Das Gespenst des Neomarxismus
Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Neomarxismus
Es fällt einem westlichen Beobachter schwer, die polirische Entwicklung und gesellschaftliche Stimmungslage in Polen zu verstehen: Die ständigen Verletzungen der Rechtstaatlichkeit; die fast vollständige Kontrolle über das Gerichtswesen durch die nationalkonservative Regierung; die Missachtung parlamentarischer Regeln, wodurch die Opposition von der politischen Mitgestaltung des Landes gänzlich ausgeschlossen ist; die Dreistigkeit, mit der jede Aufforderung der Europäischen Kommission, die Rechtstaatlichkeit wiederherzustellen, zurückgewiesen wird. Unter ihrem Parteichef Jarosław Kaczyński beansprucht „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) den nationalen Alleinvertretungsanspruch, der Kompromisse mit der Opposition ausschließt und der den politischen Gegner zu einem mit allen Mitteln zu bekämpfenden Feind macht. Während in den westlichen Ländern angesichts der Coronakrise parteipolitische Auseinandersetzungen in den Hintergrund treten, werden sie in Polen von PiS weiterhin mit aller Härte ausgetragen, wie ihr allein vom Machtinteresse bestimmtes ebenso engstirniges wie risikoreiches Festhalten am 10. Mai als Termin für die Präsidentschaftswahl zeigt.
Diese politische Bestandsbeschreibung findet in der Gesellschaft ihre Entsprechung. Sie ist tief gespalten. Der Riss geht durch die Familien; langjährige Freundschaften zerbrechen, über Jahrzehnte gewachsene deutsch-polnische Städtepartnerschaften werden aufgekündigt. Eine Gemeinschaft aufrechtzuerhalten und einen Dialog zu führen, das erweist sich als unmöglich, wo PiS das Denken und Fühlen der Menschen bestimmt. Wer es wagt, an der Kaczyński-Partei Kritik zu üben, der muss damit rechnen, wie ich selbst erfahren musste, als „Kommunist“ beschimpft zu werden.
Neomarxismus als Inbegriff nationaler Bedrohung
Diese kurz umrissene Situationsbeschreibung erklärt sich durch das Syndrom einer von PiS geschürten fundamentalen Bedrohung Polens in seinem national-katholischen Selbstverständnis. Konkret gehe sie von westlich infiltrierten liberalen und linken Kräften aus, denen unterstellt wird, die in der Geschichte mühsam erworbene national-christliche Zivilisation zerstören zu wollen. Als konkrete Elemente dieser angeblich nationalen Bedrohung gelten eine Liberalisierung der Abtreibungsgesetzgebung, ein durch die Gender-ideologie vorangetriebener, die traditionelle Familienordnung, wie man glaubt, außer Kraft setzender Feminismus, eine als gesellschaftlich bedrohlich charakterisierte Förderung von Minderheitenrechten, zumal die von Homosexuellen, sowie die schulische Einführung eines Sexualkundeunterrichts. Zur Wahrung des Polentums sei der Kampf gegen diese Tendenzen mit aller Entschiedenheit zu führen, ein Kampf gegen das Böse schlechthin. Und dieses Böse hat einen Namen – Neomarxismus.
Warum Neomarxismus?
Angesichts solcher Argumentation fragt sich ein westlicher Beobachter verwundert, wie man dazu kommt, die als nationale Bedrohung ausgemachten Tendenzen unter dem Begriff „Neomarxismus“ zu bündeln. Schließlich lassen sie sich kaum aus einer Analyse des Marxismus herleiten, und ein solcher Versuch wird von ihren Vertretern auch gar nicht unternommen. So gewinnt der „Neomarxismus“ etwas geradezu Gespenstisches, eine furchteinflößende unwirkliche Wirklichkeit.
Der Sache kommt man näher, indem man sich zwei bischöfliche Aussagen vor Augen führt. Im August 2019 sagte der Krakauer Metropolit, Erzbischof Marek Jędraszewski: „Die rote Pest überzieht schon nicht mehr unser Land, wohl aber die neue, neomarxistische, die unsere Seelen, unsere Herzen und unser Denken in Besitz nehmen möchte: keine rote, sondern eine regenbogenfarbige.“ Und Bischof Ignacy Dec äußerte sich im April 2019 wie folgt: „Einst wehte ein feindlicher Wind vom Osten zu uns herüber. Er brachte uns eine utopische Ideologie und Praxis, die uns Polen so viel Unglück bescherten. […] Seit einiger Zeit weht, diesmal vom Westen her, ein utopischer Wind, ausgehend von Vertretern der bekannten marxistischen Ideologie, die lediglich ihre Farbe gewechselt haben; ein kultureller Marxismus, ein Geschlechterkampf anstelle des Klassenkampfes. Sie forcieren eine Gender-Ideologie und mit ihr eine Sexualerziehung der Kinder.“
In beiden Zitaten geht es um einen Vergleich der gegenwärtigen Situation mit der Bedrohung zu Zeiten der kommunistischen Unterdrückung. Wie damals alle nationalen Kräfte, zumal durch die Kirche, gesammelt wurden, um in jener Gefahr zu bestehen, so sei dies auch heue notwendig. Es seien die gleichen Kräfte, wenngleich in der Wolle gefärbt, die heute zum die Nation und ihre katholische Identität zu ihrem Angriffsziel machen würden. Und sie stammen nicht aus der Nation selbst, sondern bilden eine westliche Infiltration, die Polen zu einem Opfer macht. Diese von außen kommende Gefahr abzuwehren, bedeutet, die eigene Unschuld zu wahren.
Ein Kampf gegen das Böse schlechthin
Unter dem Vorzeichen neomarxistischer Bedrohung geht es nicht mehr um Argumentation, nicht um praktikable Problemlösungen, sondern um einen Kampf gegen das Böse schlechthin. Für diese Art von Zuspitzung lieferte ein Vertreter der Kirche eine geradezu apokalyptische Begründung. So sagte der geistliche Professor Tadeusz Guz, Dekan an der Lubliner Katholischen Universität (KUL), im Mai 2018 in seiner Vorlesung: „Ich fand in der bisherigen Weltgeschichte keine Ideologie, die der Strategie des gefallenen Engels mehr entsprochen hätte als die der neuen Linken. Sie gefiel Satan bislang am besten. Somit ist der Neomarxismus eine Apotheose des Satanismus; er ist de facto Satanismus.“
Welche Auswirkungen eine derartige „metaphysische“ Aussage hat, belegen die Worte eines nationalkonservativen „Experten“, der als dringliche Warnung vor einer schulischen Sexualerziehung in einem Interview erklärte, bei ihr ginge es letztlich um die „Erziehung genetischer Revolutionäre“. Durch sie wolle man „Menschen heranbilden, die der Kirche den Rücken kehren und die traditionelle Gesellschaft zerstören, um auf diese Weise die neue, herrliche Welt des sozialistischen Menschen zu schaffen.“
Der Neomarxismus als Heranbildung genetischer Revolutionäre durch schulische Sexualerziehung. Der Wahnsinn einer solchen Behauptung ist kaum zu überbieten. Aber er bewirkt ein Bedrohungsszenarium, bei dem sich jede Kritik an der Kirche, selbst die Aufdeckung sexueller Verbrechen von Priestern, sowie jeder gesellschaftliche Protest gegen Beschlüsse der nationalkonservativen Regierung als neomarxistisch motivierte Attacken bedenkenlos zurückweisen lassen.
Konsequenzen für Kirche und Politik
Es scheint für Teile der Kirche sehr verlockend zu sein, in der gegenwärtigen Situation eine Analogie zu den Zeiten kommunistischer Herrschaft zu sehen. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an ein Gespräch mit einem polnischen Bischof in den 1960er Jahren, in dem er sagte: „Gott erhalte uns die Kommunisten!“ Eine nur auf den ersten Blick überraschende Aussage. Er wollte damit zum Ausdruck bringen, dass die klare Frontbildung für die Kirche von Nutzen sei und ihre innere Geschlossenheit garantiere – die entschiedene Ablehnung der atheistischen Ideologie des Marxismus-Leninismus, das Eintreten nicht nur für das Recht auf Glaubensfreiheit und pastorale Aktivitäten, sondern auch für die Wahrung der von Überfremdung bedrohten nationalen Identität. Die Wahrnehmung der im 19. Jahrhundert, in er Zeit der Teilungen des Landes unter den monarchischen Mächten der Habsburger, Hohenzollern und Romanows, ausgeprägten kirchlichen Rolle als rettender Schutz und Schirm der Nation auch unter in der sogenannten „Volksrepublik“ hatten zur Stärkung der Kirche und ihrer nationalen Autorität geführt. So konnte sie sich im europäischen Wendejahr 1989 gleichsam als Siegerin der Geschichte fühlen und glauben, nunmehr eine reiche Ernte einfahren zu können. Doch es kam anders. Durch ihren Triumphalismus geblendet, fiel es ihr äußerst schwer, sich auf die neue, nunmehr demokratische Ordnung einzulassen. Für sie brach vielmehr eine an religionspolitischen Konflikten reiche Zeit an. Zudem spiegelte sich der zunehmende gesellschaftliche Pluralismus auch in unterschiedlichen innerkirchlichen Strömungen und machte kirchliche Entscheidungsfindungen komplizierter und anfechtbarer.
Angesichts dieser in Zusammenhang mit der demokratischen Entwicklung Polens gemachten Erfahrungen liegt die Versuchung nahe, kirchliche Probleme wie der deutliche Rückgang sonntäglicher Gottesdienstbesucher sowie der Priester- und Ordensberufe, die zunehmende Zahl an Kirchenaustritten, die wachsende Kritik an Stellungnahmen der Kirchenleitung, ja selbst die sexuellen Verfehlungen von Klerikern auf schädliche westliche Einflüsse zurückzuführen. Dies verstärkt die Mentalität einer belagerten Festung. Daraus resultiert auch die übertrieben Bedeutung, die den als kirchenfeindlich ausgemachten, unter dem Begriff des Neomarxismus gebündelten Phänomenen beigemessen wird. Unter diesen Voraussetzungen sind von der polnischen Kirche keine Reformbemühungen zu erwarten, wie sie von Papst Franziskus angeregt und in Deutschland durch den „synodalen Weg“ in Angriff genommen werden.
Zu dieser kirchlichen Grundeinstellung passt die Affinität zur regierenden Kaczyński-Partei. Dies wurde u. a. kurz vor den Präsidentschaftswahlen deutlich, als der Vorsitzende der Bischofskonferenz, der Posener Erzbischof Stanisław Gądecki, erklärte, die Kirche dürfe sich in politische Angelegenheiten nicht einmischen, dann aber die aus ihrer Sicht wünschenswerten Kriterien auflistete, die vom künftigen Präsidenten zu erfüllen seien und die allesamt auf Andrzej Duda zutrafen, was denn auch von Kommentatoren als deutlichen Fingerzeig gewertet wurde, ihn wiederzuwählen.
Wie stark diese Affinität auch auf Seiten der regierenden PiS ausgeprägt ist, zeigt beispielsweise eine Äußerung von Kaczyński auf einem Parteikonvent Anfang des Jahres: „Der westlich unserer Grenzen andauernder Prozess ist ein Prozess der Vernichtung der Fundamente all dessen, was über viele Jahrhunderte die christliche Zivilisation geschaffen hat. […] Selbst wer nicht gläubig, aber persönlich kein Feind des Glaubens ist, denn solche gibt es in Polen, der muss sich darüber klar sein, dass ein Angriff auf diese Fundamente, die die Grundlage dieser Zivilisation und des Polentums bilden, ein besonders gefährlicher Angriff ist, der das gesamte soziale Netz vernichtet, all das, was den Bestand Polens sichert.“
Entsprechend spielen denn auch in Politik und Gesetzgebung der PiS-Regierung die unter dem Begriff des Neomarxismus zusammengefassten Elemente eine gewichtige Rolle: Im Zuge der Kampagne gegen sexuelle Minderheiten haben sich zahleiche von PiS regierte Städte und Gemeinden zu „homosexuellfreien Zonen“ erklärt; während der Zeit herrschender Pandemie, in der jede Versammlung verboten ist und daher öffentliche Proteste unmöglich sind, wurde vom Sejm ein verschärftes Abtreibungsgesetz verabschiedet, das einen Schwangerschaftsabbruch selbst für den Fall untersagt, dass die Leibesfrucht unheilbar geschädigt ist; und einer schulischen Sexualkunde wird, ohne sich überhaupt auf eine Diskussion um das Für und Wider einzulassen, der Kampf von keinem Geringeren als dem polnischen Premier Morawiecki angesagt, der im November 2019 erklärte: „Wer Kinder ideologisch vergiftet, sie von ihren Eltern trennen will, wer die Familienbande zerschneiden möchte, wer ohne dazu aufgefordert zu sein, in die Schule eindringt und ideologische Lehrbücher verfasst, der will in Polen einen Kulturkampf vom Zaune brechen. Diesen Krieg wird es nicht geben. Dazu lasse ich es nicht kommen. Und sollten sich solche finden, die ihn ausrufen, dann sind wir es, die ihn gewinnen.“
Mit Beginn ihrer Regierungsübernahme betreibt PiS ein Politik, die den Anschein erweckt, es würde nicht weniger auf dem Spiel stehen als das Fundament, auf dem das Vaterland basiert. Neomarxistische Kräfte würden seine Vernichtung anstreben. Auf diese Weise wird eine ins äußerst Bedrohliche gesteigerte Schwarz-Weiß-Malerei zum Erklärungsmodell einer komplizierter gewordenen Welt. Und das ermöglicht einen Radikalismus der Unterscheidung in gute und schlechte Polen, bedingt eine polarisierende Spaltung der Gesellschaft in Freud und Feind, verleitet zu einer aggressiven Sprache, unterminiert die Demokratie und rechtfertigt die Entwicklung zu einem autoritären System.
Wie lange die Mehrheit der Bevölkerung für dieses Angst weckende und Emotionen schürende Erklärungsmodell empfänglich bleibt, so lange werden wohl die Nationalkonservativen ihre Wahlen gewinnen und keine Veranlassung haben, von ihrem eingeschlagenen Weg abzuweichen.