die gegen sie verfolgte Politik der Assimilation mit all ihren Einschränkungen von Minderheitenrechten nicht wahrhaben. In Undankbarkeit hätten sie das Haus verlassen, in dem es ihnen doch so gut ergangen sei.

Dabei gleicht dieser Revisionismus einem sich über ein Jahrhundert erstreckenden Phantomschmerz, ohne Aussicht, die amputierten Glieder jemals zurückzuerhalten.

Der Revisionismus der Zwischenkriegszeit

Unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkriegs erlebte Ungarn eine Phase politischer Turbulenzen mit bürgerkriegsartigen Zuständen und einer zeitweiligen bolschewistischen Räterepublik. Als Chef einer Gegenregierung und Befehlshaber einer sogenannte „Nationalarmee“ setzte ihr der ehemalige österreich-ungarische Flottenadmiral Miklós Horthy (1868-1957)im Herbst 1919 ein Ende. Er übernahm für ein Vierteljahrhundert die Führung des Landes. Die aus dem Habsburger Kaisertum herausgelöste Konstitutionelle Vorkriegsmonarchie wurde wieder hergestellt, allerdings ohne einen königlichen Regenten. Den vertrat Horthy als Reichsverweser mit weitgehenden, für ein autoritäres System charakteristischen Vollmachten.

Eine Analyse seiner Regierungszeit (1920-1944) liefert den Beweis für den inneren Zusammenhang und die wechselseitige Bedingtheit von Revisionismus, Nationalismus und Autoritarismus. Am Tage der Unterzeichnung des Vertrages von Trianon ließ Horthy im ganzen Lande die Glocken läuten, und dies nicht als dankbares Zeichen des Friedens, sondern als ein mahnender Weckruf, die Schmach von Trianon nicht zu vergessen und auf die Wiederherstellung des status quo ante zu hoffen. Unter ihm wurde der Revisionismus zur nationalen Ideologie. In den Schulen eröffnete und beschloss ein Gebet um „Auferstehung des Vaterlandes“ den täglichen Unterricht. Hunderte Denkmäler entstanden im ganzen Land, um die Erinnerung an Trianon wachzuhalten. Eine eigens gegründet Revisionistische Liga sorgte durch Publikationen und Veranstaltungen für eine anhaltende revisionistische Stimmung unter der Bevölkerung. Die Forderung nach Rückkehr der verlorenen Gebiete führte bei den Nachbarn, zumal bei Slowaken, Rumänen und Serben, zu entsprechenden Gegenreaktionen. Dem Slogan „Alles zurück!“ begegnete man mit einem „Nicht ein Krümel Erde!“ Und es blieb nicht bei einem propagandistischen Schlagaustausch. Die Tschechoslowakei, Rumänien und Jugoslawien schlossen sich zur Kleinen Entente zusammen und versicherten sich des gegenseitigen Beistands für den Fall, dass Ungarn versuchen sollte, gewaltsam Grenzkorrekturen herbeizuführen.

Doch die Kleine Entente vermochte es nicht, Teilerfolge der revisionistischen Politik Horthys zu verhindern. In der Hoffnung, bei Hitler Unterstützung für seine Gebietsansprüche zu finden, hatte der Reichsverweser in den 1930er Jahren eine Bündnispolitik mit dem Deutschen Reich angestrebt. Die zahlte sich aus, als auf Hitlers Druck 1938 in den Wiener Schiedssprüchen Ungarn von Magyaren bewohnte slowakische und rumänische Gebiete zugesprochen und von der ungarischen Armee widerstandslos besetzt wurden. Doch dieser Erfolg war nicht von Dauer und wurde teuer erkauft.

Eine erneute nationale Katastrophe

Als die deutschen Truppen am 1. September 1939 in Polen einfielen, verhielt sich Ungarn noch neutral. Auch an den Kämpfen an der Westfront beteiligte sich das Land nicht. Doch 1941, mit dem Überfall auf die Sowjetunion erklärte auch Ungarn Moskau den Krieg. Mit einem Aufgebot von rund 200 000 Soldaten kämpften Ungarn an der Seite der deutschen Wehrmacht. Der Blutzoll war hoch. Jeder zweite sollte die Heimat nicht wiedersehen. Auch Horthys Sohn kam als Jagdflieger ums Leben.

Als sich der Krieg dem Ende näherte und die deutsche Niederlage längst feststand, versuchte Horthy zu retten, was nicht mehr zu retten war. Im Oktober 1944 ließ er durch Emissäre prüfen, ob die Sowjetunion zu Waffenstillstandsgesprächen bereit wäre. Einen Tag später besetzen deutsche Truppen das Land. Horthy wurde verhaftet und in Bayern interniert, wo er später von amerikanischen Truppen befreit wurde. Aus der Ferne musste er schmerzlich erleben, wohin er das Land durch seine revisionistische Politik geführt hatte. Nicht nur die zurückgewonnenen Gebiete gingen nach Kriegsende wieder verloren, darüber hinaus büßte Ungarn als Satellitenstaat des sowjetischen Imperiums seine Unabhängigkeit ein und der Freiheitswille der Nation wurde über Jahrzehnte gebrochen, als im Herbst 1956 sowjetische Panzer den Volksaufstand niederwalzten. Tausende starben in den Kämpfen, adere wurden verhaftet, eingekerkert, hingerichtet. 200 000 Ungarn ließen Hab und Gut zurück und flüchteten in den Westen. Im Land herrschte Friedhofsruhe.

Es versteht sich, dass im kommunistischen Ungarn von einem Revisionismus keine Rede sein konnte. Die zahlreichen Denkmäler, die an Trianon gemahnten, wurden zerstört. Doch was aus der Öffentlichkeit verbannt war, blieb in den Herzen vieler Ungarn bewahrt.

Die Wiederkehr des Revisionismus

Mit dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums begann 1989/90 in Mitteleuropa die Errichtung einer neuen, nunmehr demokratischen Ordnung, Die frei gewählte ungarische Regierung bestätigte die bestehenden Grenzen als Voraussetzung für das von ihr erstrebte Ziel, baldmöglichst in die westlichen Strukturen von NATO und Europäischer Union aufgenommen zu werden. An einen Revisionismus war unter diesen Voraussetzungen nicht zu denken, es sei denn, man würde die Unterstützung der gut zwei Millionen außerhalb der Landesgrenzen lebenden Ungarn, die mitunter das Nachbarschaftsverhältnis zur Slowakei und zu Rumänien belastete, bereits als revisionistisch einstufen.

Die Situation änderte sich, als 2010 Viktor Orbán und seine Fidesz die Regierungsgewalt übernahmen. Die Erinnerung an Trianon wurde nun bewusst geweckt und gepflegt, der 4. Juni zum „Tag Nationaler Einheit“ erklärt, einer Einheit, die auch die Millionen Auslandsungarn mit umfassen sollte. Die Vorstellung des einstigen „Großungarn“ kehrte ins öffentliche Bewusstsein zurück, schmückte als Aufkleber die Wagen besonders national eingestellter Magyaren. Auf dem Facebook-Profil von Orbán vom Dezember 2019 war während einer Sitzung der Parteispitze im Hintergrund eine Ungarnkarte in den Grenzen von 1920 zu sehen. Eine Umfrage aus dem Jahr 2018 ergab, dass Trianon in der Bevölkerung nicht in Vergessenheit geraten war. Für 74% der Befragten ist der dort unterzeichnete Vertrag die größte nationale Katastrophe in der über tausendjährigen Geschichte ihres Landes.

Auch Miklós Horthy kommt nun zu neuen Ehren. 2017 erregte Orbán mit seiner Aussage Aufsehen, Horthy sei ein „Ausnahmepolitiker“ gewesen, der trotz Trianon Ungarn von den Knien erhoben und das Land neu aufgebaut habe. Jüdische Verbände reagierten empört und verwiesen auf die von Hoprthy erlassenen judenfeindlichen Gesetze und seine Mitverantwortung für die Ermordung von hunderttausenden ungarischer Juden in den Gaskammern von Auschwitz.

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