Eskalation des jüdisch-polnischen Konflikts um Entschädigungsforderungen
Seit langem streiten jüdische Weltorganisationen, unterstützt vom Staat Israel, mit der polnischen Regierung um Entschädigungen für den nach dem Zweiten Weltkrieg vom polnischen Staat konfiszierten Besitz jüdischer Holocaustopfer. Dieser Streit ist nun eskaliert. Grund ist eine vom Sejm am 24. Juni verabschiedete Gesetzesnovellierung, wonach nach Ablauf von 30 Jahren administrative Entscheidungen nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Dies betrifft auch den früheren jüdischen Besitz an Grund und Boden sowie an Immobilien. Die Novellierung wurde von 309 Abgeordneten der politischen Rechten unterstützt. 120 enthielten sich. Gegenstimmen gab es keine. Noch ist die Novellierung nicht rechtskräftig, weil der Senat, in dem die Opposition eine hauchdünne Mehrheit besitzt, ihr nicht zugestimmt hat und ihr wohl in der jetzigen Fassung auch nicht zustimmen wird.
Bei dem Streit geht es um erhebliche Summen. Jüdische Organisationen beziffern sie auf 230-300 Milliarden Złotych. Nach Schätzungen der Weltorganisation für die Rückerstattung jüdischen Besitzes belaufen sie sich auf 300 Milliarden Dollar, also auf über eine Billion Złotych.
Die Reaktion Israels auf die Novellierung ließ nicht lange auf sich warten. Noch am Tag des Sejmbeschlusses gab die israelische Botschaft eine Stellungnahme heraus, in der es heißt: „Dieses unannehmbare und amoralische Gesetz ist ein ernsthafter Schlag in den Beziehungen unserer Staaten.“ Und der israelische Außenminister schrieb auf Twitter: „Die israelische Regierung beabsichtigt nicht, zu diesem Gesetz zu schweigen, denn es handelt sich um eine klare und scherzhafte Missachtung von Rechten der Holocaustopfer und ihrer Nachkommen. […] Der polnische Premier Mateusz Morawiecki kommentierte die Stellungnahme des israelischen Außenministers mit den Worten: „Solange ich Premier sein werde, wird Polen ganz sicher nicht für deutsche Verbrechen zahlen. Keinen Złoty, keinen Euro und auch keinen Dollar.“
Ähnlich äußerte sich das Außenministerium: „Polen trägt keinerlei Verantwortung für den Holocaust. Das war ein vom deutschen Okkupanten verübtes Verbrechen, u a. gegenüber polnischen Bürgern jüdischer Nationalität. […] Die Novellierung resultiert aus der Notwendigkeit, das Urteil des Verfassungsgerichts von 2015 in das Rechtssystem einzuführen. Denn das besagt, dass eine Situation mit dem Prinzip des Rechtsstaats unvereinbar ist, in der die Möglichkeit besteht. ohne irgendwelche zeitliche Begrenzungen die Ungültigkeit einer administrativen Entscheidung festzustellen.
Besonders scharf bezog Parteichef Jarosław Kaczyński in der „Gazeta Polska“ Stellung. Die Äußerung des israelischen Außenministers bezeichnete er als „frech“. Und er brachte die jüdische Forderung in Zusammenhang mit der deutschen Alleinschuld am Holocaust: „Polen ist niemandem etwas schuldig, wohl aber schulden die Deutschen uns für die Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg eine Billion Dollar. Würden sie zahlen, dann reicht es für alle.“
Zündstoff für den Antisemitismus
Die unmittelbare Folge dieses Streits ist ein erneutes Aufflammen des Antisemitismus in Polen. So schüttete die rechtsradikale und antisemitische „Allpolnische Jugend“ vor die israelische Botschaft einen Haufen Steine, versehen mit einer Tafel mit den Worten: „Das hier ist euer Besitz“. Und um ihrer Aktion Nachdruck zu verleihen, gab die „Allpolnische Jugend“ eine Erklärung heraus, in der es heißt: „Es empört uns die Dreistigkeit jüdischer Kreise. Es empört uns, dass Polen der Mitwirkung am Holocaust beschuldigt werden. Es empört uns die Forderung nach einem Besitz, der ihnen gar nicht gehört. Es empört uns das Bewusstsein der Straffreiheit für die an Palästinensern verübten Verbrechen und für die räuberische Politik Israels, vor der die Welt die Augen verschließt.“ Zudem initiierte die „Allpolnische Jugend“ eine an Ministerpräsident Morawiecki gerichtete Petition. Ihr Titel: „Sag NEIN zur rechtlosen jüdischen Entschädigungsforderung.“ In dem zu unterschreibenden Text heißt es: „Seit vielen Jahren gibt es diese Lobbing-Aktion Israels und der Vereinigten Staaten mit dem Ziel, dass die Polen für das, was die Deutschen im Zweiten Weltkrieg angerichtet haben, Entschädigung zahlen sollen. Ein sich seiner bewusster Pole ist nicht damit einverstanden, dass er für vom Okkupanten begangene Taten verantwortlich gemacht wird. […] Daher beantrage ich in meinem Namen und dem meiner ganzen Familie die Einführung eines Gesetzes, das uns unter dem Anschein von Entschädigungen für von Deutschen begangene Taten vor dem Raub nationalen Eigentums schützt. Ich beantrage die Wahrung der Prinzipien der lateinischen Kultur, die besagen, dass eine Kollektiverantwortung unzulässig ist. Ich beantrage zudem eine drastische Revision der polnisch-israelischen Beziehung von einer kolonialen zu einer partnerschaftlichen.“
Die Diskussion im Senat
Am 7. Juli befasste sich der Senat in einer vierstündigen Debatte mit der Problematik. Eingeladen war die israelische Botschafterin, die sich über die Novellierung sehr betroffen zeigte und die Rechtmäßigkeit der Forderung nach Entschädigung bekräftigte: „Die Überlebenden des Holocaust haben das historische und moralische Recht, ihre Ansprüche geltend zu machen und Entschädigungen zu erhalten, die ihnen für ihr Eigentum zustehen. Sollte die Novellierung in Kraft treten, dann würden tausende ehemaliger Eigentümer an Immobilien, deren Sache vor dem Verwaltungsgericht anhängig ist, oder die weiterhin die erforderlichen Dokumente und Beweise sammeln, nicht zu ihrem Recht kommen.“ Sie beendete ihre Rede mit einem emotionalen Appell: „Hört auf die Stimme der jüdischen Welt, hört auf die Stimme des jüdischen Staates, hört auf den Schmerz, den dieses Gesetz hervorruft, hört auf die Stimme der Überlebenden, die uns sagen, stoppt dieses Gesetz und bedenkt es von neuem. Noch ist es nicht zu spät.“
Den Standpunkt der Regierung erläuterte der stellvertretende Justizminister. Er bedauerte, dass sich die polnische Regierung im polnischen Parlament den Argumenten eines dritten Staates stellen muss. Er nannte die Nationalisierung von Eigentum einen ganz normalen Vorgang. Im Übrigen wiederholte er die bekannten Argumente, wonach nicht die Polen, sondern die Deutschen zur Kasse gebeten werden müssten.
Auch der für Polen zuständige Rabbi Michael Schudrich war vom Senat eingeladen worden. Er brachte den sehr komplizierten Sachverhalt auf die einfache biblische Formel `Du sollst nicht stehlen` und betonte, dass es sich in der Diskussion um gestohlenes Gut handle. Dem widersprach Janusz Korvin-Mekke, stellvertretener Senatsvorsitzender und führendes Mitglied der rechtsnationalen Konföderation: „Nach dem Zivilrecht ist Diebstahl vielmehr das, was Israel macht. Die Juden, deren Häuser zerstört wurden, waren schließlich polnische Bürger, und ihr Besitz fiel nach ihrem Tod aus Ermangelung an Nachkommen an den polnischen Staat. Als Drittstaat ist Israel überhaupt nicht mit ihnen verbunden und hat keinerlei Anspruch auf Entschädigung.“ Anzumerken ist, dass die Häuser der polnischen Juden keineswegs, wie Korvin-Mekke suggeriert, im Zweiten Weltkrieg massenhaft zerstört wurden.
Eine infame Unterstellung
Die Rechtsnationalen vermuten, dass der Senat, in dem sie keine Mehrheit besitzen, die Novellierung ablehnen wird. Entsprechend wird er für sie zur Zielscheibe ihrer Attacken. So erlaubte sich Janusz Karnowski, Chefredakteur von wPolitytika.pl, eine infame Unterstellung: „Inoffiziell weiß man, dass der Senat bemüht sein wird, die Arbeit an der Novellierung in die Länge zu ziehen. Er tut dies u. a. deswegen, um die Regierung zu Gesprächen mit den Vereinigten Staaten zu nötigen und PiS an die Wand zu drücken. […] Man kann den Eindruck gewinnen, dass der Senat - und damit die gesamte Opposition – die Gelegenheit nutzt und ein deutliches Signal an Israel, an die jüdische Diaspora und an andere Kräfte sendet: Wenn ihr uns helft, die Regierung zu stürzen, dann befassen wir uns ernsthaft mit euren Entschädigungsforderungen. So sieht das leider aus. Denn man kann kaum annehmen, dass sich Senatsmarschall Grodzki und sein Umfeld nicht darüber im Klaren sind, dass das, was sie machen, die Öffnung einer Tür bedeutet, die Polen nicht einen Zentimeter weit öffnen kann. Jeder Spalt ist bereits Hochverrat.“
Quelle: Piotr Głuchowski, Alarm na prawicy: Źydzi za kasę mogą obulić polski rząd! (Alarm bei der Rechten: Die Juden können für Geld die polnische Regierung stürzen!), Gazeta Wyborcza v, 08 Juli 2021.
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