Ihr wisst doch, wie es einem Fremden zumute ist
Seit Wochen füllen die Vorgänge an der polnisch-weißrussischen Grenze die Schlagzeilen. Bilder zeigen Menschengruppen, die verzweifelt versuchen, die Grenze zu durchbrechen, um in der Europäischen Union, zumeist in Deutschland, Aufnahme zu finden. Sie bewerfen polnische Grenzwächter mit Steinen und werden bei winterlichen Temperaturen mit Wasserwerfern zurückgedrängt. Vereinzelten Gruppen gelingt dennoch der Durchbruch. Manche von ihnen werden von Polizei und Grenzschutz aufgegriffen und – nach EU-Recht unerlaubt – zur weißrussischen Seite zwangsweise zurückgeführt. Anderen gelingt die Flucht, und sie erreichen mit Hilfe von Schleppern das Territorium der Bundesrepublik.
Dass es zu dieser Situation an Polens Ostgrenze gekommen ist, hat seinen Grund in einem politischen Konflikt der EU dem weißrussischen Diktator Lukaschenko. Er lockt als Vergeltung für die verhängten Sanktionen Flüchtlinge aus dem Nahen Osten ins Land und lässt sie an die Grenze zu Polen transportieren, wo sie ihren Schicksal überlassen bleiben. Inzwischen bemüht sich Noch-Bundeskanzlerin Angela Merkel auf diplomatischem Weg, u. a. durch Telefonate mit Putin und Lukaschenko, um eine Lösung des Problems. Und dies offenbar mit Erfolg. So stoppte die Türkei weitere Füge mit potentiellen Flüchtlingen nach Minsk, und der Irak startete erste Rückführungsaktionen ihrer an der Grenze festsitzenden Bürger und Bürgerinnen.
Die Kaczyński-Partei versucht, aus der Situation an der Grenze politisches Kapital zu schlagen, um – ähnlich wie 2014 – die Flüchtlingsfrage zu einem Thema nationaler Bedrohung zu machen, vor der allein sie die Polen zu schützen vermag. So schürt das polnische Fernsehen unter der grenznahen Bevölkerung panische Angst vor Grenzdurchbrüchen. Auf entsprechende Meldungen werden Kinder aus Kita und Schulen heimgeholt, und man verbarrikadiert sich in den Häusern.
Worüber aber in den staatlichen Medien nicht berichtet wird, das ist das Schicksal jener, die zwar die Grenze überwunden haben, aber in dem dicht bewaldeten und sumpfigen Gelände herumirren. Es wurden bereits in diesem Grenzbereich etliche Leichen von Flüchtlingen entdeckt.
Kann man diese vom Tod bedrohten Menschen einfach sich selbst überlassen? Nein, sagen sich manche Polen. Das wäre Verrat an uns selbst. Dann würden wir „unsere Liebe, unsere Dankbarkeit, unsere Hilfsbereitschaft und unsere Hoffnung über Bord werfen.“
Es sind vor allem zwei Initiativen, die hier Hilfe leisten: die Stiftung „Ratunek“ (Rettung) und der Verbund verschiedener NGOs unter dem Namen „Graniza“ (Grenze). Tag und Nacht sind einzelne ihrer Gruppen unterwegs, um in dem unwegsamen Gelände Flüchtlinge aufzuspüren, um sie mit warmer Kleidung, mit Schlafsäcken, Wasserflaschen und Nahrung zu versorgen. Vornehmlich sind es Suppen in Gläsern, die durch eine landesweite Aktion gesammelt und an die schutzbedürftigen Flüchtlinge verteilt werden.
Die Helfer, zumeist junge Frauen, nehmen diese Last auf sich, wenngleich sie oft Schikanen durch Polizei und Grenzschutz ausgesetzt sind, die diese Hilfeleistung am liebsten unterbinden würden. Durch ihre Hilfe würden nur weitere Flüchtlinge ermuntert, sich auf den Weg zur polnischen Grenze zu machen. Um dieses Dilemma wissen auch diese hilfsbereiten Menschen, aber sie "wissen auch, wie es Fremden zumute ist" (Exodus 23,9) und lassen sich vom Primat des Liebesgebots leiten.
Durch ihre Hilfe erfahren sie auch ganz konkret manches über das Schicksal dieser Flüchtlinge: Ein Syrer, von Beruf Rechtsanwalt, ist mit seinem 14jährigen Sohn seit drei Jahren auf der Flucht. Anfang November gelang es ihnen, die Grenze zu Polen zu überwinden. Doch sie gerieten in die Hände einer Patrouille. Der Junge entzog sich der Festnahme. Ohne Nahrung, ohne Wasser irrte er drei Tage lang in den Wäldern umher, ehe er von den Helfern aufgegriffen wurde. Vater und Sohn sind nun wieder in einem polnischen Sammellager vereint. Doch ihre Zukunft ist weiterhin ungewiss. Werden sie Asyl erhalten oder nach Syrien abgeschoben?
Ein anderes Beispiel: Eine 16köpfige Familie aus dem Irak, das jüngste Kind vier Monate alt, hatte neunmal die Grenze überwunden und wurde neunmal vom polnischen Grenzschutz nach Belarus zurückgebracht. Halb erfroren und völlig entkräftet wurde sie aufgegriffen. Ein anwesender Journalist legte seine Filmkamera beiseite und ergriff, vom Anblick der Szene erschüttert, schützend die Hand eines der Kinder. Und diesmal wurde die Familie nicht wieder zurückgebracht.
Dass inzwischen auch grenznahe Bewohner gegenüber der Not dieser Fremden sensibilisiert sind, zeigt die Aktion „grünes Licht“. Sie erleuchten ihre Häuser und geben dadurch den Flüchtlingen Orientierung und nehmen sie bei sich auf.
Diese Hilfsaktionen sind nicht die Lösung des Problems, aber ihnen ist es zu verdanken, dass nicht noch mehr Leichen in den Wäldern entdeckt werden. Und sie zeigen, dass nicht alle Polen für die fremdenfeindliche Propaganda der staatlichen Medien anfällig sind.
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