Präsidentschaftswahl in einem gespaltenen Land
Wahlkampfzeiten erlauben einen besonders erhellenden Blick in die gesellschaftspolitischen Verhältnisse eines Landes. Dies gilt im besonderen Maße für die diesjährige Präsidentschaftswahl in Polen, die daher eine eingehende Betrachtung verdient.
Am Abend des 12. Juli 2020 wurde mit Spannung der Ausgang der Präsidentschaftswahl zwischen Amtsinhaber Andrzej Duda von der nationalkonservativen Kaczyński-Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) und seinem Herausforderer Rafał Trzaskowski von der liberalkonservativen „Bürgerplattform“ (PO) erwartet. Umfragen hatten ein Kopf-an-Kopf-Rennen vorausgesagt, das durch die Prognose kurz nach Schließung der Wahllokale bestätigt wurde. Danach besaß Duda einen Vorsprung von 0,8 %. Die Hoffnung im Lager von Trzaskowski, diese geringe Distanz könne im Laufe des Abends noch aufgeholt werden, erfüllte sich nicht. Am Ende meldete die Wahlkommission nach Auszählung aller Stimmen 51,03 % für Duda, 48,97 % für Trzaskoswski.
Einen Tag später feierte Duda, umgeben von einem weiß-roten Farbenmeer, doch ohne eine einzige Europaflagge, in einem ostpolnischen Dorf seinen Wahlsieg. Dort hatten über 80 % der Wahlberechtigten für ihn gestimmt und damit einen Landesrekord aufgestellt. Dudas Auftritt war eine Dankesgeste an das treue PiS-Elektorat aus Dörfern und Provinzstädten, das ihn zu seinem Wahlsieg verholfen hatte. Trzaskowski dagegen war es nicht gelungen, sein Wählerpotential in den dicht besiedelten großstädtischen Räumen in gleicher Weise wie Duda für sich auszuschöpfen, was im Grunde zu seiner knappen Wahlniederlage geführt hat.
Die ungewöhnlich hohe Wahlbeteiligung lag bei 68,18 %. Seit den halbfreien Wahlen vom 04. Juni 1989, mit denen das Ende kommunistischer Herrschaft in Polen besiegelt und die europäische Wende der sowjetischen Satellitenstaaten eingeleitet worden war, hatte es eine derartige Frequenz nicht gegeben. Sie war ein Zeichen dafür, wie wichtig von beiden Seiten diese Wahl genommen wurde. Und dies, obwohl der polnische Staatspräsident nach der Verfassung über eine sehr eingeschränkte Macht verfügt. Doch immerhin kann er neben seinen repräsentativen Verpflichtungen mit seinem Vetorecht Gesetzesbeschlüsse der Regierung stoppen, ohne sie allerdings letztlich verhindern zu können. Um sich, wie in den vergangenen fünf Jahren, der steten Zustimmung des Präsidenten sicher zu sein und ihre Politik des so genannten „guten Wandels“ ungestört fortsetzen zu können, betrieb PiS mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln Dudas Wiederwahl. Propagandistisch instrumentalisiert wurde auf besondere Weise das öffentliche Fernsehen TVP, zumal die mit hohen Einschaltquoten versehene abendliche Nachrichtensendung „Wiadomości“. Von 45 Themen zur Wahl galten 21 Amtsinhaber Duda und 18 seinem Herausforderer Trzaskowski. Doch während die Berichte über Duda durchweg positiv ausfielen, waren sie über seinen Kontrahenten allesamt negativ. Von einem fairen Wahlkampf konnte unter diesen Bedingungen keine Rede sein.
Die erste Phase des Wahlkampfs
Nachdem wegen der Corona-Pandemie die ursprünglich für den 10. Mai vorgesehene Präsidentschaftswahl kurzfristig abgesagt worden war, einigte man sich parteiübergreifend auf den 28. Juni als neuen Termin. Die Kandidaten für die nicht stattgefundene Wahl brauchten nicht erneut die 100 000 Stimmen zu sammeln, um zur Wahl zugelassen zu werden. Anders Rafał Trzaskowski, der Warschauer Stadtpräsident, der von seiner Partei an Stelle der erfolglosen Małgorzata Kidawa-Błońska als Bewerber um das höchste Staatsamt bestimmt worden war. Um die 100 000 Unterschriften bei der Staatlichen Wahlkommission zu hinterlegen, wurde ihm eine knappe Woche zugestanden. Gut organisiert befanden sich in allen Städten entsprechende Stände, wo sich Schlangen von Bürgern bildeten, um sich in die Listen einzutragen. In nur zwei Tagen hatte Trzaskowski die nötige Stimmenzahl beisammen, davon allein in Warschau 50 000.
Angesichts dieses rasanten Erfolges dürfte auch dem letzten Nationalkonservativen klar geworden sein, dass Amtsinhaber Andrzej Duda, nicht wie erhofft, gleich aus dem ersten Wahlgang am 28. Juni als Sieger hervorgehen werde. Allgemein wurde eine Stichwahl zwischen ihm und Trzaskowski, seinem aussichtsreichsten Rivalen, erwartet.
PiS eröffnete den Wahlkampf mit einer Machtdemonstration . Auf Geheiß von Kaczyński trat der Sejm am 03. Juni zu einer außerordentlichen Sitzung zusammen, in der Premier Morawiecki in einer einstündigen Rede eine beeindruckend positive Bilanz der Regierungsarbeit zog. Um das Erreichte zu sichern, sei die Wiederwahl des amtierenden Präsidenten erforderlich, der dies auch „seiner großen Leistungen wegen verdiene.“
Natürlich fehlte nicht der verbale Angriff auf die Opposition und in Sonderheit auf Dudas Herausforderer. Trzaskowski, der als Warschauer Stadtpräsident die „Charta der Gleichheit“ unterzeichnet hatte, werde, sollte er die Präsidentschaftswahl gewinnen, Kinder zu Objekten der „LGBT-Ideologie“ machen. Im Wahlkampf wurde „LGBT-Ideologie“ zu einem zentralen propagandistischen Kampfbegriff, wobei mit ihm gänzlich und wohl auch gewollt unterschlagen wurde, dass es sich um konkrete, der Diskriminierung ausgesetzte Menschen handelt.
Seine Rede schloss der Premier mit den Worten: „Was wir brauchen, das ist die Einheit von Sejm, Senat, Präsident, Regierung und Selbstverwaltungsorgane. […] Trotz Krisen und Lügen der Opposition werden wir Polen zu den ambitionierten Zielen führen, solange die Kräfte reichen. Ich bitte das Hohe Haus um ein Vertrauensvotum.“ Die Abgeordneten der Vereinigten Rechten erhoben sich von ihren Plätzen und applaudierten minutenlang.
Kaczyńskis Brief an die Parteimitglieder
Am 09. Juni, an dem Tag, an dem Rafał Trzaskowski der Staatlichen Wahlkommission seine Liste von nicht nur 100 000, sondern 1,6 Millionen Unterschriften vorlegte, wandte sich Kaczyński mit einem Brief an alle Parteimitglieder, um sie zu einer maximalen Mobilisierung zu motivieren. Darin beschreibt er aus seiner Sicht die Konsequenzen für den Fall, dass Trzaskowski die Präsidentschaftswahl gewinnen würde. Warnend bezeichnet er ihn als einen verbohrten Verfechter der LGBT-Ideologie, der davon träume, als erster ein homosexuelles Paar trauen zu können.
Kaczyński betonte, die Partei habe weitreichende Pläne, Änderungen, die jedem Bürger sowie der Nation im Ganzen zu Gute kämen und die von Präsident Duda unterstützt würden. Das alles stünde in Frage, würde Duda nicht wiedergewählt. „Ein Sieg des Kandidaten der Bürgerkoalition würde eine schwere politische, soziale und moralische Krise heraufbeschwören. Wir können das verhindern. […] Aber nichts geht von alleine. Dazu bedarf es der Anstrengung und der Initiative, eines eindeutigen Programms, das die Bürger unseres Vaterlandes auch erreicht. Wir befinden uns heute in einem Alarmzustand, der erst endet, wenn wir den Sieg errungen haben.“
Eine Wahlpropaganda der Angstmache
Kaczyński weiß sehr wohl und hat dies auch mehrmals zum Ausdruck gebracht, dass sich aus Angst politisches Kapital schlagen lässt. Man muss zuerst den Menschen einreden, in welche Gefahr sie geraten, sollte der politische Gegner im Staat das Sagen haben. Dann muss man sich nur noch als die politische Kraft präsentieren, die allein in der Lage ist, sie vor der ihnen drohenden Gefahr zu schützen. 2015 war die von PiS herauf beschworene Gefahr der Ansturm muslimischer Flüchtlinge, im gegenwärtigen Ringen um die Stimmen der Bürger ist es die Homosexualität.
Dazu einige Kostproben: Auf einer Wahlveranstaltung in Mińsk Mazowiecki sagte Verteidigungsminister Wacław Błaszczak: „Präsident Duda ist ein Garant der Sicherheit. Er lässt es nicht zu, dass die demoralisierende LGBT-Ideologie unser Land bestimmt. […] Das erlauben wir nicht. Nicht diese Demoralisierung. Dass die polnische Gesellschaft durch diese Art von Ideologie geschwächt wird. Schließlich haben frühere Genrationen darum gekämpft, dass aus den Schulen die einstige Ideologie verschwand. Der Präsident ist Garant dafür, dass es zu dieser Destruktion nicht kommt.“
Hinter dieser Aussage wollte Präsident Duda nicht zurückstehen: „Auch heute versucht man, uns und unseren Kindern eine Ideologie aufzuzwingen, doch eine andere. Eine völlig neue, einen Neobolschewismus. Wenn man diese Ideologie in aller Heimlichkeit in die Schulen trägt, um das Bild von Kindern zu verändern, um im Kindesalter ihre Weltsicht durch ihre Sexualität zu bestimmen, was zutiefst der menschlichen Reifung in Ruhe und Ausgeglichenheit widerspricht, dann ist das eine Ideologie und nichts anderes.“
Niemand von PiS fragt danach, welche negativen Auswirkungen derlei Aussagen auf Andersgeschlechtliche und die Gesellschaft insgesamt hat, in der schon jetzt Homosexuelle unter Diskriminierung zu leiden haben.
Gezielte Behinderung der Auslandspolen?
Millionen Polen leben im Ausland. An die 400 000 von ihnen hatten sich für die Präsidentschaftswahl registrieren lassen. Um ihre Stimme abgeben zu können, hätten sie persönlich das für sie zuständige Konsulat aufsuchen oder dort ihre Briefwahl rechtzeitig eintreffen müssen. Es zeigte sich aber, dass, anders als in den USA, wo erwartungsgemäß die Polonia für Duda stimmen würde, viele Polen in den westlichen Demokratien ihre Wahlunterlagen zu spät erhielten und auf diese Weise gehindert wurden, an der Wahl teilzunehmen. Es besteht der Verdacht, dass die von PiS-Leuten besetzten Konsulate diese Verzögerung bewusst betrieben haben, weil sie der durchaus begründeten Überzeugung waren, dass diese Auslandspolen nicht für eine Wiederwahl Dudas stimmen würden. Ließe sich dieser Verdacht erhärten, dann wäre dies eine ernste Verletzung des Prinzips allgemeiner Wahlen. Massenhafte Klagen erreichten deswegen die Wahlkommission, doch an der Gültigkeit des Wahlergebnisses änderte dies nichts.
Der Wahlsonntag
Am 28. Juni bildeten sich trotz Corona-Epidemie bereits am frühen Morgen lange Schlangen vor den Wahllokalen. Das ließ eine hohe Wahlbeteiligung erwarten. Bis in die letzte Stunde wurde auf beiden Seiten ein erbitterter Wahlkampf geführt, wobei der Blitzbesuch von Andrzej Duda bei Präsident Trump besonders herausstach. Er konnte nicht anders als eine gegen die Regeln verstoßene Wahlhilfe für Duda verstanden werden, zumal Trump seinem Gast ausdrücklich einen guten Wahlerfolg wünschte.
Das Wahlergebnis war keine Überraschung. Über Wochen hatten Umfragen voraus gesagt, Duda würde mit einem Stimmenanteil von gut 40% gegenüber seinem Hauptrivalen Trzaskowski mit ungefähr 30% die Wahl gewinnen. So kam es denn auch: Andrzej Duda erhielt 43,50%, Rafał Trzaskowski 30,46%, Szymon Hołownia 13,,87% und Krzysztof Bosak, der Chef der nationalistischen, deutschfeindlichen und antisemitischen Konföderation, 6,75%. Die weiteren Kandidaten erhielten Stimmenanteile von nur wenigen Prozenten. Eine Stichwahl wurde damit notwendig.
Ein Wahlerfolg für Szymon Hołownia
Bedenkt man die Umstände, unter denen der Drittplatzierte Szymon Hołownia als Bewerber um das Präsidentenamt angetreten war, dann kann man in ihm nicht nur einen Verlierer dieses Wahlsonntags sehen. Ohne einer Partei anzugehören, gelang diesem Journalisten, Gründer mehrerer sozialer Stiftungen und Vertreter eines offenen Katholizismus, in kürzester Zeit die Bildung einer aus eigener Tasche und durch Spenden finanzierten Bewegung, die in der Lage war, einen landesweiten Wahlkampf um die Zukunft Polens zu führen. Er war angetreten, um die tiefe Spaltung der polnischen Gesellschaft aufgrund des jahrzehntelangen Kampfes zwischen der „Bürgerplattform“ und der Kaczyński-Partei zu überwinden. Analysten sahen in ihm, sollte er in der Stichwahl gegen Duda antreten, sogar den Wahlsieger. Aber es kam anders. Er und seine Bewegung wurden bei dieser Präsidentschaftswahl zum Opfer eben dieses Kampfes zweier politischer Lager. Doch mit dieser neuen Bewegung hat sich die politische Landschaft Polens verändert, und es ist nicht ausgeschlossen, dass damit künftig eine Alleinregierung der Nationalkonservativen unmöglich wird. Mit der unmittelbar nach der Präsidentschaftswahl gegründeten Gesellschaft „Polska 2050“ hat Hołownia unterstrichen, dass er mit einem auf die Zukunft Polens orientierten Programm die Geschicke Polens mit bestimmen will.
Kein Rededuell zwischen Duda und Trzaskowski
Wer erwartet hatte, dass es vor der Stichwahl am 12. Juli zu einem im Fernsehen übertragenen Duell zwischen Duda in Trzaskowski kommen würde, sah sich enttäuscht. Dabei gehört ein solches direktes Aufeinandertreffen der Kontrahenten zum guten Stil eines demokratischen Landes. Bisher gab es auch immer ein solches Duell in Polen. Es ist schließlich für die Wahlentscheidung der Bürgerinnen und Bürger von großer Bedeutung. Warum also gab es diesmal dieses Rededuell nicht?
Der Grund war, dass sich Duda und Trzaskowski nicht über die Modalitäten einer solchen Kontroverse einigen konnten. Trzaskowski hatte Duda zu einer im unabhängigen Fernsehen übertragenen Diskussion eingeladen. Doch der lehnte die Debatte mit dem Argument ab, sie würde ja dann in einer „ausländischen Station“ stattfinden. Die Einladung sei nichts anderes als „eine Attacke und ein politisches Gangstertum“. Dabei hatte er vor fünf Jahren als damaliger Herausforderer selbst darauf gedrängt, im unabhängigen Fernsehen mit dem ihm damals unterlegenen Bronisław Komorowski die Klingen zu kreuzen.
Anstelle eines Rededuells organisierte das ganz im Dienst der PiS-Propaganda stehende öffentliche Fernsehen TVP eine Befragung Dudas. Sie fand in einem Ort statt, in dem er im ersten Wahlgang 51% der Stimmen erhalten hatte. Für Duda ein Heimspiel. Fragen an ihn durften die ortsansässigen Bürgerinnen und Bürger sowie die Zuschauer der Sendung stellen. Es war eine perfekte, auf Dudas Überlegenheit ausgerichtete, seinem Kontrahenten der Lächerlichkeit preisgebende Inszenierung.
Trzaskowski war immerhin um eine Diskussion bemüht. Er lud zu seinem in unabhängigen Fernsehsendern ausgestrahlten Auftritt jeweils einen Vertreter verschiedener Redaktionen ein, auch solche aus dem PiS-Lager. Das entsprach einem sachlich geführten Wahlkampf, doch die Einschaltquoten und Zustimmungswerte reichten nicht an Dudas Fernsehshow heran.
Antideutsche und antisemitische Wahlkampfargumente
Im Wahlkampf wurde Trzaskowski mehrfach mit antideutschen und antisemitischen Argumente attackiert. Ihm wurde geradezu geraten, nach Berlin zu gehen, von wo er ja seine Instruktionen beziehe. Unmittelbar vor dem Ende des Wahlkampfes äußerte sich denn auch Kaczyński in einem Interview mit Pater Rydzyk in dessen Fernsehsender Trwam antisemitisch und antideutsch. Trzaskowski hatte sich im Wahlkampf dafür verwandt, mit der jüdischen Weltorganisation auf deren Wunsch über das Problem des jüdischen Besitzes zu sprechen, deren Eigentümer in den Gaskammern von Auschwitz und anderenorts ermordet worden waren, und den der polnische Staat nach dem Krieg übernommen hatte. Kaczyński kommentierte dies wie folgt: „Trzaskowski sagte, man müsse darüber reden. Nur wer ohne polnische Seele, ohne ein polnisches Herz, ohne polnisches Denken ist, kann so etwas sagen. All das besitzt Trzaskowski offensichtlich nicht.“
Noch gibt es in Polen unabhängige Fernsehsender, Zeitungen und Zeitschriften mit rein polnischen Redaktionen, hinter denen aber ausländisches, vornehmlich amerikanisches und deutsches Kapital steht. Für Kaczyński handelt es sich, wie er in dem besagten Interview sagte, um „äußere Kräfte, die sich das Recht herausnehmen, darüber zu entscheiden, wer in Polen regieren wird. Bereits allein damit wird den Polen das genommen, was ihnen heilig ist – die Unabhängigkeit und die Souveränität. Das dürfen wir nicht zulassen.“ Die kritische Berichterstattung dieser Medien ist Kaczyński seit langem ein Dorn im Auge, und dass er ihre „Repolonisierung“ anstrebt, ist kein Geheimnis.
Kirchliche Einflussnahme
Offiziell nahm Polens Kirche zur Präsidentschaftswahl mit einem lapidaren, vom Generalsekretär Bischofskonferenz unterzeichneten Kommuniqué Stellung. Damit erinnerten die Bischöfe wenige Tage vor der Stichwahl die Gläubigen an ihre politische Verantwortung, die ihnen gebiete, am Wahltag zu den Urnen zu gehen. Journalisten und Politiker wurden aufgefordert, ehrlich zu berichten und bei aller Polemik die Achtung vor dem politischen Gegner zu wahren.
Doch in der Praxis konnte von einer Neutralität keine Rede sein. Selbst gegen ein ausdrückliches Verbot seitens der Kurie hingen auf kirchlichem Territorium Plakate mit der Aufforderung, Duda zu wählen. In den Dörfern agitierten Priester für die Wiederwahl von Duda, indem sie ihren Gläubigen damit drohten, sie würden eine Todsünde begehen, sollten sie Trzaskowski ihre Stimme geben.
Vor allem wegen ihrer nationalkatholischen Ansichten bekannte Bischöfe sprachen sich dafür aus, am 12. Juli den amtierenden Präsidenten Duda und nicht seinen Kontrahenten Rafał Trzaskowski zu wählen. Für sie ging es an diesem Wahltag nicht um eine rein politische, sondern um eine die Grundfesten des christlichen Glaubens in Frage stellende Entscheidung. In diesem Sinn äußerte sich etwa Bischof Ignacy Dec, der Vorsitzende des Bischöflichen Rates für das Laienapostolat, in einem Interview in dem zum Medienimperium von Pater Rydzyk gehörenden „Nasz Dziennik“: „Der Katholik soll den Kandidaten wählen, der sich zu den auf Dekalog und Evangelium basierenden Werten bekennt.“ Im Folgenden verdeutlichte Dec, dass Rafał Trzaskowski seiner Meinung nach diese Grundvoraussetzung nicht erfülle und daher für einen Katholiken nicht wählbar sei. Zur Begründung verwies er auf Trzaskowskis Tätigkeit als Stadtpräsident von Warschau. „Die Ansichten des von ihm repräsentierten politischen Milieus bringen ihn in einen ernsten Konflikt mit der Lehre der Kirche.“ Als Beweis wurden von Dec Halbwahrheiten und falsche Unterstellungen angeführt: Propagierung von LGBT, Unterstützung einer demoralisierenden Sexualerziehung, nach der angeblich Kinder bereits im Alter bis zu vier Jahren in der Praxis der Masturbation zu unterweisen seien, Sechsjährige über die Verbindungen von Personen gleichen Geschlechts und Achtjährige über den Gebrauch von Verhütungsmitteln. Nichts Dergleichen hat Trzaskowski in seinem Wahlkampf vertreten, sich wohl aber gegen Diffamierung und gesellschaftliche Ausgrenzung von Homosexuellen gewandt.
Je näher der Tag der Stichwahl kam, umso aggressiver wurde der Wahlkampf. Wahlplakate wurden verunstaltet oder vernichtet. Es kam zu Beschimpfungen, Hasstiraden und Tätlichkeiten, und dies vor allem von Seiten der Duda-Wähler, die im Rückgriff auf die von Dec und anderen Bischöfen vorgebrachten Argumente der Gegenseite eine durch die Sexualverführung der Kinder herbeigeführte Demoralisierung der Nation unterstellten.
Am 11. Juli, dem Vortag der Präsidentschaftswahlen, versammelten sich trotzt der Corona-Epidemie rund 15 000 Wallfahrer der „Familie Radio Maryja“ im Nationalheiligtum der Schwarzen Madonna in Tschenstochau. Unter Verletzung des Verbots jeglicher Wahlpropaganda fragte Pater Tadeusz Rydzyk, der nationalkatholische Gebieter über ein Zeitschriften, Radio und Fernsehen umfassendes Medienimperium, von der Brüstung der Klosterfeste herab seine Gemeinde: „Seid ihr für LGBT?“ Und als Antwort schallte ihm, wie nicht anders zu erwarten, ein viel tausendfaches „Nein“ entgegen.
Zelebrant an diesem Tag war der Krakauer Metropolit, Erzbischof Marek Jędraszewski. Im August 2019 hatte er mit folgender Aussage eine traurige Berühmtheit erlangt: „Die rote Pest überzieht schon nicht mehr unser Land, wohl aber die neue, neomarxistische, die unsere Seelen, unsere Herzen und unser Denken in Besitz nehmen möchte: keine rote, sondern eine regenbogenfarbige.“ Nun erinnerte er in seiner Predigt an das 100 Jahre zurückliegende „Wunder an der Weichsel“. Am 15. August 1920, dem Fest Mariä Himmelfahrt, hatten polnische Truppen den sowjetischen Vormarsch stoppen können und dadurch, wie das polnisch-nationale Narrativ dieses Ereignis deutet, nicht nur Polen, sondern Europa insgesamt vor dem Bolschewismus gerettet. „Heute befinden wir uns wieder in einer tödlichen Gefahr, vor allem kulturellen Charakters, die einer Ideologie, die wie der Bolschewismus aus marxistischen Wurzeln hervorgeht, die die Institution von Ehe und Familie untergräbt, die Programme erstellt, deren Ziel eine moralische Verderbnis von Kindern und Jugendlichen ist.“ Und er rief dazu auf, sich nicht der „Diktatur einer Minderheit“ zu unterwerfen.
Was nach der Präsidentschaftswahl zu erwarten ist
Das wohl wichtigste Ergebnis dieser Präsidentschaftswahl ist die sich weiter verschärfende Spaltung des Landes. Sie lässt sich auch geographisch abbilden: Der vornehmlich dörflich und kleinstädtisch geprägte Osten Polens wählte Duda, der westliche Teil Trzaskowski. Es handelt sich hierbei nicht nur um einen politischen, sondern um einen mentalen Gegensatz. Während die stark lokal verwurzelten Menschen im Osten Polens national-konservativ geprägt sind und für sie die von der Regierung garantierte soziale Sicherheit Priorität besitzt, sind für die im Westteil des Landes lebenden Polen größere Mobilität, ein deutlicheres Freiheitsbedürfnis sowie eine empfindlichere Sensibilität für Rechtstaatlichkeit und Bürgerrechte charakteristisch. Die Konsequenz ist eine zu erwartende weitere Verschärfung der gesellschaftspolitischen Situation.
Jarosław Kaczyński wird seinen Kurs des so genannten „guten Wandels“ beibehalten. Sein erstes Interview nach der Präsidentschaftswahl verriet seine Absicht, die noch unabhängigen Medien unter Kontrolle zu bringen. Der Polnischen Presseagentur gegenüber sagte er: „Die Medien in Polen müssen polnisch sein.“ Der Wahlkampf habe ihren schädlichen Einfluss unter Beweis gestellt. Sie hätten ein gänzlich falsches Bild von Polen vermittelt. Auf die Frage, wie denn eine solche „Repolonisierung“ der Medien von statten gehen solle, meinte er, man müsse auf die ausländischen Kapitaleigner einwirken, dass in den Redaktionen entsprechende personelle Veränderungen vorgenommen würden. Sollte dies nicht fruchten, wäre eine Zerschlagung dieser Medienkonzerne zu erwägen. Dass dazu, wie von der Opposition im Wahlkampf vermutet, bereits eine fertige Gesetzesvorlage darauf warte, in den Sejm eingebracht zu werden, verneinte der Chef von PiS.
Was die Opposition betrifft, so gab es unmittelbar nach der Wahl eine Absprache zwischen Borys Budka, dem Vorsitzenden der „Bürgerplattform“, und Rafał Trzaskowski. Beide nehmen bereits jetzt schon die in drei Jahren stattfindenden Präsidentschaftswahlen in den Blick. Die knappe Wahlniederlage werten beide als Hoffnung auf einen künftigen Wahlsieg. Um dieses Ziel zu erreichen, will Budka die Partei programmatisch und wohl auch personell erneuern, damit sie vor allem für junge Menschen attraktiv wird.
Trzaskowski kehrt als Stadtpräsident nach Warschau zurück. Er übernimmt zusätzlich die Aufgabe, Kontakte zu den NGOs sowie zur sozialen Bewegung von Szymon Hołownia zu pflegen. Zudem wird er sich um eine enge Kooperation der Selbstverwaltungsorgane bemühen; dies auch aus dem Grund, weil man allgemein einen ihre Befugnisse und Möglichkeiten einschränkenden Zentralismus erwartet, den es abzuwehren gilt. Mit dem Ausgang der Präsidentschaftswahl scheint jedenfalls der Kampf um die politische Gestaltung Polens keineswegs endgültig entschieden.