Polnischer Kulturkampf um neue Abtreibungsgesetzgebung
Am 22. Oktober erklärte das von PiS-treuen Richtern besetzte Verfassungsgericht die seit 1993 geltende Abreibungsgesetzgebung für verfassungswidrig. Unter Berufung auf den Lebensschutz (Art. 38) und die Wahrung der menschlichen Würde (Art. 30) soll künftig eine Schwangerschaftsunterbrechung aus Gründen ernster Schädigung der Leibesfrucht nicht mehr erlaubt sein. Damit ist der Weg frei für die Verabschiedung eines Gesetzes, das einem totalen Verbot der Abtreibung gleich kommt.Die Entscheidung des Verfassungsgerichts war erwartet worden. Bereits im Dezember 2019 hatte eine Gruppe von 119 Abgeordneten aus den Reihen der nationalkonservativen Kaczyński-Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS), der nationalistischen „Konföderation“ sowie der Bauernpartei PSL beim Verfassungsgericht eine Prüfung beantragt, ob die seit 1993 geltende Abtreibungsgesetzgebung verfassungsmäßig und die Abtreibung einer geschädigten Leibesfrucht daher erlaubt ist. Mit dieser Eingabe verband sich die Erwartung, dass die Entscheidung des Verfassungsgerichts in diesen Fällen einen Schwangerschaftsabbruch für unzulässig erklären werde, was denn auch geschehen ist.Es verwundert sehr, dass das Verfassungsgericht zehn Monate für seine Entscheidung benötigte. Sie lag, wie man vermuten kann, längst auf Eis. Es ging um den rechten Zeitpunkt der Bekanntgabe. Und den bestimmte kein anderer als Kaczyński persönlich. Ihm war klar, dass mit massiven Protesten zu rechnen war. Schließlich hatte er bereits diese Erfahrung machen müssen, als er nach dem Wahlsieg seiner Partei im Herbst 2015 die Abtreibungsgesetzgebung erneut auf die Tagesordnung setzen ließ. Assistiert wurde er von der Bischofskonferenz. Am 3. April 2016 kam in den Kirchen eine Erklärung ihres Präsidiums zur Verlesung, in der die polnischen Bischöfe das geltende Recht infrage stellten und eine Verschärfung der Abtreibungsgesetzgebung einforderten. Sie unterstützten eine entsprechende von „Pro Life“ initiierte Bürgerinitiative. Es kam zu Massenprotesten, wodurch sich die PiS-Regierung veranlasst sah, nachzugeben und von dem Gesetzesprojekt vorerst Abstand zu nehmen.Doch die Bemühungen um ein verschärftes Abtreibungsrecht waren damit nicht zu Ende. Das Jahr 2018 brachte einen weiteren Anlauf. Diesmal sammelte die Stiftung „Leben und Familie“ unter dem Motto „Stoppt die Abtreibungen“ weit über 100.000 Unterschriften und reichte beim Sejm ihr Gesetzesvorhaben ein, das entgegen dem geltenden Recht selbst bei ernster Schädigung der Leibesfrucht eine Schwangerschaftsunterbrechung untersagt. Und wieder gingen die Frauen, und nicht nur sie, in Massen auf die Straße. Der 23. März wurde durch die Organisatorinnen des „Allpolnischen Streiks der Frauen“ zum „Schwarzen Freitag“ erklärt, an dem es vornehmlich in den Großstädten zu Massenprotesten kam. Allein in Warschau waren es 55.000, die vor dem Parlament und dem Sitz von PiS demonstrierten und sowohl der Kirche als auch den Politikern das Recht absprachen, in dieser Frage über sie zu entscheiden. Die Gesetzesvorlage wurde zwar im Sejm behandelt, doch verabschiedet wurde sie nicht.Angesichts dieser Erfahrung ist das Hinauszögern der Entscheidung des Verfassungsgerichts verständlich. Kaczyński wollte die politischen Kosten für ein verschärftes Abtreibungsgesetz möglichst gering halten. Aus Umfragen wusste er, dass es dafür in der Bevölkerung keine Mehrheit gab und im Falle der Verabschiedung eines verschärften Abtreibungsverbots die Zustimmungswerte für seine Partei und Regierung starke Einbußen erleiden würden. Daher musste der Termin zum einen nach der Präsidentschaftswahl liegen, zum anderen aber möglichst weit entfernt von den nächsten Parlamentswahlen. Zu berücksichtigen war zudem die Corona-Pandemie. Sie bot die Gelegenheit, die Versammlungsfreiheit einzuschränken, um so die Proteste zu verhindern. Würde dennoch massenhaft protestiert, dann konnte man die demonstrierenden Frauen für das Anwachsen der Neuinfektionen und deren Folgen verantwortlich machen und vor Gericht bringen. Unter diesem Aspekt war aus der Sicht von Kaczyński der 22. Oktober, der Tag, an dem die Neuinfektionen erstmals einen Höchststand erreichten, gut gewählt.Die Wucht der ProtesteDoch Kaczyńskis Kalkulation ging nicht auf: Nach Bekanntgabe der Entscheidung des Verfassungsgerichts kam es aufgrund des Aufrufs des „Allpolnischen Streiks der Frauen“ im ganzen Land zu Massenprotesten, die in wenigen Tagen ein bislang in der nachkommunistischen Ära Polens unbekanntes Ausmaß annahmen: Die Villa von Parteichef Kaczyński wurde umlagert und musste von Polizeikräften geschützt werden. Verkehrsknotenpunkte wurden besetzt; an einem Tag blieben die Frauen landesweit der Arbeit fern; Studentinnen und Studenten der Universitäten schlossen sich den Protesten an; am 30. Oktober demonstrierten 100.000 in der Hauptstadt Warschau. Es gab äußerst kreative Aktionen. So wurden an Allerheiligen, als wegen der Corona-Pandemie auf Beschluss der Regierung die Friedhöfe geschlossen blieben, vor den Büros von PiS symbolische, mit vielen Blumen versehene Gräber errichtet. Auf den Tafeln wünschte man „Ruhet in Frieden“. Aus dem Protest der Frauen wurde in kurzer Zeit eine breite Auflehnung gegen das herrschende System. Ein Kulturkampf war im vollen Gange.Am 27. Oktober kam es im Sejm zu tumultartigen Szenen. Abgeordnete der Opposition trugen Masken mit dem Logo des „Allpolnischen Streiks der Frauen“. Der Parlamentsvorsitzende monierte dies und verglich das Logo mit Abzeichen der Hitlerjugend und der SS. Und er warf der Opposition vor, sich an totalitären Vorbildern zu orientieren.Als eine Vertreterin der Linken Projekte einer Liberalisierung der Abtreibungsgesetzgebung zur Sprache bringen wollte, wurde ihr das Mikrophon abgeschaltet. Daraufhin kam es zum Tumult. Die Bank von Kaczyński wurde umlagert, und er wurde aufgefordert, zur Entscheidung des Verfassungsgerichts persönlich Stellung zu nehmen. Doch er reagierte lediglich mit Beschimpfungen der Oppositionsabgeordneten. Sie seien allesamt „russische Agenten“ und „Verbrecher“. Ohne vom Parlamentsvorsitzenden einen Verweis erhalten zu haben, verließ er die Sitzung. Das staatliche Fernsehen meldete abends: „Linker Faschismus zerstört Polen.“Auch die Kirche blieb von den Protesten nicht verschont. Am 25. Oktober, einem Sonntag, demonstrierten die Frauen vor und, wenn möglich, auch in den Kirchen unter dem Motto „Ein Wort zum Sonntag“. Der Grund. Die katholische Kirche, die seit langem ein solches Verbot fordert, begrüßte durch den Vorsitzenden der Bischofskonferenz, den Posener Erzbischof Stanisław Gądecki, die Entscheidung: „Mit großer Hochachtung nehme ich heute Kenntnis von der Entscheidung des Verfassungsgerichts, das eine eugenetische Abtreibung als mit der Verfassung der Republik für unvereinbar erklärte.“ Als Antwort auf diese ausdrückliche Begrüßung der Entscheidung des Verfassungsgerichts wählte der „Allpolnische Streik der Frauen“ die Posener Kathedrale für eine besondere Aktion: Ein gutes Dutzend protestierender Frauen hatte sich unter die Gottesdienstbesucher gemischt. Nachdem der Priester zur Predigt die Kanzel bestiegen hatte und im Altarraum die liturgische Handlung unterbrochen war, besetzte die Gruppe mit ihren Plakaten den Chorraum. Ein präzedenzloser Vorgang! Die Aufforderung des Priesters, die Kirche zu verlassen, negierten die Frauen. Die Polizei wurde herbeigerufen, und die räumte den Altarraum von den teils passiven Widerstand leistenden Frauen und notierte ihre Personalien. Parteichef Kaczyńskis „Verteidigung der Kirchen“Jarosław Kaczyński reagierte auf seine Weise auf die Proteste. Am 26. Oktober drohte er über Facebook: Wer während der Corona-Pandemie, in der Versammlungen mit mehr als fünf Personen verboten sind, an den Demonstrationen teilnimmt, der beschwört eine allgemeine Gefahr herauf; die Frauen würden am Tod anderer schuldig „Sie verüben ein Verbrechen, ein sehr ernstes Verbrechen. Die Regierung hat nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, sich dem entgegenzustellen.“In dem gegen die Kirche gerichteten Aktionstag sieht Kaczyński eine grundsätzlich kirchenfeindliche Attacke. Die Verwerfung des durch die Kirche repräsentierten „moralischen Depositum“ sei „Nihilismus“. „Diese Attacke kann Polen zerstören. Sie kann zu einem Triumpf der Kräfte führen, deren Macht im Grunde die Geschichte der polnischen Nation beendet, so wie wir sie bislang kannten. (…) Ich rufe alle Mitglieder von PiS und jene, die uns unterstützen, dazu auf, sich an der Verteidigung der Kirchen zu beteiligen.“ Und Kaczyński sprach von einem, durch die Gegner herbeigeführten „Krieg“. Ihn zu gewinnen, diene sein Aufruf: „Verteidigen wir Polen, verteidigen wir den Patriotismus, und handeln wir hier entschieden und mutig.“Kaczyńskis Appell fiel bei den radikal nationalistischen Kräften auf fruchtbaren Boden. Ihre zur Gewalt neigende Jugendorganisation erklärte sich bereit, den Schutz der Kirchen zu übernehmen. Und Justizminister und Generalstaatsanwalt Ziobro erließ Bestimmungen, die dazu dienen, die Organisatorinnen des „Allpolnischen Streiks der Frauen“ wegen des Verstoßes gegen das aus Gründen der Corona-Pandemie erlassene Versammlungsverbot verhaften und anklagen zu lassen. Doch die sich einer breiten Unterstützung erfreuenden Frauen protestieren weiter und fordern für sich das Recht, frei entscheiden zu können, ob sie eine unheilbar geschädigte Leibesfrucht austragen oder nicht. Sie nehmen die Herausforderung an und sehen sich, wie sie auf Plakaten verkünden, nun selbst in einem von Kaczyński und seinem System angezettelten Krieg.Eine fragwürdige EntscheidungKaczyński hatte zudem bekräftigt, dass an der Entscheidung des Verfassungsgerichts nicht zu rütteln sei. „Die Entscheidung steht ganz und gar in Übereinstimmung mit der Verfassung; mehr noch, in ihrem Licht war ein anderes Urteil nicht möglich.“ Doch dies, so polnische Juristen, stimme nicht. Der Verfassungsartikel 38, mit dem die Entscheidung begründet werde („Die Republik Polen sichert jedem Menschen rechtlichen Lebensschutz zu“), garantiere nicht das Recht auf Leben, geschweige denn vom Moment der Empfängnis an. Rechtsschutz auf Leben sei etwas gänzlich anderes als Recht auf Leben. Der Unterschied sei juristisch relevant. Das Prinzip des Rechtsschutzes wende die Verfassung auch sonst an, so beispielsweise auf das Privat- und Familienleben (Art. 47). Doch ein solcher Rechtsschutz sei nicht absolut, denn es gäbe in diesen Fällen immer eine Konkurrenz unterschiedlicher Rechtsansprüche (z.B. Mieter/Vermieter), so dass der Geltungsbereich eines Rechtsschutzes gesetzlich festzulegen sei (Art. 75.2).Auch unter diesem Aspekt gibt es gegen die Entscheidung des Verfassungsgerichts schwerwiegende Bedenken. Denn das Verbot, eine ernsthaft geschädigte Leibesfrucht abzutreiben, würde bedeuten, dass jährlich über tausend von dem Verbot betroffene Frauen zu einem Heroismus gesetzlich gezwungen würden. Denn ein schwer behindertes Kind zu gebären und es zeitlebens zu umsorgen, ist heroisch. Und es gibt Frauen, die dies freiwillig auf sich nehmen. Doch nicht jede Frau, nicht jede Familie ist zu einem solchen Heroismus fähig. Unter Berücksichtigung einer solchen unzulässigen menschlichen Überforderung wäre der Geltungsbereich des Rechtschutzes missgebildeter Kinder im Mutterschoß ohnehin entsprechend einzuschränken.Im Übrigen hätten die Autoren der Verfassung 1993 ein Recht auf Leben festschreiben können, taten dies aber nicht. Dabei habe ein entsprechender Vorschlag vorgelegen (Recht auf Leben vom Augenblick der Empfängnis an). Doch der sei nicht mehrheitsfähig gewesen und daher zurückgewiesen worden. Entschieden habe man sich für die Kompromissformel des Lebensschutzes. Die Verfassung biete somit für die Entscheidung vom 22. Oktober keine Rechtsgrundlage. PiS könne ja mit ihrer parlamentarischen Mehrheit ein absolutes Abtreibungsverbot beschließen, das die Verfassung zwar nicht verlange, aber ermögliche. Doch angesichts der zu erwartenden Proteste habe man sich offenbar die Rückendeckung der Verfassung sichern wollen, um so eine Situation zu schaffen, in der ein absolutes Abtreibungsverbot zwangsläufig vom Sejm zu verabschieden sei; faktisch habe man aber eine schier ausweglose Lage herbeigeführt.Die Aufkündigung eines KompromissesUm die Dramatik der gegenwärtigen Situation zu verstehen, muss man wissen, dass ihr Grund die Aufkündigung eines mühsam zustande gekommenen Kompromisses ist. Zur Erinnerung: Polens demokratische Regierung übernahm nach 1989 zunächst das Gesetz vom 27. April 1956, das vor allem dem Gesundheitsschutz der Schwangeren diente und den Schutz des ungeborenen Lebens fast gänzlich außer Acht ließ. Für Polens Kirche war klar, dass dieses aus der kommunistischen Zeit stammende und Abtreibungen praktisch uneingeschränkt freigebende Gesetz durch ein neues ersetzt werden musste. Bereits gegen Ende der kommunistischen Herrschaft hatten mit dieser Absicht 76 katholische Abgeordnete aller im Sejm vertretenen Parteien am 10. Mai 1989 eine Gesetzesvorlage „über den Rechtsschutz des ungeborenen Kindes“ eingebracht. Sie geht davon aus, „dass das menschliche Leben als höchstes Gut vom Augenblick der Empfängnis an zu schützen und zu achten ist.“ Rechtswidrige Abtreibungen sollten mit bis zu drei Jahren Freiheitsentzug bestraft werden. Diese Gesetzesinitiative fand seitens der polnischen Bischöfe volle Unterstützung. Mehr noch: Im Bewusstsein, im Kampf gegen den Kommunismus als Sieger hervorgegangen zu sein, war Polens Kirche bemüht, nach 1989 eine reichliche Ernte einzufahren So sollten christliche Werte gesetzlich verankert werden. Der kirchliche Druck auf die politischen Instanzen war anfangs der 1990er-Jahre so stark, dass in der öffentlichen Debatte der Kirche vorgeworfen wurde, eine Theokratie anzustreben. In diesem Kontext sind die damaligen kirchlichen Bemühungen zu sehen, ein absolutes Abtreibungsverbot politisch durchzusetzen. Doch gegen dieses Gesetzesvorhaben kam es landesweit zu Massenprotesten, die seine Verabschiedung verhinderten. Die Auseinandersetzungen bestimmten drei Jahre lang die öffentliche Diskussion. Und Polens Kirche musste in dieser Zeit schmerzlich erfahren, dass Polen zwar eine katholische Nation, nicht aber eine katholische Gesellschaft ist.Anfang 1993 einigte man sich schließlich auf einen Kompromiss. Das am 7. Januar verabschiedete Gesetz „über Familienplanung, Schutz des menschlichen Fötus und Bedingungen für erlaubte Abtreibungen“ sieht drei Fälle legaler Schwangerschaftsabrüche vor: bei Gefährdung der Gesundheit der Schwangeren, bei schweren Missbildungen der Leibesfrucht sowie bei Vergewaltigungen. Dieses Gesetz ist bis heute in Kraft, wenngleich es in der Vergangenheit nicht an Versuchen gefehlt hat, es einerseits zu liberalisieren, andererseits zu verschärfen. Und immer wieder gab es Stimmen, die vor den verheerenden Folgen warnten, sollte der Kompromiss, egal von welcher Seite, aufgekündigt werden.Nun ist er aufgekündigt worden, und zwar unter dem von einem die Gunst der Kirche suchenden nationalkonservativen System. Ein erbittert geführter Kulturkampf ist entbrannt, der einen neuen Kompromiss unmöglich macht. So wurde der Vorschlag von Präsident Andrzej Duda, das Verbot der Abtreibung einer ernstlich geschädigten Leibesfrucht auf Föten mit dem Down-Syndrom zu beschränken, von beiden Seiten zurückgewiesen. Der „Allpolnische Streik der Frauen“ fordert eine generelle Liberalisierung der Abtreibungsgesetzgebung und zeigt sich unter den gegenwärtigen politischen Verhältnissen nicht verhandlungsbereit. Eine Lösung des Konflikts dürfte schwierig sein.Die Sichtweise der KircheIn einem Kommuniqué vom 19. März 2018 betonte Erzbischof Stanisław Gądecki, der Vorsitzende der Bischofskonferenz, „das Recht eines jeden Kindes auf Geburt und Leben, unabhängig von genetischen Schäden. Die Rolle des Staates ist es, jedem Bürger Schutz zu garantieren, auch in seiner vorgeburtlichen Lebensphase.“ Gądecki äußerte zudem die Auffassung, der Schutz Ungeborener sei „keine Frage der Religion oder Weltanschauung, sondern vor allem eine der Wissenschaft, die eindeutig zeigt, dass das Leben des Menschen mit dem Moment der Empfängnis beginnt.“ Dabei beruft er sich auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, wonach das Leben das fundamentale Recht des Menschen sei, auf dem alle anderen Rechte beruhen würden. Allerdings ist es fraglich, ob sich die Aussage im Sinne der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte auf die pränatale Existenz beziehen lässt. Der entsprechende Artikel lautet: „Alle Menschen werden bezüglich ihrer Würde und ihrer Rechte frei und gleich geboren.“ Damit ist – wohl bewusst – über die pränatale Lebensphase nichts gesagt. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte lässt sich daher nur so interpretieren, dass ein Schwangerschaftsabbruch zwar kein einklagbares Menschenrecht ist, aber das Verwehren einer Garantie, in bestimmten Situationen diese Möglichkeit zu haben, eine Verletzung der Menschenrechte wäre. So jedenfalls urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, wonach die Nichtgewährung einer realen Möglichkeit auf Schwangerschaftsunterbrechung im Falle der Bedrohung der Gesundheit der Schwangeren oder einer ernsten Schädigung der Leibesfrucht eine Missachtung des persönlichen und familiären Lebens ist.Ein paar Tage nach dem Kommuniqué von Erzbischof Gądecki gab der Sprecher der Bischofkonferenz eine Stellungnahme ab, die sich mit der ihres Vorsitzenden deckt, den Standpunkt der Kirche aber noch um einiges deutlicher zum Ausdruck bringt. Er beschreibt zwar das Leiden und die dramatische Situation der Frau und ihrer Familie, wenn sich herausstellt, dass die Leibesfrucht genetische Schäden aufweist, aber trotzdem komme es den Frauen nicht zu, den Embryo seines Lebensrechts zu berauben. Auch verfange das Argument nicht, die Frau sei frei, über ihre Gesundheit und Selbstverwirklichung zu entscheiden, und damit stünde ihr auch das Recht auf Abtreibung zu. Das Recht auf Entscheidungsfreiheit sei zwar zu schätzen, nicht aber auf Kosten eines anderen Lebens. Im Übrigen gäbe es die Möglichkeit, das Kind nach der Geburt zur Adoption freizugeben.All das sind sachliche Argumente, welche die Auffassung der Kirche zum Lebensschutz Ungeborener widerspiegelt. Die Frage ist allerdings, ob damit bereits ihre gesetzlich verbindliche Umsetzung in einer pluralistisch-demokratischen Gesellschaft gefordert werden kann. Polens Bischöfe beantworten sie offenbar mit einem klaren Ja. Nicht so Teile des Klerus, wie der Brief von 27 namhaften Ordens- und Weltpriestern zeigt, die sich in der gegenwärtigen Situation zu Wort meldeten. In kürzester Zeit wurde er von zahlreichen Priestern, Mönchen und Ordensschwestern mit unterzeichnet. Die Initiatoren sprechen sich entschieden dagegen aus, für die kirchliche Durchsetzung moralischer Desiderate politische Instanzen in Anspruch zu nehmen, und sie warnen vor einer nicht evangeliumsgerechten Politisierung der Kirche.Abtreibungsgesetze in Polen
Erbitterter Kulturkampf
Theo Mechtenberg
Nachdem im Oktober 2020 das polnische Verfassungsgericht die Abtreibungsgesetzgebung für verfassungswidrig erklärte, wird in Polen wieder heftig um diese Frage gestritten. Theo Mechtenberg ist Theologe und Germanist, deutsch-polnischer Übersetzer und Publizist. Er zeigt die Hintergründe und die Konfliktlinien dieser Diskussion auf.
Am 22. Oktober erklärte das von PiS-treuen Richtern besetzte Verfassungsgericht die seit 1993 geltende Abreibungsgesetzgebung für verfassungswidrig. Unter Berufung auf den Lebensschutz (Art. 38) und die Wahrung der menschlichen Würde (Art. 30) soll künftig eine Schwangerschaftsunterbrechung aus Gründen ernster Schädigung der Leibesfrucht nicht mehr erlaubt sein. Damit ist der Weg frei für die Verabschiedung eines Gesetzes, das einem totalen Verbot der Abtreibung gleich kommt.
Die Entscheidung des Verfassungsgerichts war erwartet worden. Bereits im Dezember 2019 hatte eine Gruppe von 119 Abgeordneten aus den Reihen der nationalkonservativen Kaczyński-Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS), der nationalistischen „Konföderation“ sowie der Bauernpartei PSL beim Verfassungsgericht eine Prüfung beantragt, ob die seit 1993 geltende Abtreibungsgesetzgebung verfassungsmäßig und die Abtreibung einer geschädigten Leibesfrucht daher erlaubt ist. Mit dieser Eingabe verband sich die Erwartung, dass die Entscheidung des Verfassungsgerichts in diesen Fällen einen Schwangerschaftsabbruch für unzulässig erklären werde, was denn auch geschehen ist.
Es verwundert sehr, dass das Verfassungsgericht zehn Monate für seine Entscheidung benötigte. Sie lag, wie man vermuten kann, längst auf Eis. Es ging um den rechten Zeitpunkt der Bekanntgabe. Und den bestimmte kein anderer als Kaczyński persönlich. Ihm war klar, dass mit massiven Protesten zu rechnen war. Schließlich hatte er bereits diese Erfahrung machen müssen, als er nach dem Wahlsieg seiner Partei im Herbst 2015 die Abtreibungsgesetzgebung erneut auf die Tagesordnung setzen ließ. Assistiert wurde er von der Bischofskonferenz. Am 3. April 2016 kam in den Kirchen eine Erklärung ihres Präsidiums zur Verlesung, in der die polnischen Bischöfe das geltende Recht infrage stellten und eine Verschärfung der Abtreibungsgesetzgebung einforderten. Sie unterstützten eine entsprechende von „Pro Life“ initiierte Bürgerinitiative. Es kam zu Massenprotesten, wodurch sich die PiS-Regierung veranlasst sah, nachzugeben und von dem Gesetzesprojekt vorerst Abstand zu nehmen.
Doch die Bemühungen um ein verschärftes Abtreibungsrecht waren damit nicht zu Ende. Das Jahr 2018 brachte einen weiteren Anlauf. Diesmal sammelte die Stiftung „Leben und Familie“ unter dem Motto „Stoppt die Abtreibungen“ weit über 100.000 Unterschriften und reichte beim Sejm ihr Gesetzesvorhaben ein, das entgegen dem geltenden Recht selbst bei ernster Schädigung der Leibesfrucht eine Schwangerschaftsunterbrechung untersagt. Und wieder gingen die Frauen, und nicht nur sie, in Massen auf die Straße. Der 23. März wurde durch die Organisatorinnen des „Allpolnischen Streiks der Frauen“ zum „Schwarzen Freitag“ erklärt, an dem es vornehmlich in den Großstädten zu Massenprotesten kam. Allein in Warschau waren es 55.000, die vor dem Parlament und dem Sitz von PiS demonstrierten und sowohl der Kirche als auch den Politikern das Recht absprachen, in dieser Frage über sie zu entscheiden. Die Gesetzesvorlage wurde zwar im Sejm behandelt, doch verabschiedet wurde sie nicht.
Angesichts dieser Erfahrung ist das Hinauszögern der Entscheidung des Verfassungsgerichts verständlich. Kaczyński wollte die politischen Kosten für ein verschärftes Abtreibungsgesetz möglichst gering halten. Aus Umfragen wusste er, dass es dafür in der Bevölkerung keine Mehrheit gab und im Falle der Verabschiedung eines verschärften Abtreibungsverbots die Zustimmungswerte für seine Partei und Regierung starke Einbußen erleiden würden. Daher musste der Termin zum einen nach der Präsidentschaftswahl liegen, zum anderen aber möglichst weit entfernt von den nächsten Parlamentswahlen. Zu berücksichtigen war zudem die Corona-Pandemie. Sie bot die Gelegenheit, die Versammlungsfreiheit einzuschränken, um so die Proteste zu verhindern. Würde dennoch massenhaft protestiert, dann konnte man die demonstrierenden Frauen für das Anwachsen der Neuinfektionen und deren Folgen verantwortlich machen und vor Gericht bringen. Unter diesem Aspekt war aus der Sicht von Kaczyński der 22. Oktober, der Tag, an dem die Neuinfektionen erstmals einen Höchststand erreichten, gut gewählt.
Die Wucht der Proteste
Doch Kaczyńskis Kalkulation ging nicht auf: Nach Bekanntgabe der Entscheidung des Verfassungsgerichts kam es aufgrund des Aufrufs des „Allpolnischen Streiks der Frauen“ im ganzen Land zu Massenprotesten, die in wenigen Tagen ein bislang in der nachkommunistischen Ära Polens unbekanntes Ausmaß annahmen: Die Villa von Parteichef Kaczyński wurde umlagert und musste von Polizeikräften geschützt werden. Verkehrsknotenpunkte wurden besetzt; an einem Tag blieben die Frauen landesweit der Arbeit fern; Studentinnen und Studenten der Universitäten schlossen sich den Protesten an; am 30. Oktober demonstrierten 100.000 in der Hauptstadt Warschau. Es gab äußerst kreative Aktionen. So wurden an Allerheiligen, als wegen der Corona-Pandemie auf Beschluss der Regierung die Friedhöfe geschlossen blieben, vor den Büros von PiS symbolische, mit vielen Blumen versehene Gräber errichtet. Auf den Tafeln wünschte man „Ruhet in Frieden“. Aus dem Protest der Frauen wurde in kurzer Zeit eine breite Auflehnung gegen das herrschende System. Ein Kulturkampf war im vollen Gange.
Am 27. Oktober kam es im Sejm zu tumultartigen Szenen. Abgeordnete der Opposition trugen Masken mit dem Logo des „Allpolnischen Streiks der Frauen“. Der Parlamentsvorsitzende monierte dies und verglich das Logo mit Abzeichen der Hitlerjugend und der SS. Und er warf der Opposition vor, sich an totalitären Vorbildern zu orientieren.
Als eine Vertreterin der Linken Projekte einer Liberalisierung der Abtreibungsgesetzgebung zur Sprache bringen wollte, wurde ihr das Mikrophon abgeschaltet. Daraufhin kam es zum Tumult. Die Bank von Kaczyński wurde umlagert, und er wurde aufgefordert, zur Entscheidung des Verfassungsgerichts persönlich Stellung zu nehmen. Doch er reagierte lediglich mit Beschimpfungen der Oppositionsabgeordneten. Sie seien allesamt „russische Agenten“ und „Verbrecher“. Ohne vom Parlamentsvorsitzenden einen Verweis erhalten zu haben, verließ er die Sitzung. Das staatliche Fernsehen meldete abends: „Linker Faschismus zerstört Polen.“
Auch die Kirche blieb von den Protesten nicht verschont. Am 25. Oktober, einem Sonntag, demonstrierten die Frauen vor und, wenn möglich, auch in den Kirchen unter dem Motto „Ein Wort zum Sonntag“. Der Grund. Die katholische Kirche, die seit langem ein solches Verbot fordert, begrüßte durch den Vorsitzenden der Bischofskonferenz, den Posener Erzbischof Stanisław Gądecki, die Entscheidung: „Mit großer Hochachtung nehme ich heute Kenntnis von der Entscheidung des Verfassungsgerichts, das eine eugenetische Abtreibung als mit der Verfassung der Republik für unvereinbar erklärte.“
Als Antwort auf diese ausdrückliche Begrüßung der Entscheidung des Verfassungsgerichts wählte der „Allpolnische Streik der Frauen“ die Posener Kathedrale für eine besondere Aktion: Ein gutes Dutzend protestierender Frauen hatte sich unter die Gottesdienstbesucher gemischt. Nachdem der Priester zur Predigt die Kanzel bestiegen hatte und im Altarraum die liturgische Handlung unterbrochen war, besetzte die Gruppe mit ihren Plakaten den Chorraum. Ein präzedenzloser Vorgang! Die Aufforderung des Priesters, die Kirche zu verlassen, negierten die Frauen. Die Polizei wurde herbeigerufen, und die räumte den Altarraum von den teils passiven Widerstand leistenden Frauen und notierte ihre Personalien.
Parteichef Kaczyńskis „Verteidigung der Kirchen“
Jarosław Kaczyński reagierte auf seine Weise auf die Proteste. Am 26. Oktober drohte er über Facebook: Wer während der Corona-Pandemie, in der Versammlungen mit mehr als fünf Personen verboten sind, an den Demonstrationen teilnimmt, der beschwört eine allgemeine Gefahr herauf; die Frauen würden am Tod anderer schuldig „Sie verüben ein Verbrechen, ein sehr ernstes Verbrechen. Die Regierung hat nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, sich dem entgegenzustellen.“
In dem gegen die Kirche gerichteten Aktionstag sieht Kaczyński eine grundsätzlich kirchenfeindliche Attacke. Die Verwerfung des durch die Kirche repräsentierten „moralischen Depositum“ sei „Nihilismus“. „Diese Attacke kann Polen zerstören. Sie kann zu einem Triumpf der Kräfte führen, deren Macht im Grunde die Geschichte der polnischen Nation beendet, so wie wir sie bislang kannten. (…) Ich rufe alle Mitglieder von PiS und jene, die uns unterstützen, dazu auf, sich an der Verteidigung der Kirchen zu beteiligen.“ Und Kaczyński sprach von einem, durch die Gegner herbeigeführten „Krieg“. Ihn zu gewinnen, diene sein Aufruf: „Verteidigen wir Polen, verteidigen wir den Patriotismus, und handeln wir hier entschieden und mutig.“
Kaczyńskis Appell fiel bei den radikal nationalistischen Kräften auf fruchtbaren Boden. Ihre zur Gewalt neigende Jugendorganisation erklärte sich bereit, den Schutz der Kirchen zu übernehmen. Und Justizminister und Generalstaatsanwalt Ziobro erließ Bestimmungen, die dazu dienen, die Organisatorinnen des „Allpolnischen Streiks der Frauen“ wegen des Verstoßes gegen das aus Gründen der Corona-Pandemie erlassene Versammlungsverbot verhaften und anklagen zu lassen. Doch die sich einer breiten Unterstützung erfreuenden Frauen protestieren weiter und fordern für sich das Recht, frei entscheiden zu können, ob sie eine unheilbar geschädigte Leibesfrucht austragen oder nicht. Sie nehmen die Herausforderung an und sehen sich, wie sie auf Plakaten verkünden, nun selbst in einem von Kaczyński und seinem System angezettelten Krieg.
Eine fragwürdige Entscheidung
Kaczyński hatte zudem bekräftigt, dass an der Entscheidung des Verfassungsgerichts nicht zu rütteln sei. „Die Entscheidung steht ganz und gar in Übereinstimmung mit der Verfassung; mehr noch, in ihrem Licht war ein anderes Urteil nicht möglich.“ Doch dies, so polnische Juristen, stimme nicht. Der Verfassungsartikel 38, mit dem die Entscheidung begründet werde („Die Republik Polen sichert jedem Menschen rechtlichen Lebensschutz zu“), garantiere nicht das Recht auf Leben, geschweige denn vom Moment der Empfängnis an. Rechtsschutz auf Leben sei etwas gänzlich anderes als Recht auf Leben. Der Unterschied sei juristisch relevant. Das Prinzip des Rechtsschutzes wende die Verfassung auch sonst an, so beispielsweise auf das Privat- und Familienleben (Art. 47). Doch ein solcher Rechtsschutz sei nicht absolut, denn es gäbe in diesen Fällen immer eine Konkurrenz unterschiedlicher Rechtsansprüche (z.B. Mieter/Vermieter), so dass der Geltungsbereich eines Rechtsschutzes gesetzlich festzulegen sei (Art. 75.2).
Auch unter diesem Aspekt gibt es gegen die Entscheidung des Verfassungsgerichts schwerwiegende Bedenken. Denn das Verbot, eine ernsthaft geschädigte Leibesfrucht abzutreiben, würde bedeuten, dass jährlich über tausend von dem Verbot betroffene Frauen zu einem Heroismus gesetzlich gezwungen würden. Denn ein schwer behindertes Kind zu gebären und es zeitlebens zu umsorgen, ist heroisch. Und es gibt Frauen, die dies freiwillig auf sich nehmen. Doch nicht jede Frau, nicht jede Familie ist zu einem solchen Heroismus fähig. Unter Berücksichtigung einer solchen unzulässigen menschlichen Überforderung wäre der Geltungsbereich des Rechtschutzes missgebildeter Kinder im Mutterschoß ohnehin entsprechend einzuschränken.
Im Übrigen hätten die Autoren der Verfassung 1993 ein Recht auf Leben festschreiben können, taten dies aber nicht. Dabei habe ein entsprechender Vorschlag vorgelegen (Recht auf Leben vom Augenblick der Empfängnis an). Doch der sei nicht mehrheitsfähig gewesen und daher zurückgewiesen worden. Entschieden habe man sich für die Kompromissformel des Lebensschutzes. Die Verfassung biete somit für die Entscheidung vom 22. Oktober keine Rechtsgrundlage. PiS könne ja mit ihrer parlamentarischen Mehrheit ein absolutes Abtreibungsverbot beschließen, das die Verfassung zwar nicht verlange, aber ermögliche. Doch angesichts der zu erwartenden Proteste habe man sich offenbar die Rückendeckung der Verfassung sichern wollen, um so eine Situation zu schaffen, in der ein absolutes Abtreibungsverbot zwangsläufig vom Sejm zu verabschieden sei; faktisch habe man aber eine schier ausweglose Lage herbeigeführt.
Die Aufkündigung eines Kompromisses
Um die Dramatik der gegenwärtigen Situation zu verstehen, muss man wissen, dass ihr Grund die Aufkündigung eines mühsam zustande gekommenen Kompromisses ist. Zur Erinnerung: Polens demokratische Regierung übernahm nach 1989 zunächst das Gesetz vom 27. April 1956, das vor allem dem Gesundheitsschutz der Schwangeren diente und den Schutz des ungeborenen Lebens fast gänzlich außer Acht ließ. Für Polens Kirche war klar, dass dieses aus der kommunistischen Zeit stammende und Abtreibungen praktisch uneingeschränkt freigebende Gesetz durch ein neues ersetzt werden musste. Bereits gegen Ende der kommunistischen Herrschaft hatten mit dieser Absicht 76 katholische Abgeordnete aller im Sejm vertretenen Parteien am 10. Mai 1989 eine Gesetzesvorlage „über den Rechtsschutz des ungeborenen Kindes“ eingebracht. Sie geht davon aus, „dass das menschliche Leben als höchstes Gut vom Augenblick der Empfängnis an zu schützen und zu achten ist.“ Rechtswidrige Abtreibungen sollten mit bis zu drei Jahren Freiheitsentzug bestraft werden.
Diese Gesetzesinitiative fand seitens der polnischen Bischöfe volle Unterstützung. Mehr noch: Im Bewusstsein, im Kampf gegen den Kommunismus als Sieger hervorgegangen zu sein, war Polens Kirche bemüht, nach 1989 eine reichliche Ernte einzufahren So sollten christliche Werte gesetzlich verankert werden. Der kirchliche Druck auf die politischen Instanzen war anfangs der 1990er-Jahre so stark, dass in der öffentlichen Debatte der Kirche vorgeworfen wurde, eine Theokratie anzustreben. In diesem Kontext sind die damaligen kirchlichen Bemühungen zu sehen, ein absolutes Abtreibungsverbot politisch durchzusetzen. Doch gegen dieses Gesetzesvorhaben kam es landesweit zu Massenprotesten, die seine Verabschiedung verhinderten. Die Auseinandersetzungen bestimmten drei Jahre lang die öffentliche Diskussion. Und Polens Kirche musste in dieser Zeit schmerzlich erfahren, dass Polen zwar eine katholische Nation, nicht aber eine katholische Gesellschaft ist.
Anfang 1993 einigte man sich schließlich auf einen Kompromiss. Das am 7. Januar verabschiedete Gesetz „über Familienplanung, Schutz des menschlichen Fötus und Bedingungen für erlaubte Abtreibungen“ sieht drei Fälle legaler Schwangerschaftsabrüche vor: bei Gefährdung der Gesundheit der Schwangeren, bei schweren Missbildungen der Leibesfrucht sowie bei Vergewaltigungen. Dieses Gesetz ist bis heute in Kraft, wenngleich es in der Vergangenheit nicht an Versuchen gefehlt hat, es einerseits zu liberalisieren, andererseits zu verschärfen. Und immer wieder gab es Stimmen, die vor den verheerenden Folgen warnten, sollte der Kompromiss, egal von welcher Seite, aufgekündigt werden.
Nun ist er aufgekündigt worden, und zwar unter dem von einem die Gunst der Kirche suchenden nationalkonservativen System. Ein erbittert geführter Kulturkampf ist entbrannt, der einen neuen Kompromiss unmöglich macht. So wurde der Vorschlag von Präsident Andrzej Duda, das Verbot der Abtreibung einer ernstlich geschädigten Leibesfrucht auf Föten mit dem Down-Syndrom zu beschränken, von beiden Seiten zurückgewiesen. Der „Allpolnische Streik der Frauen“ fordert eine generelle Liberalisierung der Abtreibungsgesetzgebung und zeigt sich unter den gegenwärtigen politischen Verhältnissen nicht verhandlungsbereit. Eine Lösung des Konflikts dürfte schwierig sein.
Die Sichtweise der Kirche
In einem Kommuniqué vom 19. März 2018 betonte Erzbischof Stanisław Gądecki, der Vorsitzende der Bischofskonferenz, „das Recht eines jeden Kindes auf Geburt und Leben, unabhängig von genetischen Schäden. Die Rolle des Staates ist es, jedem Bürger Schutz zu garantieren, auch in seiner vorgeburtlichen Lebensphase.“ Gądecki äußerte zudem die Auffassung, der Schutz Ungeborener sei „keine Frage der Religion oder Weltanschauung, sondern vor allem eine der Wissenschaft, die eindeutig zeigt, dass das Leben des Menschen mit dem Moment der Empfängnis beginnt.“ Dabei beruft er sich auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, wonach das Leben das fundamentale Recht des Menschen sei, auf dem alle anderen Rechte beruhen würden. Allerdings ist es fraglich, ob sich die Aussage im Sinne der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte auf die pränatale Existenz beziehen lässt. Der entsprechende Artikel lautet: „Alle Menschen werden bezüglich ihrer Würde und ihrer Rechte frei und gleich geboren.“ Damit ist – wohl bewusst – über die pränatale Lebensphase nichts gesagt. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte lässt sich daher nur so interpretieren, dass ein Schwangerschaftsabbruch zwar kein einklagbares Menschenrecht ist, aber das Verwehren einer Garantie, in bestimmten Situationen diese Möglichkeit zu haben, eine Verletzung der Menschenrechte wäre. So jedenfalls urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, wonach die Nichtgewährung einer realen Möglichkeit auf Schwangerschaftsunterbrechung im Falle der Bedrohung der Gesundheit der Schwangeren oder einer ernsten Schädigung der Leibesfrucht eine Missachtung des persönlichen und familiären Lebens ist.
Ein paar Tage nach dem Kommuniqué von Erzbischof Gądecki gab der Sprecher der Bischofkonferenz eine Stellungnahme ab, die sich mit der ihres Vorsitzenden deckt, den Standpunkt der Kirche aber noch um einiges deutlicher zum Ausdruck bringt. Er beschreibt zwar das Leiden und die dramatische Situation der Frau und ihrer Familie, wenn sich herausstellt, dass die Leibesfrucht genetische Schäden aufweist, aber trotzdem komme es den Frauen nicht zu, den Embryo seines Lebensrechts zu berauben. Auch verfange das Argument nicht, die Frau sei frei, über ihre Gesundheit und Selbstverwirklichung zu entscheiden, und damit stünde ihr auch das Recht auf Abtreibung zu. Das Recht auf Entscheidungsfreiheit sei zwar zu schätzen, nicht aber auf Kosten eines anderen Lebens. Im Übrigen gäbe es die Möglichkeit, das Kind nach der Geburt zur Adoption freizugeben.
All das sind sachliche Argumente, welche die Auffassung der Kirche zum Lebensschutz Ungeborener widerspiegelt. Die Frage ist allerdings, ob damit bereits ihre gesetzlich verbindliche Umsetzung in einer pluralistisch-demokratischen Gesellschaft gefordert werden kann. Polens Bischöfe beantworten sie offenbar mit einem klaren Ja. Nicht so Teile des Klerus, wie der Brief von 27 namhaften Ordens- und Weltpriestern zeigt, die sich in der gegenwärtigen Situation zu Wort meldeten. In kürzester Zeit wurde er von zahlreichen Priestern, Mönchen und Ordensschwestern mit unterzeichnet. Die Initiatoren sprechen sich entschieden dagegen aus, für die kirchliche Durchsetzung moralischer Desiderate politische Instanzen in Anspruch zu nehmen, und sie warnen vor einer nicht evangeliumsgerechten Politisierung der Kirche.
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