Ein weiterer Schritt in Richtung Polexit
- Theo Mechtenberg
- 9. Okt. 2021
- 2 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 21. Okt. 2021
Vor Monaten hatte Premier Morawiecki das Verfassungsgericht um eine Entscheidung in der Frage gebeten, in welchem Verhältnis nationales und europäisches Recht zu einander stehen. Am 10. Oktober erhielt er die Antwort. An diesem Tag erklärten die Verfassungsrichter bei zwei Gegenstimmen, dass Elemente der EU-Verträge mit der polnischen Verfassung unvereinbar sind und es keinen Vorrang des EU-Rechts gegenüber der nationalen Gesetzgebung geben kann. Konkret bedeutet dies, dass Beschlüsse der EU-Kommission und Urteile des Europäischen Gerichtshofes nicht als verpflichtend angesehen werden. Mit dieser Entscheidung versstößt das polnische Verfassungsgerichtgegen gegen einen Grundpfeiler der Union, so dass sich Polen damit faktisch außerhalb der Rechtsordnung der Europäischen Union befindet. Dies ist ein deutlicher Schritt in Richtung Polexit, obwohl die Regierung beteuert, Mitglied der Union bleiben zu wollen und gut 80% der Polen sich gegen einen Austritt aus der EU aussprechen.
Mit der Erklärung des Verfassungsgerichts ist der Widerspruch zwischen den skandalösen Gesetzen der rechtsnationalen PiS-Regierung, die seit 2017 systematisch die Unabhängigkeit der Justiz demontiert, und den Bestimmungen der EU-Verträge keineswegs aus der Welt geschafft. Ganz im Gegenteil. Der Konflikt hat vielmehr einen neuen Höhepunkt erreicht.
Im Übrigen verstoßen die Richter gegen die Verfassung, auf die sie sich zu Unrecht berufen und zu deren Wächter sie eigentlich berufen sind. Denn in den Paragraphen 9 und 91 verpflichtet sich Polen, internationale Verträge zu respektieren und die eigene Gesetzgebung an ihnen zu orientieren. Schließlich hat Polen die EU-Verträge vor Jahren ratifiziert und sich damit verpflichtet, bestimmte Kompetenzen an EU-Institutionen zu übertragen und die allgemeinen EU-Standards der Rechtstaatlichkeit zu wahren.
Die Entscheidung des Verfassungsgerichts lässt sich wohl nur so interpretieren, dass die polnische Regierung eine andere Union anstrebt, in der die Mitgliedstaaten innenpolitisch frei Hand haben, eine Union der bloßen Wirtschaftsgemeinschaft und der Wahrung gemeinsamer Sicherheitsinteressen.
Die Entscheidung des Verfassungsgerichts löste Unverständnis und Proteste aus. Die polnische Richtervereinigung Justitia erklärte: „Wir werden uns an die Entscheidungen der europäischen Gerichte halten und die europäische Werte wahren.“ Im ganzen Land gehen die Menschen auf die Straße, bekennen sich zu Europa und fordern die Rücknahme der Entscheidung des Verfassungsgerichts. Die Kommissionspräsidentin zeigte sich „tief besorgt“; Abgeordnete des Europaparlaments verschiedener Parteien sprachen sich dafür aus, Polen die EU-Gelder zu sperren. Eine Lösung des Konflikts ist jedenfalls nicht in Sicht, und es ist schwer vorstellbar, dass er durch einen Kompromiss beigelegt werden kann. Dafür gibt es kaum einen Spielraum.
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