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Droht ein Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine?


Im vergangenen Sommer veröffentlichte Putin ein umfangreiches Manifest „über die historische Einheit von Russen und Ukrainern“. Bezeichnend ist, dass der Text hochoffiziell an die Streitkräfte verteilt wurde.

Der russische Schriftsteller Wiktor Jerofiejew sieht in Putins Manifest den Versuch nachzuweisen, dass „Russen und Ukrainer eine Nation sind.“ Diese These ist an sich nicht neu. Die Verwandtschaft beider Nationen ist unumstritten. Die Frage ist nur, wie eng. Handelt es sich, wie Putin meint, um „Brüder und Schwestern“ oder doch nur um entfernte Verwandte?

Ein Indiz ist die Sprache. Ich war vor Jahrzehnten selbst Zeuge eines Disputs zweier Wissenschaftler, der eine Russe, der andere Ukrainer. Während der russische Vertreter der sowjetischen Akademie der Wissenschaften im der ukrainischen Sprache lediglich ein russisches Dialekt sah, bestand sein Kollege darauf, dass es sich um eine eigenständige Sprache handelt.

Diese Diskussion hat für sich genommen noch nichts Bedrohliches, vorausgesetzt sie verbleibt auf der akademischen Ebene. Doch für Putin ist sie etwas anderes als ein bloßer linguistischer Disput. Ausgehend davon, dass, wie er meint, Russen und Ukrainer aufgrund ihrer Geschichte und Sprache eine einheitliche Nation bilden, beklagt Putin dass diese Einheit gegenwärtig zerrissen sei, weil sich, wie er behauptet, die Ukraine unter ausländischer Kontrolle befinde. Und dies seit 2014. Der damals angeblich von den USA organisierte Majdan, der den russlandfreundlichen ukrainischen Präsidenten nötigte, Hals über Kopf nach Russland zu fliehen, habe die Ukraine zur westlichen Einflusssphäre gemacht, wobei neben den USA und Frankreich auch Deutschland ein bestimmender Faktor sei.

Nach dieser Logik organisierte der Westen in der Ukraine einen Umbruch, indem er „unsere engsten Verwandten zu sich herüberzieht.“

Vor Jahre operierte die russische Propaganda noch mit der Anschuldigung, in der Ukraine dominierten Banderas nationalistische und faschistische Erben. Diese Argumentation fehlt in Putins Manifest. Er bedient sich eines anderen Narrativs, um die historische Legitimation zu begründen, die Ukraine vom westlichen Joch zu befreien. Konkret bedeutet dies eine drohende Kriegsgefahr. Zu Putins Manifest passen daher die gegenwärtige Konzentration russischer Truppen an der Grenze zur Ukraine sowie die Aussage des ukrainischen Präsidenten Seleńskyj, der Geheimdienst habe einen bevorstehenden Putschversuch aufgedeckt.

Jerofiejew sieht Putin in der zaristischen Tradition des „Allherrschers“. Insofern sei der Text, kurz gesagt, Ausdruck seiner Selbstermächtigung, ein moralischer Scheck für jegliches Handeln mit dem Ziel, der vom Westen geknechteten ukrainischen Nation zu helfen, einschließlich der Bereitschaft zum Krieg.

Dabei weiß Putin, dass der Westen im Falle eines Krieges militärisch nicht eingreifen werde. Wie nach der Okkupation der Krim begnüge man sich mit Sanktionen, die letztlich wirkungslos seien. Ergänzend lässt sich sagen, dass der Westen nach Verstreichen einer gewissen Frist angesichts bestimmter Probleme wieder das Gespräch mit Putin suchen wird, wie sich dies bei dem gegenwärtigen Konflikt mit Belarus gezeigt hat.

Putins Manifest, so Jerofiejew, sei auch auf dem Hintergrund des Zerfalls der Sowjetunion zu verstehen, der ja, wie Putin stets betone, eine Katastrophe sei. Was der Westen als Erfolg verbuche, sei in den Augen Putins eine Tragödie. Der Verlust der Ukraine wirke im russischen Bewusstsein als „Phantomschmerz“. Es gehe Putin nicht um die Wiederherstellung der UdSSR, wohl aber um die Errichtung eines Imperiums Doch ohne die Ukraine sei Russland kein Imperium, eine These, die auch der polnisch-amerikanische Politikwissenschaftler und Politikberater amerikanischer Präsidenten Brzeziński vertreten hat.

Monate später antwortete der ukrainische Präsident Seleńskyj auf Putins Argumentation, allerdings ohne dessen Manifest zu erwähnen. Am Jahrestag der Taufe der Kiewer Rus sagte er in seiner Rede, bei der Rus habe es sich um ein europäisches Staatswesen gehandelt, so dass die Ukraine von ihrem Ursprung her zu Europa gehöre.

Doch eine wie auch immer geartete ukrainisch-russische Verwandtschaft kann und will auch Seleńskyj nicht in Abrede stellen, zumal nach einer Umfrage 41% der Ukrainer die Einheit beider Nationen betonen, was natürlich nicht bedeutet, dass sie unter der Herrschaft Putins leben und ihren eigenen Staat aufgeben möchten. Doch die 70 Jahre, die Ukrainer und Russen gemeinsam unter den Verhältnissen der UdSSR verlebten, der Kampf Seite an Seite im Vaterländischen Krieg, sind bis heute prägend.

Die bange Frage bleibt: Wird es zum Krieg kommen? Wobei es ja bereits seit acht Jahren den Krieg in der Ostukraine gibt. Trotz eines vereinbarten Waffenstillstandes gerät die ukrainische Frontlinie fast täglich unter Beschuss, und es gibt Tote und Verletzte unter den Soldaten und der Zivilbevölkerung. Doch das ist in westlichen Medien kaum noch eine Meldung wert.

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