100 Jahre polnische Unabhängigkeit
„Der heutige Tag zählt zu den historischen, unvergesslichen, fröhlichen, triumphalen!“ So erlebte Maria Lubomirska, eine Warschauer Aristokratin, den 11. November 1918. Ausgelassene Freude herrschte in den Straßen. Deutsche Soldaten wurden an diesem Tag des Waffenstillstandes entwaffnet und verließen die Stadt. Zeitgleich traf Józef Piłsudski, der legendäre Anführer der polnischen Legion, von der Menge enthusiastisch begrüßt, in der Hauptstadt ein. In der Hoffnung, er werde mit seiner Autorität für einen geordneten Abzug der deutschen Truppen sorgen, hatte ihn der kaiserliche Geheimdienst aus der Magdeburger Festung direkt in den Zug nach Warschau gesetzt. Es war dies noch nicht der Tag der Wiedergeburt des polnischen Staates nach einer über hundert Jahre währenden Zeit der Aufteilung des Landes und der Unterdrückung. Aber die Warschauer empfanden ihn als beglückenden Vorgeschmack bevorstehender Unabhängigkeit. Der 11. November verdient somit seinen Platz im nationalen Kalender.
Unabhängigkeit im nationalen Selbstverständnis
Es gibt Völker, die seit ihrer Staatsgründung eine kontinuierliche, durch keine Katastrophe unterbrochene Geschichte besitzen. Andere haben sich ihre Unabhängigkeit erkämpft. Und es gibt Polen, dessen Geschichte über ein Jahrtausend zurückreicht, das im Mittelalter unter der Dynastie der Jagiellonen ein Großreich bildete, dann aber als Adelsrepublik Ende des 18. Jahrhunderts aufgrund von drei Teilungen seine Eigenstaatlichkeit verlor und über ein Jahrhundert deutscher, österreichischer und russischer Herrschaft unterworfen war. Dieses Verlusttrauma ist eines der Kennzeichen des polnischen Unabhängigkeitsverständnisses.
Ein weiteres Spezifikum polnischer Unabhängigkeit ist der unerschütterliche Glaube an ihre Rückgewinnung, wie er in der polnischen Nationalhymne seinen Ausdruck findet: „Noch ist Polen nicht verloren, solange wir leben.“ In der Zeit der Teilungen als Lied der Legionäre im Dienste Napoleons entstanden, bringt sie den Glauben an Polens Wiedergeburt zum Ausdruck. Diesem Glauben ist es zu verdanken, dass Polen als Nation in der langen Phase der Unfreiheit nicht unterging, sondern 1918 in der Lage war, als Nation die mit dem Ende des Ersten Weltkriegs gegebene Gunst der Stunde zu nutzen.
Der Kampf um Unabhängigkeit und Eigenstaatlichkeit wurde nicht nur mit der Waffe geführt, nicht allein durch die gescheiterten Aufstände gegen die zaristische und preußische Übermacht, sondern auch mit der Feder des Schriftstellers. Die Zeit des politischen Niedergangs war zugleich die Zeit der Hochblüte polnischer Nationalkultur. Sie brachte mit Cyprian Norwid (1809-1849), Juliusz Słowacki (1909-1849) und Adam Mickiewicz (1798-1855) drei Dichter von Weltrang hervor, die in ihren Werken der nationalen Trauer Ausdruck verliehen, zugleich aber in der Verbindung von Glaube und Freiheit die Hoffnung weckten auf ein Ende der Drangsal und auf die staatliche Neugeburt. Im Rückgriff auf den christlichen Glauben, in Analogie zu Tod und Auferstehung Christi, verliehen sie dem Kampf gegen die Unterdrücker und dem Leiden der Nation Sinn. Mehr noch: Die Überhöhung der Leiden der Nation gipfelte in einen Messianismus, der das unterdrückte und um seine Freiheit kämpfende Polen zum „Christus der Nationen“ erhob.
Hinzu kommt, dass der Bezug zur Ikone der Schwarzen Madonna dem traditionellen Verständnis der polnischen Unabhängigkeit religiös-nationalen Charakter verlieh. Der erwies sich über die Jahrhunderte als äußerst wirksam. So gilt die von Piłsudski am 15. August 1920, am Fest der Aufnahme Mariens in den Himmel, gegen die bolschewistischen Truppen gewonnene Schlacht als „Wunder an der Weichsel“, und auch die Arbeiter, die 1980 mit ihrem Streik die Danziger Werft besetzten, sahen sich in dieser Tradition, als sie das Bild der Madonna an das geschlossenen Werktor hängten und sich damit unter ihren Schutz begaben.
Kampf und die Gunst der Stunde
Frühere Bemühungen um die Unabhängigkeit waren allesamt an der Ungunst äußerer Bedingungen gescheitert. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs bot sich eine erneute Chance. Um das militärische Potential der Polen für ihre Zwecke auszuschöpfen, stellte jede der drei Teilungsmächte eine polnische Staatsgründung in Aussicht, allerdings unter ihrer jeweiligen Schirmherrschaft. Der Preis für diese Vision einer ohnehin beschränkten Unabhängigkeit war immens: Ostpolen wurde zum Kriegsschauplatz. Polnische Soldaten kämpften in den Armeen der Teilungsmächte mit- und gegeneinander. Der britische Historiker Norman Davies hält die polnischen Personen- und Sachschäden im Osten des Landes für fast ebenso hoch wie die des Zweiten Weltkriegs. 450 000 Gefallene seien zu beklagen, wobei die Verluste der Zivilbevölkerung noch weit höher lägen. Und die Politik „verbrannter Erde“ habe eine Million Menschen um Haus und Hof gebracht. Aufgrund dieses Aderlasses verzeichnete die Statistik Anfang der 20er Jahre gegenüber 1914 einen Rückgang der Bevölkerung um 14,9%.
Am Ende bestimmten die westlichen Siegermächte das Schicksal Polens. In seiner Rede vor beiden Kammern des Kongresses hatte Präsident Wilson am 8. Januar 1918 als 13. seines 14 Punkte umfassenden Friedensplans einen unabhängigen polnischen Staat gefordert, der „Gebiete von unbestritten polnischer Bevölkerung“ umfassen sollte mit einem „freien und sicheren Zugang zur See“. Umgesetzt wurde seine Forderung im Rahmen der Pariser Friedensverhandlungen (1919-1920). Bei ihnen ging es u. a. um die Festlegung der polnischen Ostgrenze, die jedoch von der polnischen Regierung in der vorgesehenen Form nicht anerkannt und aufgrund des polnisch-sowjetischen Krieges (1919-1921) zu Lasten der Ukraine weit nach Osten verschoben wurde. Und im Süden erkämpfte Wojciech Korfanty durch die von ihm angeführten Schlesischen Aufstände (1919-1921) entgegen deutscher Ansprüche Grenzkorrekturen.
Welches Polen soll es sein?
Nach über einem Jahrhundert ohne Eigenstaatlichkeit war Polens geschichtliche Kontinuität unterbrochen und ein Anknüpfen an die untergegangene Adelsrepublik weder möglich noch wünschenswert. Es bedurfte neuer Konzeptionen und Gestaltungsfaktoren, bei denen neben den Erfahrungen der Vergangenheit auch westliche Ideen gefragt waren. Diese sehr unterschiedlichen, ja zum Teil gegensätzlichen Vorstellungen eines neuen Polens sind vor allem mit drei Persönlichkeiten verbunden, mit Roman Dmowski (1864-1939), Józef Piłsudski (1867-1935) und Ignacy Daszyński (1866-1936).
Roman Dmowski gilt vor allem als Ideengeber der von ihm 1897 mitgegründeten Nationaldemokratie, der sogenannten Endecja. Schon die Wahl des Namens erweist die Demokratie als etwas der Nation Nachgeordnetes. Beeinflusst vom nationalen, opfervollen Kampf der Vergangenheit sah Dmowski in der Nation einen Höchstwert, etwas Gottgegebenes. Sie stehe über dem Individuum, das seine Existenz und Identität der Nation verdanke. Und die müsse ihre Reinheit bewahren, denn jede Vermischung bedeute ihren Niedergang.
Die Kehrseite dieser von breiten Teilen der Kirche unterstützten nationalen Doktrin war eine negative Einstellung zu der in der II. Republik starken deutschen, ukrainischen und jüdischen Minderheit. Sie prägte das nationale Bewusstsein, das in einer ausgesprochenen Deutschfeindlichkeit, einer polnisch-ukrainischen Feindschaft und einem verbreiteten Antisemitismus seinen Ausdruck fand. Und das nicht nur in der Zwischenkriegszeit. Dmowskis Ideen waren gleichfalls im kommunistischen Polen virulent, bestimmten die Konflikte zwischen den liberalen und nationalistischen Kräften innerhalb der „Solidarność“ und prägen heute die Politik der nationalkonservativen Regierung.
Im Verständnis der Nation unterschied sich der Sozialist, Heerführer und spätere Staatschef Józef Piłsudski fundamental von der Auffassung Dmowskis. Persönlich litauischer Herkunft, orientierte er sich an der multiethnischen und multikulturellen Jagiellonenzeit. Ebenso wenig war für ihn, der vor seiner Hochzeit zum Protestantismus konvertierte, die Religionszugehörigkeit von nationaler Bedeutung, geschweige denn eine Symbiose mit dem Katholizismus. Ihm ging es, entsprechend einer modernen Staatsauffassung, allein um die Loyalität des Bürgers, gleich welcher Herkunft und Religion, zu Nation und Staat.
In dem Bestreben, Polens Unabhängigkeit zurückzugewinnen, setzte Piłsudski weniger auf Diplomatie, sondern mehr auf die eigene, zumal militärische Stärke. Es gälte, nicht abzuwarten bis die Siegermächte Polen die Unabhängigkeit auf dem silbernen Tablett servieren würden, sie müsse vielmehr erkämpft werden. Dazu hatte er die Polnische Legion gebildet und als Kommandeur der I. Brigade auf Seiten der Mittelmächte an der Ostfront beachtliche Erfolge erzielt. Und dies in der allerdings trügerischen Hoffnung, die erkämpften Gebiete einem künftigen polnischen Staat einzuverleiben. Als sich 1917 die Niederlage der Mittelmächte abzeichnete, vollzog er eine Kehrtwende, verweigerte den Eid auf den deutschen Kaiser und wurde dafür in der Festung Magdeburg inhaftiert. Vor allem auf ihm ruhten die Hoffnungen auf eine Wiedergeburt Polens.
Als dritte Kraft, welche die politische Gestalt des neuen Polen prägte, ist die eng mit Ignacy Daszyński verbundene Sozialistische Partei zu nennen, die gleichfalls im ausgehenden 19. Jahrhundert in der Emigration gegründet wurde.
Daszyński kommt das Verdienst zu, in der Nacht vom 7. zum 8. November 1918, also noch vor dem Ende des Ersten Weltkriegs, in Lublin die erste unabhängige Regierung gebildet zu haben. Ihr Regierungsprogramm orientierte sich am Erfurter Programm der SPD (1891), das neben einem Wahlgesetz auf der Grundlage der Gleichberechtigung aller Bürger, ohne Unterschied des Geschlechts, der Herkunft, des Glaubens und der Nationalität, eine umfassende soziale Gesetzgebung vorsah, deren wichtigste Punkte ein auf acht Stunden begrenzter Arbeitstag sowie eine Kranken-, Arbeitslosen- und Rentenversicherung waren.
Die von Daszyński gebildete Regierung trat mit Übernahme der Warschauer Regentschaft durch Józef Piłsudski am 14. November 1918 zurück. Doch die Versuche, eine neue, sozialistisch geprägte Regierung zu bilden, scheiterten am Widerstand der Nationaldemokratie. Im Januar 1919 übernahm schließlich zur Beruhigung der Lage der weltberühmte und über alle Parteigrenzen hinweg hoch angesehene parteilose Pianist Ignacy Paderewski die Regierungsgeschäfte.
Ungebrochener Freiheitswille
Die 1918 wiedererlangte Unabhängigkeit währte nur 20 Jahre. Ein zu kurzer Zeitraum, um die mit dem Jahrhundert der Teilungen verbundenen Probleme lösen und die wirtschaftliche und zivilisatorische Rückständigkeit gegenüber dem Westen aufholen zu können. Und 1939 wiederholte sich dann das Verlusttrauma, als sich Hitler und Stalin auf eine erneute Teilung Polens verständigten. Nach fünf Jahren Krieg und Besatzung, der Verwüstung des Landes und Millionen an Toten kehrte Polen als Staat auf die europäische Landkarte zurück, doch ohne wirklich unabhängig zu sein. Die kommunistische Volksrepublik entsprach in keiner Weise dem nationalen Selbstverständnis, wurden doch die Geschicke des Landes letztlich in Moskau entschieden.
Der Freiheitswille war auch unter kommunistischer Herrschaft ungebrochen. Bis in das Jahr 1956 währte der verzweifelte Widerstand der „verfemten Soldaten“, die unter der nationalkonservativen PiS-Regierung eine besondere Würdigung erfahren. Allein schon der häufige Führungswechsel an der Spitze der Partei und die Zahl von sieben Ministerpräsidenten in den vier Jahrzehnten der Volksrepublik verweisen auf einen fast permanenten Krisenzustand. Immer wieder wurde das Regime durch Proteste, Streiks und Aufstände erschüttert. Versorgungsschwierigkeiten und Lohnforderungen waren der Auslöser. Das Regime reagierte mit brutaler Härte. Der Posener Aufstand im Juni 1956 und der an der Ostseeküste im Dezember 1970 forderten viele Opfer. Im August 1980 führte dann der Streik der Werftarbeiter zur Gründung der unabhängigen Gewerkschaft Solidarność. Ihr Kampf um ein souveränes Polen fand mit der Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981 ein Ende. Doch die Solidarność wirkte im Untergrund weiter und zwang die kommunistische Regierung 1989 zu Verhandlungen am Runden Tisch, die das Ende kommunistischer Herrschaft herbeiführten und den Grundstein für die volle Unabhängigkeit Polens legten. Dabei spielte auch diesmal die Gunst der Stunde eine Rolle - die Schwäche der Partei und Gorbatschows Reformpolitik, die eine Intervention nach der Breschnew-Doktrin ausschloss.
Zwei Ereignisse aus den vier Jahrzehnten der Volksrepublik verdienen eine besondere Erwähnung - der Protest der Studenten im März 1968 als Reaktion auf die Absetzung eines Theaterstücks sowie die gesellschaftspolitische Auswirkung der Papstwahl vom Herbst 1978.
Die Aufführung des 1829 von Adam Mickiewicz verfassten Dramas mit dem Titel „Dziady“ (Totenfeier) war ursprünglich in Absprache mit dem Kreml als polnischer Beitrag zum 50-jährigen Gedenken an die Oktoberrevolution gedacht. Schließlich spielt die Handlung in der Zeit des Zarentums und ist eine einzige Anklage des zaristischen Despotismus, gegen den sich damals nicht nur die Polen, sondern auch die jungen russischen Dekabristen auflehnten.
Nach eigenen Worten widmete Mickiewicz sein Werk allerdings ausschließlich der Geschichte des leidenden Polens, die viele Generationen und eine Unmenge an Opfern umfasst. Die Hauptfigur ist ein Dichter, der Gott um die poetische Macht über die Seelen bittet, der das Martyrium der Nation beschwört und mit Gott um ihre Freiheit ringt. Der Kreislauf immerwährender Leiden wird durch die Hoffnung auf eine Wiedergeburt Polens durchbrochen; der opfervolle Kampf soll nicht vergeblich sein.
Als Hauptdarsteller sprach der geniale Gustaw Hołoubek die „Große Improvisation“ auf eine Weise, dass das Wort förmlich Fleisch wurde, in ihm selbst und in den Theaterbesuchern. Der Funke sprang über, das poetische Wort ergriff die Seelen. Der Andrang der Warschauer zu den Aufführungen war enorm. Die Besucher stürmten förmlich den Theatersaal. „Dziady“ wurde für sie zu einem nationalen Erlebnis eigenen Leidens unter dem kommunistischen System sowie zu einem Zeichen der Hoffnung auf den kommenden Tag der Freiheit.
Die politische Führung sah sich schließlich genötigt, das Stück angesichts dieser Wirkung nach der 11. Aufführung abzusetzen. Aus Protest gingen die Studenten auf die Straße. Als ihre Anführer verhaftet, ihre Kommilitonen exmatrikuliert wurden, besetzten die Studenten landesweit die Universitäten und forderten ihre Freilassung. Das Regime entfesselte in Hinblick auf die zumeist jüdische Herkunft der jungen polnischen Studentenführet eine „antizionistischen“ Kampagne, die Tausende Überlebende des Holocaust aus dem Land trieb.
Daran in diesem Jubiläumsjahr der Unabhängigkeit zu erinnern, wussten sich vor allem liberale und oppositionelle Kräfte verpflichtet, während diese 50 Jahre zurückliegenden Geschehnisse der nationalkonservativen Regierung kaum eine Erwähnung wert waren.
Das zweite, das kommunistische System erschütternde und die Hoffnung auf Freiheit und Unabhängigkeit nährende Ereignis fällt auf den 16. Oktober 1978. An diesem Tag wurde der Krakauer Kardinal Karol Wojtyła zum Papst gewählt Damit ging für die Polen eine Prophetie in Erfüllung. Allenthalben zitierte man aus einem 1848 von Juliusz Słowacki verfassten Gedicht: „Schwer zu heben die Welt / welch gewaltige Kraft / ein slawischer Papst ist erwählt / mit dem Volke in Bruderschaft“. Die Polen erlebten „ihren“ Papst an den Bildschirmen, vernahmen seinen Aufruf „Habt keine Angst“, waren tief bewegt, als während der Inthronisationsfeier die Kardinäle der Welt „ihrem“ Papst huldigten. Aus jenen Tagen habe ich die Ausspruch des Schriftsteller Roman Brandstaetter in Erinnerung, der bei uns zu Gast war: „Das hält das System nicht aus.“
Die Wahl des „polnischen“ Papstes war eine der Voraussetzungen für die Gründung der Solidarność. Symbolträchtig setzte denn auch Lech Wałęsa seinen Namen unter die mit der Regierung ausgehandelten Vereinbarungen mit einem Stift, der am oberen Ende das Bildnis Johannes Pauls II. zeigt.
Die geschichtspolitische Problematik des Gedenkens an die Unabhängigkeit
Nach 1989 wurde durch die westlich orientierten Regierungen die Tradition zivilgesellschaftlich geprägter Unabhängigkeitsfeiern begründet. Politiker und Vertreter der Kirche erinnerten an die schmerzhaften Erfahrungen der polnischen Geschichte sowie an den ungebrochenen Willen der Nation nach Freiheit, doch ohne das Trauma eines ständig drohenden Verlustes der Unabhängigkeit zu bedienen. Mit dem Beitritt zur NATO und der Aufnahme in die Europäische Union galt die Unabhängigkeit Polens schließlich als gesichert. In dem Bewusstsein, als freie Nation in einem freien Europa zu leben, beging man den 11. November in ungetrübte Freude – mit Festgottesdiensten, Konzerten, Sportveranstaltungen, Volksfesten und Umzügen in historischen Gewändern.
Doch es fehlte in der III. Republik nicht an einer Gegenbewegung nationalistischer, rechtsradikaler Kräfte. Aus marginalen Anfängen kam es 2010 erstmals am 11. November zu dem Warschauer „Marsch der Unabhängigkeit“, einer Großdemonstration tausender Teilnehmern mit antideutschen und fremdenfeindlichen Parolen. Vor zwei Jahren lautete das Motto „Polen den Polen“. Teilnehmer trugen T-Shirts mit dem Aufdruck „Tod den Feinden Polens“. 2017 marschierte man unter der Losung „Wir wollen Gott“ – eine Demonstration gegen eine dem christlichen Europa angeblich drohende Islamisierung. Mit ihrem „Marsch der Unabhängigkeit“ gelang es den Rechtsradikalen, das nationale Verlusttrauma zu revitalisieren und über weite Teile der Gesellschaft die Deutungshoheit über das Unabhängigkeitsgedenken zu gewinnen.
Nicht von Ungefähr hat diese nationalistische, rechtsradikale Bewegung unter der gegenwärtigen nationalkonservativen Partei und Regierung einen enormen Aufschwung erfahren. Denn auch sie bedienen sich des Verlusttraumas, indem sie sich geschichtspolitisch auf das traditionelle, wenngleich angesichts der faktischen Sicherheit Polens dysfunktionale Unabhängigkeitsverständnis beziehen. So versteht sich Jarosław Kaszyński, Parteichef und der eigentliche Machthaber, in diesem Jubiläumsjahr als der wahre Repräsentant der Unabhängigkeit des Landes. Doch um sich als solchen zu legitimieren, bedarf es eines nationalen Martyriums. Dem dient der Absturz der Präsidentenmaschine mit 96 Toten am 10. April 2010 über dem Flughafen von Smolensk und die 96 Monate lang währenden Gedenkfeiern, in denen als Verpflichtung den Opfer gegenüber mit nationalem Pathos stets die Verteidigung der Unabhängigkeit Polens vor einer angeblichen Bedrohung durch äußere wie innere Feinde beschworen wurde.
Die geschichtspolitische Problematik des von der Kaczyński-Partei und ihrer Regierung vertretenen Unabhängigkeitsverständnisses zeigt sich zudem in dem Versuch, die Gründung der III. Republik als das Werk nationaler Verräter zu deuten. Der von der Solidarność 1989 am Runden Tisch über die Kommunisten errungene „Verhandlungssieg“ habe lediglich dazu gedient, den Kommunisten unter veränderter Flagge eine weitere politische Wirksamkeit zu garantieren, statt sie für ihre Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen. Und Lech Wałęsa, der legendäre Anführer der Solidarność, Polens einstiger Präsident und Friedensnobelpreisträger, habe unter dem Code „Bolek“ in Wahrheit als Agent des Sicherheitsapparats gehandelt. Daher sei die III. Republik kein letztlich unabhängiger Staat, sondern ein postkommunistisches Regime, das nun durch die von der nationalkonservativen Partei und Regierung zu bildende IV. Republik abgelöst werde. Erst jetzt habe man sich „von den Knien erhoben“ und letztendlich die Unabhängigkeit errungen, um sie nun gegen deutsche Dominanz und Machtansprüche der Brüsseler Behörde konsequent zu verteidigen.
Der Konflikt um diese geschichtspolitische Umdeutung der Gründung der III. Republik wurde in diesem Jubiläumsjahr im Umfeld des 04. Juni besonders deutlich. Es ist dies der Tag, an dem 1989 die Kandidaten der „Solidarność“ einen überwältigenden Wahlsieg errangen, der faktisch das Ende kommunistischer Herrschaft in Polen bedeutete. Er wurde von den liberalen und oppositionellen Kräften als Tag der Freiheit festlich begangen. Dagegen war an diesem 04. Juni 2018 in den abendlichen Hauptnachrichten des staatlichen Fernsehens zu erfahren, der 04. Juni 1989 sei ein „Tag des Verrats und des Komplotts der Eliten“ gewesen.
Wenn heute die Kaczyński-Partei und ihre nationalkonservative Regierung in der Gründung der III. Republik einen nationalen Sündenfall sehen, dann trifft dieser Vorwurf auch die Kirche. Sie erfüllte durch ihre als Moderatoren am Runden Tisch dienenden Geistlichen gleichsam die Rolle einer Geburtshelferin. Und wer weiß, ob der Wahlsieg am 04. Juni möglich gewesen wäre, hätte die Kirche der „Solidarność“ nicht ihre Räume zur Verfügung gestellt und wäre von den Kanzeln nicht für ihre Kandidaten geworben worden. Sie ist damit aufgerufen, gegen diese Art der Geschichtsfälschung Stellung zu beziehen. Doch bislang hüllen sich ihre führenden Vertreter in Schweigen.
Eine gespaltene Nation am Unabhängigkeitstag
Zuständig für die Ausrichtung der Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag ist ein staatliches Komitee unter Vorsitz von Präsident Andrzej Duda. In seiner Planung bleiben die Verdienste von Ignacy Daszyński und der polnischen Linken unberücksichtigt. Als Reaktion darauf weigert sie sich, den 11. November im nationalistischen Geist der Kaczyński-Partei zu begehen. Sie hat ein eigenes Komitee zur Vorbereitung und Durchführen der Feierlichkeiten gebildet. Den Vorsitz übernahm der ehemalige Präsident Aleksander Kwaśniewski. Auf der Gründungsversammlung bedauerte er, dass sich „Polen heute in einer Art geistiger Umnachtung sog. Geschichtspolitik befindet“, wodurch anstelle geschichtlicher Wahrheit eine Instrumentalisierung der Fakten für bestimmte politische Ziele trete.
Auch wenn das Unabhängigkeitsjubiläum von einer tiefen Spaltung der Gesellschaft überschattet wird, die Festfreude an diesem nationalen Gedenktag werden sich die Menschen nicht nehmen lassen.
Erstveröffentlichung: Stimmen der Zeit 11/2018
Norman Davies, Im Herzen Europas. Geschichte Polens, München 2000, S. 103.