Der Rechtstaatmechanismus - eine Propagandakeule?
Neben Ungarn hat auch Polen mit einem Veto die Verabschiedung des EU-Haushalts für die Jahre 2021-2027 sowie die Freigabe des dringend benötigen Corona-Aufbau-Fonds blockiert. Ob bis zu der entscheidenden Sitzung der Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten am 10./11. Dezember ein Kompromiss gefunden wird, ist fraglich. Mitten in der Corona-Pandemie erlebt die EU nun auch noch eine ernste finanzielle und institutionelle Krise.
Der Grund für das Veto Polens und Ungarns ist der vom EU-Parlament beschlossene Rechtstaatmechanismus, wonach die Vergabe von EU-Mitteln von der Wahrung der Rechtstaatlichkeit abhängig gemacht wird. Polen und Ungarn fürchten zu Recht, dass er gegen sie angewandt werden könnte und dann die EU-Fördergelder nicht mehr wie gewohnt in ihre Kassen fließen. Daher verlangen sie die Rücknahme des Rechtstaatmechanismus als Voraussetzung für ihre Zustimmung zum EU-Haushalt sowie zum Corona-Aufbau-Fonds.
In diesem Zusammenhang ist die Rede des polnischen Premiers Morawiecki, die er am 18. November vor dem Sejm gehalten hat, höchst aufschlussreich. Sie diente der Begründung des Vetos. Dass Polen dadurch möglicherweise bis zu 123 Milliarden Zł. Fördergelder verloren gehen könnten, scheint für Morawiecki keine Rolle zu spielen. Ihm geht es allein darum, „ob unser Schicksal in unserer Hand bleibt, ob wir über unsere Angelegenheiten selbst bestimmen.“ Und an die Adresse der Sejm-Parlamentarier gewandt, sagte er: „Es geht nicht um eine Spaltung in Rechte und Linke, sondern um eine Spaltung in jene, die wollen, dass die polnische Nation über sich selbst entscheidet, und die, welche wollen, dass ein paar Beamte in Brüssel unser Schicksal bestimmen.“
Dass Polen überhaupt der EU beitreten konnte, verdankt es einem demokratischen Transformationsprozess, durch den das Land die zur Aufnahme unverzichtbaren Kopenhagener Kriterien der Rechtstaatlichkeit erfüllte, die durch die PiS-Regierung tiefgreifend verletzt wurden und weiter verletzt werden: Doch das kommt Morawiecki offenbar nicht in den Sinn, wie seine Aussagen zeigen: „Eine Union als europäische Oligarchie, die heute die Schwachen bestraft, sie an den Rand drückt, ist nicht die EU, der wir beigetreten sind; das ist nicht eine EU, welche die Zukunft vor sich hat. […] Wenn unsere Partner nicht verstehen, dass wir mit der ungleichen Behandlung der Staaten nicht einverstanden sind, mit dem Knüppel in der Hand, der gegen uns immer nur deswegen benutzt wird, weil jemandem unsere Regierung nicht gefällt, dann machen wir in der Tat am Ende von unserem Veto Gebrauch.“
Morawiecki sagt ganz deutlich, dass er die EU, so wie sie ist, nicht will. Er versteht sich als Kämpfer „um eine andere EU. Wir kämpfen um Polen, aber wir kämpfen auch um die Zukunft der EU.“ Morawiecki scheut dabei nicht einmal den Vergleich mit den Jahrzehnten kommunistischer Herrschaft. Für ihn ist die Androhung des Rechtstaatmechanismus nichts anderes als ein „Propagandaknüppel von EU-Bürokraten. Aus kommunistischen Zeiten kennen wir uns sehr gut aus mit dem Gebrauch solcher Propagandaknüppel.“
In der anschießenden kurzen Debatte warf die Opposition der Regierung „Verrat am nationalen Interesse“ vor. Und sie erinnerte Morawiecki daran, dass er sich noch am 22. Juli gerühmt hatte, in den Verhandlungen um den EU-Haushalt für Polen ein Optimum herausgeholt zu haben. Das werde nun auf‘s Spiel gesetzt. Entgegen dem, was diese Regierung vollmundig erklärt, gehe es ihr in Wahrheit gar nicht um Polen, sondern um den Erhalt ihrer Macht, und dies auf Koste nationaler Interessen.
Kommentatoren verweisen zudem darauf, dass Morawiecki seine Rede unter dem Druck von Justizminister Ziobro geschrieben habe, der gegenüber der EU eine kompromisslose Haltung einfordert. Zudem spekuliere man im Regierungslager darauf, dass die EU unter der deutschen Ratspräsidentschaft am Ende den Rechtstaatmechanismus so aufweichen werde, dass Polen keine Sanktionen zu befürchten habe. Doch was für eine EU hätten wir dann?
Komentar