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Polens gespanntes Verhältnis zur Europäischen Union


Wie gespannt das Verhältnis Polens zur Europäischen Union ist, das wurde in den Oktobertagen überdeutlich. Am 19. Oktober hatte Polens Premier Mateusz Morawiecki seinen Auftritt vor dem Europaparlament. Er redete wie ein überzeugter Europäer und erteilte allen Gerüchten, Polen wolle die EU verlassen, eine Absage. Die Kritik an der Justizreform seiner Regierung tat er kurzerhand als ein „Missverständnis“ ab. Und er verwahrte sich gegen die „Erpressungen“ der EU-Kommission gegen sein Land. Es zeigte sich, dass die von ihm vertretene nationalkonservative Regierung eine andere EU anstrebt, dass sie die Kritik an den Verletzungen der Rechtstaatlichkeit zurückweist und Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) als „Kompetenzüberschreitungen“ für nicht bindend erklärt. Diese „schleichende Kompetenzerweiterung“ sei eine „stille Revolution“, die jeder rechtlichen Grundlage entbehre. Für Polen gelte jedenfalls der Grundsatz „das oberste Recht der Republik Polen ist die Verfassung. Sie hat Vorrang vor anderen Rechtsquellen“, also auch vor denen der Europäischen Union.

Morawiecki fand, wie nicht anders zu erwarten, Beifall bei der Minderheit rechtsnationaler EU-Abgeordneter. Mit scharfen Worten reagierten dagegen Vertreter der Europäischen Volkspartei, der Grünen und der Linken. So sagte Manfred Weber, Chef der Europäischen Volkspartei: „Wer das Primat des Europäischen Gerichtshofs ablehnt, wer die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft ablehnt, wer die Unabhängigkeit der Justiz ablehnt, der tritt faktisch aus der Union als Rechtsgemeinschaft aus.“ Ähnlich äußerte sich die Sprecherin der Grünen, und die Linken erhoben die Forderung, die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen müsse endlich den Worten Taten folgen lassen. Sie selbst zeigte sich „tief besorgt“ und sagte, die Vorgänge in Polen würden „die Basis der Europäischen Union in Frage stellen.“

Das EU-Parlament verabschiedete eine Resolution, mit der die EU-Kommission aufgefordert wird, den polnischen Wiederaufbauplan wegen der Verletzungen der Rechtstaatlichkeit nicht zu bestätigen und die Polen zugedachten Mittel, immerhin 36 Milliarden €, nicht freizugeben. Und es verklagte die EU-Kommission wegen Untätigkeit beim EuGH-

Uneinigkeit auf dem EU-Gipfel

Zwei Tage nach dieser denkwürdigen Sitzung des Europaparlaments trafen sich die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten. Auf dem Programm standen die bedrohlich steigenden Energiepreise und die vom weißrussischen Präsidenten Lukaschenko initiierte neue Flüchtlingssituation an der Ostgrenze der EU. Doch überschattet wurden diese Probleme von der Frage, wie der Rat auf die permanenten Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit in Polen reagieren soll.

Im Vorfeld hatte Premier Morawiecki an alle Staats- und Regierungschefs einen Brief versandt, in dem er seine Sicht zu den Vorwürfen darlegte und behauptete, die Europäische Union sei keine Allianz mehr von freien, gleichen und souveränen Staaten, sondern ein zentral geführter Organismus ohne rechtliche Grundlage und demokratische Kontrolle. Diese Entwicklung bedürfe dringend einer Korrektur.

Zu einer Grundsatzdebatte über den Brief von Morawiecki kam es offenbar nicht, wohl aber zu einem Streit, wie angesichts der permanenten Verletzungen der Rechtstaatlichkeit mit Polen zu verfahren sei. Österreich und die Beneluxstaaten sprachen sich für einen harten Kurs aus, Ungarns Ministerpräsident Orbán bezeichnete Polen geradezu als das vorbildlichste Land der EU und Angela Merkel bekräftigte auf ihrer wohl letzten Teilnahme an einer Ratssitzung zwar die unaufgebbaren Prinzipien der Gemeinschaft, setzte aber weiterhin auf einen Dialog und betonte, die Probleme könnten nicht durch Gerichtsbeschlüsse gelöst werden. So ging man am Ende auseinander, ohne sich auf einen gemeinsamen Standpunkt geeinigt zu haben.

Die polnische Justizreform – eine prinzipielle Verletzung der Rechtstaatlichkeit

Bei den Beanstandungen von Verletzungen der Rechtstaatlichkeit geht es nicht um bloße Einzelfälle, sondern um die Justizreform als Ganzes. Sie ist das Herzstück des von der Kaczyński-Partei unter dem Motto eines „guten Wandels“ angestrebten Umbaus des Staates. Es geht ihr um nichts anderes als um die politische Kontrolle über das gesamte Gerichtswesen. Dieser Politisierung unterliegen auch andere gesellschaftliche Bereiche, so Zeitungen, Zeitschriften und das private Fernsehen; sie alle sollen nach und nach „polonisiert“ und auf diese Weise ausländischen Eignern entzogen werden. Auch dies kritisiert die EU-Kommission als nicht hinnehmbar.

Gerechtfertigt wird die Justizreform mit der fadenscheinigen und unhaltbaren Begründung, das Gerichtswesen müsse von den immer noch vorhandenen Resten des Kommunismus „gesäubert“ werden. So sprach Premier Morawiecki von einem „Ausmisten des Augiasstalls“. Und in einem dem „Washington Examiner“ gewährten Interview erklärte er, dass die von der EU-Kommission beanstandete Justizreform notwendig sei, denn immer noch hätten aus der kommunistischen Zeit belastete Richter auf allen Ebenen amtiert. Das ist nachweislich falsch, denn mit dem Gesetz vom 20. Dezember 1989 wurde bereits vier Monate nach Ende kommunistischer Herrschaft das Oberste Gericht mit unbelasteten Richtern neu besetzt. Wahr ist dagegen, dass ehemalige Funktionäre der kommunistischen Partei und Mitarbeiter des polnischen Sicherheitsdienstes Positionen innerhalb des Partei- und des Staatsapparats von PiS innehaben.

Gegen die Justizreform formierte sich der Widerstrand der Zivilgesellschaft. Gemäß dem Grundsatz „wehret den Anfängen“ kam es bereits 2015 zu ersten Protesten, denen zahlreiche weitere folgen sollten. In einem von Lech Wałęsa initiierten „Appell an alle Polen“ heißt es: „Fast sämtliche öffentlichen Institutionen wurden den Parteiinteressen untergeordnet: Gerichte, Staatsanwaltschaften, zivile Dienste und Armee. [..] Die ohne jede Konsultationen vorbereiteten und eilig verabschiedeten zerstörerischen Gesetze haben nur das eine Ziel: die Mehrung der Macht von PiS auf Kosten der Freiheit der Bürger.“

Konkret ging und geht es PiS darum, die für die Funktion des Gerichtswesen wesentlichen Institutionen, in Sonderheit das Verfassungsgericht, den für die Berufung der Richter zuständigen Landesjustizrat, das Oberste Gericht als ein mit weitgehenden Befugnissen ausgestattetes Kontrollorgan sowie die zur Sanktionierung von Richtern ermächtigte Disziplinarkammer mit PiS-treuen Richtern und Parteigängern zu besetzen. Zuständig für die Durchführung der Justizreform ist Zbigniew Ziobro. Als Justizminister und Generalstaatsanwalt besitzt er die dazu erforderliche Macht, wobei durch diese Personalunion bereits die für eine demokratische Gesellschaft fundamentale Gewaltenteilung nicht mehr gewährleistet ist, was von der EU-Kommission auch entsprechend als inakzeptabel kritisiert wurde.

Die Politisierung des Obersten Gerichts und der Disziplinarkammer

Auf welche Weise PiS das Gerichtswesen unter Kontrolle bringt, soll wenigstens an zwei Beispielen erläutert werden: 2018 beschloss der Sejm mit der Mehrheit der nationalkonservativen Abgeordneten eine Neufassung des Gesetztes zum Obersten Gericht. Danach sollen neue Richter nicht mehr von der Richterschaft des Obersten Gerichts, sondern vom bereits mit loyalen PiS-Gefolgsleuten besetzten Landesjustizrat, den die EU-Kommission im Übrigen nicht als juristisches Organ anerkennt, gewählt werden. Zudem wurden ältere Richter am Obersten Gericht rechtswidrig zwangsemeritiert, um die Neubesetzung ihrer Stellen mit entsprechenden PiS-Kandidaten zu ermöglichen.

2020 kam es bei der Wahl des Präses des Obersten Gerichts zu einem weiteren Rechtsbruch. Mehrere Versuche, Präsident Andrzej Duda für die Ernennung einen PiS-treuen Kandidaten zu präsentieren, scheiterten. Am Ende ernannte Duda die von PiS gewollte Kandidatin, obwohl sie bei ihrer Wahl nur 25 gegenüber 50 Stimmen eines PiS-kritischen Kandidaten erhalten hatte. Ein deutlicher Machtmissbrauch durch den höchsten Repräsentanten des polnischen Staates.

Zu den Befugnissen der im Rahmen der Justizreform geschaffenen Disziplinarkammer zählen die Suspendierung von Staatsanwälten, Verfügungen von Gehaltskürzungen sowie die fristlose Entlassung von Richtern ohne Angabe von Gründen.

Nach Auffassung des EuGH ist die Disziplinarkammer weder unabhängig noch neutral, weil sie mit Personen besetzt ist, die durch den als politisches Organ geltenden Landesjustizrat berufen wurden und der daher bezüglich der Unabhängigkeit „begründete Zweifel erweckt“. Sie müsse daher unverzüglich liquidiert werden.

Die EU-Kommission setzte der polnischen Regierung für die Umsetzung der Entscheidung des EuGH eine Frist bis zum 16. August 2021. Trotz einer Verlängerung der Frist weigerte sich Polens Regierung, jegliche Tätigkeit der Disziplinarkammer einzustellen. Um einen „nicht wieder gut zu machenden Schaden von der Europäischen Union abzuwenden“, verurteile daraufhin der EuGH Polen am 27. Oktober solange zur Zahlung eines täglichen Zwangsgeldes in Höhe von einer Million Euro bis die polnische Regierung der Forderung nach Liquidierung der Disziplinarkammer nachgekommen ist. Es ist dies das erste Mal, dass der Europäische Gerichtshof eine derart harte Strafe verhängt.

Die polnische Regierung und die nationalkonservativen Medien reagierten auf das Urteil des EuGH mit Empörung. Man wolle Polen „erpressen“ und erklärte, man werde nicht einen einzigen Cent an Brüssel zahlen.

Das polnische Verfassungsgericht erklärt die Priorität nationalen Rechts vor dem EU-Recht

Am 10. Oktober erklärte das polnische Verfassungsgericht bei zwei Gegenstimmen, dass Teile der EU-Verträge mit der polnischen Verfassung unvereinbar sind und es keinen Vorrang des EU-Rechts gegenüber der nationalen Gesetzgebung geben kann. Konkret bedeutet dies, dass Beschlüsse der EU-Kommission und Urteile des Europäischen Gerichtshofes nicht als verpflichtend angesehen werden können. So sieht sich denn auch die polnische Regierung unter Berufung auf die Erklärung des Verfassungsgerichts nicht genötigt, der vom EuGH verhängten Zwangszahlung nachzukommen.

Mit ihrer Entscheidung verstößt das polnische Verfassungsgericht gegen einen Grundpfeiler der Union, so dass sich Polen damit faktisch außerhalb der Rechtsordnung der Europäischen Union stellt. Der Konflikt mit den Institutionen der Europäischen Union erreicht somit einen neuen Höhepunkt.

Im Übrigen verstößt der Richterspruch gegen die Verfassung, auf die sich die Verfassungsrichter zu Unrecht berufen. Denn in den Paragraphen 9 und 91 verpflichtet sich Polen, internationale Verträge zu respektieren und die eigene Gesetzgebung an ihnen zu orientieren. Schließlich hat Polen die EU-Verträge vor Jahren ratifiziert und sich damit verpflichtet, bestimmte Kompetenzen an EU-Institutionen zu übertragen und die allgemeinen EU-Standards der Rechtstaatlichkeit zu wahren.

Die Entscheidung des Verfassungsgerichts lässt sich nur so interpretieren, dass die polnische Regierung eine andere Union anstrebt, in der die Mitgliedstaaten innenpolitisch freie Hand haben, eine Union der bloßen Wirtschaftsgemeinschaft und der Wahrung gemeinsamer Sicherheitsinteressen.

Die Entscheidung des Verfassungsgerichts löste Unverständnis und Proteste aus. Die polnische Richtervereinigung Justitia erklärte: „Wir werden uns an die Entscheidungen der europäischen Gerichte halten und die europäische Werte wahren.“ Im ganzen Land gingen die Menschen auf die Straße, bekannten sich zu Europa und forderten die Rücknahme der Entscheidung des Verfassungsgerichts. Eine Lösung des Konflikts ist nicht in Sicht, und es ist schwer vorstellbar, dass er durch einen Kompromiss beigelegt werden kann. Dafür gibt es kaum einen Spielraum.

Die Rechtsgrundlage für Sanktionen gegenüber Mitgliedstaaten der Europäischen Union

Die polnische Regierung leugnet, dass es für Sanktionen gegen ihr Land überhaupt eine Rechtsgrundlage gibt. Dabei stehen der EU verschiedene Möglichkeiten eines Straferlasses zur Verfügung. So fällte der EuGH sein Urteil in Wahrnehmung seiner Aufgabe, das EU-Recht durchzusetzen, nachdem in einem Vertragsfeststellungsverfahren der Verstoß gegen EU-Recht ermittelt, aber der Rechtsbruch durch die polnische Regierung trotz Aufforderung nicht behoben wurde.

Auch der EU-Vertrag sieht Sanktionen vor, wenn ein Mitgliedstaat die in Artikel 2 aufgeführten Werte, darunter auch die Rechtstaatlichkeit, missachtet. Das Verfahren dazu regelt Artikel 7: „Auf begründeten Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten, des Europäischen Parlaments oder der Europäischen Kommission kann der Rat mit der Mehrheit von vier Fünfteln seiner Mitglieder nach Zustimmung des Europäischen Parlaments feststellen, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte durch einen Mitgliedstaat besteht.“ (1) In diesem Fall können dem betreffenden Mitgliedstaat sogar die Stimmrechte entzogen werden. (3) Doch dazu müsste der Rat „einstimmig“ feststellen, „ dass eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte durch einen Mitgliedstaat vorliegt, nachdem er den betroffenen Mitgliedstaat zu einer Stellungnahme aufgefordert hat.“ Angesichts der unterschiedlichen Interessen der Mitgliedstaaten dürfte es kaum einmal möglich sein, dass ein derartiger Feststellungsbeschluss einstimmig gefasst wird.

Anders verhält es sich mit dem Rechtstaatmechanismus. Er wurde 2020 gegen den Widerstand von Polen und Ungarn in Zusammenhang mit dem EU-Haushalt für die folgenden Jahre beschlossen. Danach können Verstöße gegen die im EU-Vertrag festgeschriebenen Grundwerte finanziell geahndet werden. Zahlungen aus dem EU-Haushalt können gekürzt oder gänzlich eingefroren werden. So hält gegenwärtig die EU-Kommission die 36 Milliarden Euro, die Polen aus dem Wiederaufbaufonds erhalten soll, zurück.

Polen und Ungarn haben gegen die Anwendung des Rechtstaatmechanismus beim EuGH geklagt. Ihre Begründung: Der Rechtstaatmechanismus beruhe auf politischen Erwägungen und besitze in den EU-Verträgen keine Rechtsgrundlage. Recht werden Polen und Ungarn mit ihrer Klage wohl nicht bekommen, aber sie gewinnen Zeit, da bis Ende des Jahres kaum mit einem Urteil des EuGH zu rechnen ist.

Die traditionelle Ambivalenz des polnischen Europaverhältnisses

Auf der EU-Ratssitzung verwies Angela Merkel auf die Besonderheit der nationalen Identität der Polen. Die entschuldigt zwar nicht die permanenten Verletzungen der Rechtstaatlichkeit, sie gibt aber Aufschluss über die Spezifik des traditionellen polnischen Europaverständnisses und damit über das in die Geschichte weit zurückreichende Spannungsverhältnis. Deutlich wurde diese Eigenheit in der Rede von Tadeusz Mazowiecki, dem ersten postkommunistischen polnischen Premier, die er am 30. Januar 1990 vor dem Europarat gehalten hat. U.a. sagte er: „Immer war Europa der Bezugspunkt für die Antwort auf die Frage nach unserer Identität.“ Wie europäisch die Polen sind, das hätten sie über Jahrhunderte durch die Verteidigung Europas und seiner Werte hinlänglich bewiesen, ohne dass Europa dies Polen in gebührender Weise vergolten hätte. Ganz im Gegenteil. Mazowiecki sprach vom „Vorwurf gegen Europa wegen des Einverständnisses mit Jalta, mit der Teilung Europas, mit unserem Verbleib hinter dem Eisernen Vorhang.“

Das Verhältnis Polens zu Europa ist somit traditionell ambivalent. Einerseits weiß man sich dem westlichen Kulturkreis zugehörig, andererseits fürchtet man die von dort ausgehenden Gefahren für die nationale Identität. Das Verhältnis zwischen nationaler Identität und Europäizität ist aufgrund geschichtlicher Erfahrungen prinzipiell gespannt. Daraus erklärt sich das beachtliche Reservoir an EU-Skeptikern und EU-Gegnern, ein Reservoir, aus dem denn auch die nationalkonservative PiS reichlich schöpft.




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