Ein Kulturkampf spaltet die polnische Gesellschaft
Am 17. Juni 2019 veröffentlichte der Vorsitzende der Polnischen Bischofskonferenz, Erzbischof Stanisław Gądedki, seine „Erklärung zu Akten des Hasses gegen Katholiken in Polen“. Nicht nur die inhaltlichen Aussagen, auch die äußeren Umstände sind von Bedeutung. Im Herbst 2018 lief in den Kinosälen der Film „Klerus“, den sich Millionen von Polen angeschaut haben. Er verdeutlicht den Zusammenhang von Klerikalismus und den klerikalen Missbrauchsfällen. Bild und Ton bewirkten bei den Kinobesuchern eine tiefe Betroffenheit, und Polens Kirche erlebte eine gleichsam erbebenrtige Erschütterung.
Diese Wirkung wurde noch um Vieles durch den Dokumentarfilm „Sag es nur keinem“, der im Mai 2019 im Internet zu sehen war, verstärkt. Angesichts des Ausmaßes der durch ihn belegten Leiden der Opfer und der Straffreiheit der klerikalen Täter geriet die Kirche in eine Glaubwürdigkeitskrise, wie sie diese in ihrer Geschichte bislang nicht erlebt hat. Durch den Film ermutigt, traute sich eine Vielzahl von Opfern, ihr jahrelanges Schweigen zu brechen. Ihr Schicksal bestimmte in Gesellschaft und Kirche die öffentliche Diskussion. Vermehrt meldeten sich Laien zu Wort, die tiefgreifende Reformen einforderten, u. a. Konsequenzen für jene Bischöfe, welche die Verbrechen ihrer Priester gedeckt und vertuscht haben.
In dieser Situation kam der als Sekretär der Glaubenskongregation für die Untersuchung der weltweiten Pädophilie von Priestern zuständige Erzbischof Charles Scicluna nach Polen. Allerdings nicht im Auftrag des Papstes, sondern aufgrund einer lange vor dieser Krise ausgesprochenen Einladung des Vorsitzenden der Bischofskonferenz. Das dicht gedrängte Programm seines Tagesbesuchs ließ keine Zeit für eine Begegnung mit den Opfern, geschweige denn für eine Prüfung des Umgangs der Bischöfe mit den Missbrauchsfällen ihrer Priester. Im Episkopat war ein deutliches Aufatmen zu spüren.
Die „Erklärung“ als Startschuss eines Kulturkampfes
Drei Tage nach dem Besuch von Erzbischof Scicluna veröffentlichte Erzbischof Gądecki seine „Erklärung“. Sie lässt keinen Zweifel daran, wer diese von ihm ausgemachten hasserfüllten Kirchenfeinde sind – die „Schwulen, Lesben, Bisexuellen und Transsexuellen“, also kurzum LGBT. Der Begriff wurde seitdem für Kirchenvertreter und nationalkonservative Politiker zum Feindbild, begründet durch den Satz der Erklärung „der Versuch, Christentum und Kirche verächtlich zu machen – die so unlöslich mit der Geschichte Polens verbunden sind – verfolgt nicht nur das Ziel einer Schwächung unserer Position in der Gesellschaft, sondern gleichfalls eine Schwächung des Geistes unserer Nation.“
Die von Erzbischof Gądecki für die Kirchenfeindschaft des LGBT-Milieus angeführten Argumente sind ausgesprochen schwach. Im Wesentlichen bezieht er sich auf eine „Profanierung“ der Schwarzen Madonna, die man auf Plakaten mit einer regenbogenfarbigen Aureole versehen hatte. Diese Aktion des LGBT-Milieus war eine Reaktion auf die durch die beiden Filme ausgelöste öffentliche Diskussion, wobei sich das Bild der mit einer regenbogenfarbigen Aureole versehenen Madonna durchaus positiv deuten lässt, nämlich in dem Sinn, dass sich auch die angefeindeten und ausgegrenzten Homosexuellen unter ihrem Schutz wissen.
Der Vorsitzende der Bischofskonferenz verfolgte mit seiner „Erklärung“ ganz offensichtlich die Absicht, die entbrannte Debatte um die klerikalen Missbrauchsfälle auf die LGBT zu lenken. Gelungen ist ihm dies nicht. Die Diskussion um die pädophilen Verbrechen von Priestern erlosch nicht, sondern konzentrierte sich, bewirkt durch einen weiteren Dokumentarfilm, auf das Versagen von Bischöfen, die derlei Taten vertuscht haben. Erreicht hat Erzbischof Gądecki jedoch, dass LGBT nun zum beherrschenden Angriffsziel in Kirche und Gesellschaft wurde. So entsprachen die Predigten am Fronleichnamsfest (20. Juni) weitgehend der Intention der „Erklärung“. Noch deutlicher wurde dies am 14. Juli im Nationalheiligtum der Schwarzen Madonna. Statt vor den Pilgern eine Homilie zum Sonntagsevangelium vom barmherzigen Samariter zu halten, sprach der emeritierte Bischof Frankowski im von Radio und Fernsehen übertragenen Gottesdienst in Assoziation zum Schwedeneinfall im 17. Jahrhundert von einer „neuen Sintflut", ausgelöst durch „Genderismus, LGBT, Unterweisung über sexuelle Abartigkeiten bereits im Kindergarten.“ All dies sind dem homosexuellen Milieu unterstellte absurde Behauptungen, die jeder Grundlage entbehren.
Gesellschaftliche Auswirkung
Die von Erzbischof Gądecki in seiner „Erklärung“ zum Ausdruck gebrachte Bedrohung von Kirche und Nation wurde von der regierenden Kaczyński-Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) bereitwillig aufgenommen. Sie werde, wie der Parteichef verlauten ließ, im bevorstehenden Wahlkampf zu dem im Oktober 2019 stattfindenden Parlamentswahlen eine Rolle spielen, indem seine Partei als Verteidigerin nationaler und christlicher Werte auftreten werde, während sie von der Opposition durch Unterstützung der homosexuellen Organisationen LGBT in Frage gestellt würden. Den Auftakt gab die PiS nahestehende Zeitung „Gazeta Polska“. Sie brachte Aufkleber mit der Aufschrift „LGBT-freie Zone“ in Umlauf. In kürzester Zeit erklärten sich über 60 von PiS regierte Gemeinden frei von Schwulen, Lesben, Bi- und Transsexuellen. Ein diskriminierenden Signal für den Ausschluss von Homosexuellen aus der Gesellschaft mit allen für sie schmerzhaften Konsequenzen.
Dass sich auf diese Weise der von Erzbichof Gądecki behauptete Hass auf Katholiken als Hass auf Homosexuelle erweisen sollte, zeigten die von LGBT veranstalteten, ihre Bürgerrechte einfordernden „Märsche der Gleichheit“. Am 20. Juli 2019 fand ein solcher Marsch in der stark nationalkatholisch geprägten ostpolnischen Stadt Białystok statt. Im Vorfeld hatte der Ortsordinarius, Erzbischof Tadeusz Wojda, versucht, die Behörden zu veranlassen, den Marsch zu verbieten. Doch die hatten ihn wissen lassen, sie würden zwar keineswegs mit dem Marsch sympathisieren, sähen aber keine Möglichkeit, in Anbetracht der Rechtslage ein Verbot zu verhängen. Der Marsch sei ordnungsgemäß angemeldet und registriert. Und die Veranstalter hätten sichergestellt, dass von ihrer Seite keine Bedrohung der öffentlichen Sicherheit ausgehen werde.
Mit diesem Bescheid gab sich Erzbischof Wojda nicht zufrieden. Er veröffentlichte eine Stellungnahme, in der er betonte, bei diesem Marsch handle es sich um eine „fremde Initiative“, die nicht zu Białystok passe, wo die Menschen „fest in Gott verwurzelt sind, besorgt um das Gemeinwohl, insbesondere um das der Kinder.“ Bei dieser „Parade“ würden nach der Erfahrung anderer Städte „christliche Werte verächtlich gemacht, heilige Symbole profaniert, Gotteslästerungen ausgestoßen und Gläubige vulgär beschimpft.“ Man würde gegen die eigene Diskriminierung protestieren, „diskriminiere aber in Wahrheit andere – jene, deren Gewissen für das Christliche und Sittliche empfänglich ist.“ Zum Tag des Marsches lud der Erzbischof die Gläubigen zum Sühnegebet in die Kathedrale ein.
Der Marsch stand unter dem Leitwort „Haus für alle“ und wendete sich damit gegen die Aktion LGBT freier Zonen. Geschätzte 1000 Teilnehmer zogen unter massivem Polizeischutz durch die Stadt. Transparente, die christliche Symbole verächtlich machten, suchte man vergeblich. Mitgeführt wurden lediglich regenbogenfarbige Fahnen.
Friedlich verlief dieser „Marsch der Gleichheit“ allerdings nicht. Ganz im Gegenteil. Aus allen Teilen Polens hatten sich Mitglieder der rechtsextremen Jugendorganisation und „Fans“ des örtlichen Fußballclubs versammelt, und die beließen es nicht bei verbalen Attacken. Sie bewarfen die Teilnehmer mit Knallkörpern, Steinen und Flaschen. Aus den Wohnungen wurde Wasser auf sie gegossen, Mehlbeutel fielen auf sie nieder. Der Marsch wurde mehrfach blockiert und musste umgeleitet werden. Es gab Verletzte, auch unter den Polizeikräften.
Nicht unerwähnt soll bleiben, dass es zahlreiche Solidaritätserklärungen für die Teilnehmer des Marsches gab. Psychotherapeuten zeigten sich bereit, jene, die um ihr Leben gefürchtet hatten und nun unter einem Schock litten, unentgeltlich zu behandeln. Die Gemeinschaft von Eltern homosexueller Kinder, die selbst an dem Marsch teilgenommen hatte, richtete ein Schreiben an den Apostolischen Nuntius, in dem sie eine Entschuldigung seitens der Kirche sowie die Abberufung von Erzbischof Wojda forderten. Eine kirchliche Reaktion erfolgte nicht. Zufrieden fühlten sich dagegen die Kämpfer für „Ehre, Gott und Vaterland“. Sie feierten ihren Angriff auf den Marsch als Sieg und kündigten ihre nächste Kampfbereitschaft für weitere geplante „Märsche der Gleichheit“ an. Białystoker Priester brachten ihre „Anerkennung all jenen gegenüber zum Ausdruck, die auf ihre Weise die christlichen und allgemeinmenschlichen Werte verteidigt und die Stadt vor einer planmäßigen Demoralisierung bewahrt haben.“
Besondere Erwähnung verdient angesichts der Vorgänge der Appell der gesellschaftlichen Initiative „Kampagne gegen Homophobie“. Unter dem Titel „Nur ein Schritt bis zum Pogrom – Regierung, Kirche, wacht auf!“ finden die Verfasser äußerst deutliche Worte: „Das Gift der Homophobie, das Regierung und Vertreter der Kirche seit Monaten über die Gesellschaft ergießen, führte in Białystok zu einer Jagd auf Menschen – auf unsere Mitbürger und Mitbürgerinnen, auf unsere Familien, auf unsere Kinder. […] Es ist an der Zeit, dass diejenigen, die in der polnischen Gesellschaft das Korn homofeindlichen Hasses säen, sich zu ihrer Schuld bekennen, um Verzeihung bitten und Maßnahmen ergreifen, um die sich in Polen ausbreitende Welle des Hasses zu stoppen.“ Bewirkt hat dieser Appell nichts.
Verschärfte Kulturkampfrhetorik
Im August 2019 sagte der Krakauer Metropolit, Erzbischof Marek Jędraszewski: „Die rote Pest überzieht schon nicht mehr unser Land, wohl aber die neue, neomarxistische, die unsere Seelen, unsere Herzen und unser Denken in Besitz nehmen möchte: keine rote, sondern eine regenbogenfarbige.“ Und Bischof Ignacy Dec äußerte sich im April 2019 wie folgt: „Einst wehte ein feindlicher Wind vom Osten zu uns herüber. Er brachte uns eine utopische Ideologie und Praxis, die uns Polen so viel Unglück bescherten. […] Seit einiger Zeit weht, diesmal vom Westen her, ein utopischer Wind, ausgehend von Vertretern der bekannten marxistischen Ideologie, die lediglich ihre Farbe gewechselt haben; ein kultureller Marxismus, ein Geschlechterkampf anstelle des Klassenkampfes. Sie forcieren eine Gender-Ideologie und mit ihr eine Sexualerziehung der Kinder.“
In beiden Zitaten geht es um einen Vergleich der gegenwärtigen Situation mit der Bedrohung zu Zeiten der kommunistischen Unterdrückung. Wie damals alle nationalen Kräfte, zumal durch die Kirche, gesammelt wurden, um in jener Gefahr zu bestehen, so sei dies auch heue notwendig. Es seien die gleichen Kräfte, wenngleich in der Wolle gefärbt, die heute die Nation und ihre katholische Identität zu ihrem Angriffsziel machen. Und sie stammen nicht aus der Nation selbst, sondern bilden eine westliche Infiltration, die Polen zu einem Opfer macht.
Welche Auswirkungen eine derartige Verschärfung der Kulturkampfrhetorik hat, belegen die Worte eines nationalkonservativen „Experten“, der erklärte, die LBGT-Ideologie ziele letztlich auf die „Erziehung genetischer Revolutionäre“. Durch sie wolle man „Menschen heranbilden, die der Kirche den Rücken kehren und die traditionelle Gesellschaft zerstören, um auf diese Weise die neue, herrliche Welt des sozialistischen Menschen zu schaffen.“
Der Neomarxismus als Heranbildung genetischer Revolutionäre durch schulische Sexualerziehung. Der Wahnsinn einer solchen Behauptung ist kaum zu überbieten. Aber er bewirkt ein Bedrohungsszenarium, bei dem sich jede Kritik an der Kirche, selbst die Aufdeckung sexueller Verbrechen von Priestern, sowie jeder gesellschaftliche Protest gegen Beschlüsse der nationalkonservativen Regierung als neomarxistisch motivierte Attacken bedenkenlos zurückweisen lassen.
Kulturkampf im Präsidentschaftswahlkampf
Der sich an der so genannten „LGBT-Ideologie“ orientierende Kulturkampf bestimmte auch als einer von mehreren Faktoren den Präsidentschaftswahlkampf. Konkret bedeutete dies, dass Katholiken suggeriert wurde, es reiche nicht, ihre Wahlentscheidung nach rein politischen Gesichtspunkten zu treffen. Vielmehr gehe es um eine moralisch-weltanschauliche Entscheidung, die es Katholiken verbiete, Rafał Trzaskowski, dem Kontrahenten des amtierenden Präsidenten, ihre Stimme zu geben. Bischof Ignacy Dec, der Vorsitzende des Bischöflichen Rates für das Laienapostolat, schrieb in dem zum Medienimperium von Pater Rydzyk gehörenden „Nasz Dziennik“: „Der Katholik soll den Kandidaten wählen, der sich zu den auf Dialog und Evangelium basierenden Werten bekennt.“ Im Folgenden verdeutlicht Dec, dass Rafał Trzaskowski diese Grundvoraussetzung nicht erfüllt und daher für einen Katholiken nicht wählbar ist. Zur Begründung verweist er auf Trzaskowskis Tätigkeit als Stadtpräsident von Warschau. „Die Ansichten des von ihm repräsentierten politischen Milieus bringen ihn in einen ernsten Konflikt mit der Lehre der Kirche.“ Als Beweis werden von Dec Halbwahrheiten und falsche Unterstellungen angeführt: Propagierung von LGBT, Unterstützung einer demoralisierenden Sexualerziehung, nach der angeblich Kinder bereits im Alter bis zu vier Jahren in der Praxis der Masturbation zu unterweisen seien, Sechsjährige über die Verbindungen von Personen gleichen Geschlechts und Achtjährige über den Gebrauch von Verhütungsmitteln. Nichts Dergleichen hat Trzaskowski in seinem Wahlkampf vertreten, sich wohl aber gegen Diffamierung und gesellschaftliche Ausgrenzung von Homosexuellen gewandt.
Je näher der Tag der Stichwahl kam, umso aggressiver wurde der Wahlkampf. Wahlplakate werden verunstaltet oder vernichtet. Es kam zu Beschimpfungen, Hasstiraden und Tätlichkeiten. In den Dörfern agierten Priester für die Wiederwahl von Duda, indem sie ihren Gläubigen damit drohten, sie würden eine Todsünde begehen, sollten sie für Trzaskowski stimmen.
Am 11. Juli, dem Vortag der Präsidentschaftswahlen, versammelten sich trotzt der Corona-Epidemie rund 15 000 Wallfahrer der „Familie Radio Maryja“ im Nationalheiligtum der Schwarzen Madonna in Tschenstochau. Unter Verletzung des Verbots jeglicher Wahlpropaganda fragte Pater Tadeusz Rydzyk, der nationalkatholische Gebieter über ein Zeitschriften, Radio und Fernsehen umfassendes Medienimperium, von der Brüstung der Klosterfeste herab seine Gemeinde: „Seid ihr für LGBT?“ Und als Antwort schallte ihm, wie nicht anders zu erwarten, ein viel tausendfaches „Nein“ entgegen.
Er griff das Stichwort LGBT auf und sagte. „Morgen zeigt sich, wofür ihr seid, wofür Polen ist. Bewahre uns Gott davor, dass Polen so wird wie anderswo.“
Zelebrant an diesem Tag war der Krakauer Metropolit, Erzbischof Marek Jędraszewski. In seiner Predigt erinnerte er an das 100 Jahre zurückliegende „Wunder an der Weichsel“. Am 15. August 1920, dem Fest Mariä Himmelfahrt, hatten polnische Truppen den sowjetischen Vormarsch stoppen können und dadurch, wie das polnisch-nationale Narrativ dieses Ereignis deutet, nicht nur Polen, sondern Europa insgesamt vor dem Bolschewismus gerettet. „Heute befinden wir uns wieder in einer tödlichen Gefahr, vor allem kulturellen Charakters, die einer Ideologie, die wie der Bolschewismus aus marxistischen Wurzeln hervorgeht, die die Institution von Ehe und Familie untergräbt, die Programme erstellt, deren Ziel eine moralische Verderbnis von Kindern und Jugendlichen ist.“ Und er rief dazu auf, sich nicht der „Diktatur einer Minderheit“ zu unterwerfen.
Das knappe Wahlergebnis zeigt, wie tief Polens Gesellschaft gespalten ist.