Jarosław Kaczyński – der Mann, der Polen regiert
Wer ist Jarosław Kaczyński, der Mann, der ohne Regierungsamt seit 2015 die Geschicke Polens bestimmt und unter dem Motto des „guten Wandels“ den Staat in einer Weise umbaut, dass seine persönliche Macht auf unbestimmte Zeit gefestigt erscheint? Der die polnische Gesellschaft tief spaltet, den die einen für einen üblen Diktator halten, der letztlich Polen zerstören wird, in dem andere aber einen guten Analytiker und begnadeten Strategen sehen, der Polen zu neuer Größe führen wird?
Aus Kaczyńskis frühen Jahren ist eine bemerkenswerte Selbstaussage überliefert: „An die Macht komme ich mit 34 Jahren. Und ich werde bis zu meinem 90. Lebensjahr regieren, um den Rekord von Bundeskanzler Adenauer zu brechen.“ Auch wenn sich Kaczyńskis Lebenswunsch erst zu einem späteren Zeitpunkt erfüllt hat, bis zu seinem 90. Lebensjahr bleiben dem heute 70jährigen noch 20 Jahre einer, wie er glaubt, unangefochtenen Herrschaft.
Kaczyńskis politisches Grundverständnis
Um Kaczyńskis Politikverständnis zu begreifen, muss man bis in die Zeit seines Jurastudiums zurückgehen. Kaum zufällig entschied er sich für die Staatstheorie. Sein Lehrer in den 1960er Jahren war Prof. Stanisław Ehrlich, bei dem er seine Magisterarbeit geschrieben sowie promoviert hat und dessen Grundgedanken seines Hauptwerks „Państwo i Prawo“ (Staat und Recht) er verinnerlichte. In seiner Analyse des kommunistischen Systems sah Prof. Ehrlich die Quelle der Legitimität der Macht nicht im Recht, sondern im „politischen Willen“ , repräsentiert und aktualisiert durch die Partei. Danach steht der politische Wille nicht unter, sondern über dem Gesetz.
Zudem liegt nach Prof. Ehrich der Akzent nicht auf der Staatstheorie als solcher, sondern auf ihrer praktischen Anwendung. Es gehe darum, bestimmte Regeln festzulegen, die dann quasi automatisch das gesellschaftliche Leben regulieren. Damit biete für die Gesellschaft nicht der Buchstabe des Gesetzes Orientierung, sondern die Umsetzung dieser Staatstheorie im Sinne der Partei und durch die Partei.
Schließich dürfe nicht außer Acht gelassen werden, was – vor der Öffentlichkeit verborgen - hinter den Kulissen vor sich gehe, wo durch die Machtorgane bestimmt werde, was legitim sei und was nicht.
Kaczyńskis Politikverständnis zeigt sämtliche von Prof. Ehrlich entwickelten und für das kommunistische System charakteristischen Züge. Denn wenn Kaczyński und seine Partei eben jene staatstheoretischen Methoden anwenden und dadurch rechtsstaatliche Grundprinzipien verletzen, dann haben wir es trotz des zur Schau getragenen Antikommunismus faktisch mit einer Analogie zur Handlungsweise früherer kommunistischer Machthaber zu tun, worauf im Übrigen die polnische Opposition und oppositionelle Medien zu Recht verweisen.
Vom Dissidenten zum Politiker
Wie sein Zwillingsbruder Lech, so gehörte auch Jarosław Kaczyński in den 1980er Jahren zur „Solidarność“, die mit ihren 10 Millionen Mitgliedern nicht nur eine um ihre Anerkennung kämpfende Gewerkschaft war, sondern eine auf das Ende kommunistischer Herrschaft ausgerichtete politische Kraft. Beide Brüder gehörten zum Beraterteam des Danziger Streikkomitees. Jarosław wurde zudem Sekretär des Landesexekutivkomitees der „Solidarność“, an dessen Spitze der Arbeiterführer Lech Wałęsa stand. In dieser Eigenschaft nahm Kaczyński an den Verhandlungen des Runden Tisches teil, die den Weg zu den halbfreien Wahlen am 4. Juni 1989 eröffneten, in denen er einen der 99 Senatorensitze der antikommunistischen Opposition erwarb. Mit knapp 40 Jahren war Jarosław Kaczyński einer der jüngsten Senatoren. Doch diese Position befriedigte ihn nicht. An den Debatten im Senat beteilige er sich kaum, und sein Sitz blieb oft leer. Er empfand sein Senatorenamt als politische Sackgasse. Was er suchte, war die Nähe zur Macht. Als ersten Schritt auf diesem Weg verkündete Kaczyński im Mai 1990 die Gründung einer politischen Bewegung, die sich den Namen „Porozumenie Centrum“ (Zentrumsunion) gab. Der Name täuscht allerdings eine Gemeinsamkeit vor, an der es dieser Gruppierung im Grunde mangelte, umfasste sie doch sehr unterschiedliche, ja gegensätzliche politische Kräfte, von einem rechtsnationalen bis hin zu einem liberalen Flügel, was zu häufigen innerparteilichen Konflikten führte. Einig war man sich jedoch in einem Punkt, in der Unterstützung der Kandidatur von Lech Wałęsa für das Amt des Staatspräsidenten.
Damit ging Kaczyński ein Risiko ein, denn einflussreiche Persönlichkeiten wie Tadeusz Mazowiecki, der gleichfalls zur Präsidentschaftswahl angetreten war, oder Bronisław Geremek, der verdienstvolle Außenminister, hielten Wałęsa für ungeeignet, Polen als Staatspräsident zu repräsentieren. Ihm, dem Elektriker mit lediglich einem Berufsschulabschluss, fehle das intellektuelle Format für das höchste Amt im Staate. Selbst Kaczyński teilte diese Auffassung, was ihn allerdings nicht daran hinderte, Wałęsas Kandidatur mit aller Kraft zu fördern und später zu behaupten, er habe ihn zum Staatspräsidenten gemacht. Der einzige Grund, warum er sich so entschieden für die Kandidatur Wałęsas einsetzte, war die Hoffnung auf eine weitere politische Karriere für den Fall, dass Wałęsa die Wahl gewinnen würde. Und er gewann sie. Im Dezember 1990 konnte er für fünf Jahre in den Warschauer Präsidentenpalast einziehen.
Auf den ersten Blick sprach somit alles dafür, dass Kaczyńskis Plan aufgegangen war. Er wurde Chefredakteur des „Tygodnik Solidarność“ und gewann damit eine Plattform, die seinen politischen Einfluss vergrößerte. Er nutzte die Redaktion als Treffpunkt von Kritikern des Runden Tisches und der Regierung unter Premier Mazowiecki, der man ein zu lasches Vorgehen gegen ehemalige Kommunisten vorwarf.
Ins Zentrum der Macht geriet Kaczyński als Wałęsa ihn nach gewonnener Präsidentschaftswahl zum Chef seiner Kanzlei berief. Doch seine Erwartung, er könne auf den Präsidenten Einfluss nehmen, erfüllte sich nicht. Zwischen Wałęsa und seinem Kanzleichef kam es zunehmend zu Verstimmungen, so dass Kaczyński enttäuscht und verbittert 1991 sein Amt aufgab, um sich fortan intensiv seiner Partei, der Zentrumsunion, zu widmen. Die sprichwörtliche Feindschaft zwischen diesen beiden Staatsmännern geht auf jene Zeit zurück.
Auch als Parteichef war Kaczyński nicht sonderlich erfolgreich. Zwar schaffte die Zentrumsunion in den ersten freien Wahlen den Sprung ins Parlament, scheiterte aber 1993 an der 5%-Hürde. Vier Jahre später schloss sich unter Kaczyński die Zentrumsunion mit weiteren Gruppierungen zur „Wahlaktion Solidarność“ (AWS) zusammen. Sie schaffte den Einzug ins Parlament und stellte zeitweise den Premier, zerbrach aber noch während der Legislaturperiode. 2001 gründete dann Jarosław Kaczyński gemeinsam mit seinem Bruder die rechtskonservative Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS). Er hatte aus seiner nicht sonderlich erfolgreichen Erfahrung des ersten Jahrzehnts des freien Polens gelernt, dass die Partei die Position ihres Chefs in einer Weise stärken muss, dass er in der Lage ist, selbstzerstörerische Konflikte wie erbitterte Flügelkämpfe zu unterbinden. Das Statut von PiS stellt dies sicher und verschafft Kaczyński die Machposition, die er sich immer gewünscht hat. Und er weiß, sie zu behaupten!
Kritische Einschätzung der 1990er Jahre
Das für Kaczyński nicht sonderlich vom persönlichen Erfolg geprägte letzte Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts findet bei ihm eine negative Wertung. Auf diese Weise lässt sich bei dem von Ehrgeiz getriebenen Kaczyński auch die in jenen Jahren erfahrenen persönlichen Niederlagen rechtfertigen. So gelangt er in seiner Diagnose zu dem Schluss, der Kommunismus sei nach 1989 im Grunde nicht überwunden worden, sondern verfüge in Form des Postkommunismus weiterhin über einen enormen Einfluss. Man habe es versäumt, nach 1989 die erforderliche Abrechnung mit den politischen Kräften der kommunistischen Volksrepublik zu vollziehen.
Argumente für diese Sichtweise gibt es in der Tat. Das freie Polen ging 1989 nicht aus einer Revolution hervor, welche die Kommunisten hinweggefegt hätte, was angesichts der politischen Weltlage auch kaum möglich gewesen wäre. Immerhin gehörte Polen zu jenem Zeitpunkt noch zum Warschauer Pakt, abgesehen davon, dass eine mit allen Risiken verbundene, den Weltfrieden gefährdende revolutionäre Lösung im Westen keine Unterstützung gefunden hätte. Die einzige realpolitische Möglichkeit war das am Runden Tisch erstrittene Verhandlungsergebnis mit den entsprechenden Kompromissen, wonach es in der Regierung unter Premier Mazowiecki vier Minister aus dem früheren kommunistischen Kader gab und das höchste Amt im Staate für kurze Zeit von General Jaruzelski bekleidet wurde, der am 13. Dezember 1981 über Polen das Kriegsrecht verhängt hatte.
Jarosław Kaczyński unterschlägt mit seiner Sicht der Dinge allerdings die Tatsache, dass eine Abrechnung mit jenen Kräften, die sich in den Jahren kommunistischer Herrschaft auf besondere Weise schuldig gemacht haben, sehr wohl stattgefunden hat. Das 1998 gegründete Institut für Nationales Gedenken (IPN) hat aufgrund seiner Ermittlungen rund 300 rechtskräftige Urteile ermöglicht. Doch all das spielt für Kaczyński keine Rolle. Er sieht die einstigen Kommunisten durch ein geheimes Netzwerk, das weite Teile der Gesellschaft, zumal das Justizwesen und die Medien, umfasse, weiterhin am Werk. Im neuesten Programm von PiS findet sich für diesen geheimen Feind die Kategorie „spätere Postkommunisten“. Sie ist geeignet, um den politischen Gegner gleich welcher Art sowie sämtliche gesellschaftlichen Strömungen, die der rechtsnationalen, christlich verbrämten Ideologie von Pis entgegengesetzt sind, zu stigmatisieren, wobei PiS von Teilen der Kirche, die die Gefahr eines kulturellen Neomarxismus beschwören, unterstützt wird.
Von Misstrauen erfüllt
Ohne ein gesundes Misstrauen ist eine gute Politik kaum möglich. Allzu gutgläubige, naive Persönlichkeiten sind als Politiker ungeeignet. Sie würden für das Gemeinwohl eher Schaden anrichten als nützlich sein. Wer allerdings - wie dies Jarosław Kaczyński nachgesagt wird - ständig und überall Feinde und Verrat wittert, der ist zutiefst von einem krankhaften Misstrauen erfüllt. So wundert es nicht, dass Kommentatoren eben dies als besonderen Charakterzug des Chefs von PiS hervorheben. Sein Misstrauen mache ihn zudem blind für eigene Fehler und eigenes Versagen. Was durch seine Schuld in der Politik schief laufe, das projiziere er auf den politischen Gegner, sei er real oder imaginär.
Das krankhafte Misstrauen ist für Kaczyński ein probates Mittel des Machterwerbs und des Machterhalts, dies allerdings auf Kosten einer ernsten Gefährdung der Demokratie. Denn wo Misstrauen herrscht, da ist eine überparteiliche Verständigung, wie sie zumal in Krisenzeiten geboten ist, kaum möglich, ja nicht einmal gewollt. Kaczyńskis lange Zeit uneinsichtiges und unbeirrtes Festhalten am 10. Mai als Termin für die Präsidentschaftswahl während der Corona-Epidemie ist nur das letzte von zahlreichen anderen Beispielen. Wo Misstrauen herrscht, da ergibt sich zwangsläufig eine Entwicklung, die entscheidend durch den politischen Willen des nur sich allein vertrauenden „Führers“ bestimmt wird. Wo Misstrauen herrscht, da ergibt sich als letzte Konsequenz ein autoritäres, wenn nicht gar diktatorisches System. Ohne ein gewisses Maß an politischem Vertrauen hat eine demokratische Gesellschaft keinen Bestand.
Die Partei als Machtbasis
Ohne Kenntnis der Persönlichkeitsstruktur von Jarosław Kaczyński bleibt es ein Rätsel, wie dieser Mann ohne Regierungsamt in der Lage ist, die Geschicke Polens zu bestimmen. Nicht das Parlament, nicht die Regierung und schon gar nicht der Staatspräsident bilden das politische Machtzentrum, sondern die Parteizentrale von PiS in der Warschauer Nowogradzka. Sie ist den staatlichen Institutionen vorgeschaltet. An diesem Ort wird über den Kurs der Regierung und die Besetzung der Regierungsämter entschieden, wer Premier, wer Minister wird. Sie sind als ausführende Organe in ihrer Handlungsfreiheit stark eingeschränkt. Und dass in Polen die Macht in den Händen des in der Nowogradzka residierenden Kaczyński liegt, das hat sich in der Bevölkerung herumgesprochen. Tag für Tag treffen dort körbeweise Briefe besorgter Bürgerinnen und Bürger ein, die von seiner Sekretärin und ihrem Assistenten vorsortiert werden. Besonders wichtige erreichen den Chef persönlich, und er leitet sie dann mit dem ausdrücklichen Vermerk „zu erledigen“ an die entsprechenden Instanzen weiter.
Die Partei ist Kaczyńskis Machtbasis. Seine Position als Parteichef ist unbestritten. Umgeben hat er sich mit wenigen getreuen Mitarbeitern. Möge es unter einzelnen Ministern Spannungen geben, er selbst steht über solchen Streitigkeiten, und sein Machtwort stellt den Burgfrieden wieder her. Kaczyński hat ein politisches System geschaffen, in dem die von ihm geführte und über die parlamentarische Mehrheit verfügende Partei faktisch dem Staat übergeordnet ist. Kommentatoren sprechen davon, der Staat sei für ihn das „Objekt der Kolonisation durch die Partei“. Wie ein Bildhauer aus einem Marmorblock eine Statue schafft, so schaffe sich Kaczyński mittels der Partei ein Polen nach seinen Vorstellungen.
Über dem Gesetz?
Wer wie Jarosław Kaczyński über eine derartige Machtfülle verfügt, der ist geneigt, für sich Sonderrechte in Anspruch zu nehmen. Und daran hat man sich offenbar im Sejm gewöhnt. Während sich andere Abgeordnete streng an die Regeln halten müssen, geht Kaczyński, so oft ihm dies passt, nach vorn, ergreift das Mikrophon, spricht sein stereotypes „außer der Regel“ und sagt, was er meint sagen zu müssen. Zudem hat er sich durch Beleidigungen von Vertretern der Opposition, die für ihn „eine üble Sorte“, ja „nationale Verräter“ sind, einen Namen gemacht. So auch in der Debatte am 4. Juni, in der die Opposition die Abberufung des In Verdacht der Korruption stehenden Gesundheitsministers forderte. Kaczyński befürchtete offenbar in der heißen Phase des Wahlkampfes um das Präsidentenamt durch diese Initiative der Opposition einen Imageschaden für seine Partei und ließ seinem Ärger freien Lauf, indem er sagte: „So ein gemeines Gesindel habe ich in diesem Sejm noch nicht gesehen.“ Dafür wurde er vom Parlamentsvorsitzenden nicht einmal zur Ordnung gerufen, wie dies bei weit weniger gravierenden Äußerungen der Opposition regelmäßig der Fall ist. Auch die „im Namen von Millionen Polen“ erhobene Forderung führender Oppositionspolitiker, Kaczyński möge sich für diese Worte entschuldigen, blieb natürlich folgenlos.
Es gibt weitere Beispiele, die zeigen, dass Kaczyński glaubt, nicht unter, sondern über dem Gesetz zu stehen. In Zusammenhang mit dem von ihm beabsichtigten, doch nicht zustande gekommenen Warschauer Doppelturm hatte er nach Aussage seines Geschäftspartners die Zahlung von Schmiergeld veranlasst, doch ein Besuch beim Generalstaatsanwalt und Justizminister Ziobro sorgte offenbar dafür, dass er nicht einmal als Zeuge vor Gericht geladen wurde. Besonderes Aufsehen und Ärger in der Bevölkerung erregte Kaczyński, als er sich am 10. April, am 10. Jahrestag des Absturzes der Präsidentenmaschine mit fast 100 Toten, mit der Limousine auf den Powązki-Ehrenfriedhof fahren ließ, um das Denkmal seines Bruders und das Grab seiner Mutter aufzusuchen. Und dies obwohl wegen der Corona-Pandemie allen Polen der Friedhofsbesuch untersagt war. Eine Angehörige derer, die bei der Flugzeugkatastrophe ums Leben kamen, schrieb daraufhin einen an Kaczyński gerichteten offenen Brief, in dem es u. a. heißt: „Damit zeigten Sie eine tiefe Verachtung und einen völligen Mangel an Verständnis für die Gefühle von Millionen gewöhnlicher Polen, Menschen, in deren Interesse Sie angeblich seit Jahrzehnten tätig sind. Gegenüber den Polen, denen es an diesen Feiertagen nicht gegeben ist, die Gräber ihrer Angehörigen aufzusuchen, denn ihnen, den einfachen Polen, ist dies verboten.“ Auch in diesem Fall sah Kaczyński keinen Grund sich, öffentlich zu entschuldigen. Wie auch, wenn man glaubt, über dem Gesetz zu stehen.
Der Kaczyński-Mythos
Im Grunde ist Jarosław Kaczyński ein einsamer Mann. Er lebt, von Katzen umgeben, ohne Familie, nach dem Tod seines Bruders und seiner von ihm über alles geliebten Mutter, ohne nähere Verwandtschaft ganz allein in seiner Villa. Sein einziger Lebensinhalt ist die Politik, sein einziger Ehrgeiz – die Macht. Was ihm an Lebensglück verwehrt ist, das kompensiert er als machtbewusster Politiker. Und als solcher erwartet er von seinen Getreuen Unterordnung und Respekt, mitunter in Form von Huldigung. „Jarosław, rette Polen“, so schallt es ihm bei Kundgebungen entgegen. Sein hartes Elektorat sieht in ihm geradezu einen polnischen Messias. Doch auch aus dem Mund hochrangiger PiS-Politiker sind für eine Demokratie höchst ungewöhnliche Worte zu vernehmen. Ausgerechnet Präsident Andrzej Duda, der von Kaczyński die eine oder andere Demütigung erfahren hat, widmet ihm eine Tirade der Lobpreisung: „Mit voller Sicherheit sind Sie ein großer Politiker, ein großer Stratege; aber ich füge noch eines hinzu – mit voller Sicherheit sind Sie ein großartiger Mensch.“ Und im Zusammenhang mit der Ernennung von Beata Szydło zur Ministerpräsidentin sagte er: „Man muss ein großartiger Mensch und Patriot sein, absolut überzeugt von der eigenen Idee der Errichtung eines starken Polens, wie PiS sie besitzt, um den Taktstock der Macht in die Hände von Menschen zu legen, mit denen Sie derzeit eng zusammenarbeiten. Ich bin Ihnen gegenüber voller Bewunderung.“
Nicht nur seine Umwelt umgibt ihn mit einer Aureole, Jarosław Kaczyński selbst schafft sich eine eigene, weitgehend auf Legenden basierende Welt der Mythisierung. Seine Familie habe während der Jahrhunderte der Unterdrückung durch Fremdmächte das leidvolle Schicksal nationaler Helden erlitten, im Untergrund gegen die deutschen Okkupanten gekämpft, sich dem Kommunismus verweigert. Und nun sei es seine nationale Aufgabe, die III. Republik, die – wie er nicht müde wird zu behaupten - auf der Grundlage der Zusammenarbeit mit den Postkommunisten nach 1989 geschaffen wurde, in ein wahrhaft freies Polen umzuwandeln.
In diesem Kontext spielt für ihn die Flugzeugkatastrophe von Smolensk eine herausragende Rolle. Der Absturz der Präsidentenmaschine durfte kein bloßer, wenngleich tragischer Unfall sein. Staatspräsident Lech Kaczyński und sämtliche Fluggäste seien vielmehr einem Attentat des Kremls, in das die Opposition verwickelt gewesen sei, zum Opfer gefallen. Das verleihe seinem Zwillingsbruder den Rang eines nationalen Märtyrers. Er wurde denn auch – trotz des erheblichen Widerstandes eines Teils der Gesellschaft – in der den Königen und Nationalhelden vorbehaltenen Krypta des Krakauer Wawel bestattet.
Acht Jahre lang fanden an jedem 10. eines Monats von PiS organisierte Gedenkveranstaltungen zur Erinnerung an die Katastrophe von Smolensk statt, die Jarosław Kaczyński regelmäßig dazu nutzte, seinen Zwillingsbruder zu glorifizieren und die Opposition des Verrats an der Nation zu beschuldigen.
Inzwischen gibt es auf Initiative von PiS Denkmäler und Tafeln, die dem Gedenken an Lech Kaczyński gewidmet sind, sowie zahlreiche Straßen und Plätze, die seinen Namen tragen. In die Schulbücher findet die angeblich historische Rolle des Staatspräsidenten Eingang. Überregional befassen sich Schüler mit Themen wie „Die Rolle von Präsident Lech Kaczyński für die Gewinnung nationalen Stolzes.“ Ein Lech Kaczyński gewidmetes Museum ist derzeit in Warschau in Bau. Auf diese Weise betreiben Jarosław Kaczyński und seine nationalkonservative Partei eine geschichtspolitische Überhöhung der Peron des verunglückten Staatspräsidenten, die einer wissenschaftlichen Überprüfung in keiner Weise standhält.
Der Kaczyński-Mythos dient dem Chef von PiS einerseits zur Festigung seiner Macht, andererseits ist er aber nur möglich, weil Kaczyński in weiten Teilen einer nationalkonservativen Gesellschaft gleichsam als ungekrönter König Polens gilt. Ein in Polen einzigartiges Phänomen, wie der Journalist Andrzej Stankiewicz feststellt: „All das gab es bislang nicht. Denn zu keiner Zeit gab es in der III. Republik eine Paramonarchie, in der die Institutionen des Staates voll und ganz einem einzigen Menschen unterstanden.“
Antoni Dudek, Prezes, partia, państwo (Präses, Partei, Staat), Tygodnik Powszechny v. 17. 05. 2020, S. 15.
, Andrzej Stankiewicz, Pierwsza ostatnia rodzina (Erste letzte Familie), Tygodnik Powszechny v. 18. 08. 2016.