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Marek Edelman (1919 – 2009) – der unerwünschte Patron

  • Theo Mechtenberg
  • 4. Feb. 2019
  • 7 Min. Lesezeit

„Für mich hat der Gedenktag des Gettoaufstandes, die Rede von ihm, nur den einen Sinn – die Welt daran zu erinnern, dass der Völkermord ein Verbrechen gegen das Wesen des Menschseins ist. Und dass man nicht straflos ein gleichgültiger Zeuge sein kann, denn man geht geschädigt daraus hervor. Daher sollen wir zu unserem Guten nicht schweigend auf die heutigen Verbrechen blicken, so wie vor Jahren auf den Holocaust. Es muss eine Bewegung entstehen, fähig, die Regierungen des demokratischen, satten Europa dazu zu zwingen, sich aktiv dem Völkermord zu widersetzen und den Opfern zu helfen.“

Marek Edelman zu den ethnischen Säuberungen im Balkankrieg der 90er Jahre

Acht Namen, deren Träger sich in der Vergangenheit für Polen besonders verdient gemacht haben, wurden vom polnischen Parlament zu „Patronen“ dieses Jahres gewählt. Doch ein Name fehlt – Marek Edelman, Kommandeur im Warschauer Gettoaufstand, den er mit nur wenigen Leidens- und Kampfgefährten überlebte. Die Opposition hatte im Sejm den Antrag gestellt, auch ihn in die Reihe dieser „Patrone“ aufzunehmen, zumal gleich zwei Gedenktage des am 01. Januar 1919 in Weißrussland geborenen und am 02. Oktober 2009 in Warschau verstorbenen Edelman in das Jahr 2019 fallen. Doch ihr Antrag wurde mit der absoluten Stimmenmehrheit der PiS-Abgeordneten abgelehnt. Geschah dies aus Rücksicht auf das antisemitische Wählerpotential, das wohl mit Protesten auf die ehrenvolle Ernennung eines Juden zum nationalen Patron reagiert hätte? Doch davon abgesehen, für die Kaczyński-Partei zählen eben nur nationale Verdienste von Persönlichkeiten, die in ihre Geschichtspolitik und in die von ihr verfolgte Politik passen. Und das ist bei Marek Edelman nicht der Fall. Im Frühjahr 2006, in der ersten, kurzen Phase einer PiS-Regierung, hatte er nach Attacken des für seinen Antisemitismus bekannten Senders „Radio Maryja“ Regierungschef Kazimierz Marcinkiewicz und den Parlamentspräsidenten Marek Jurek aufgefordert, in dem von PiS mit Vorliebe genutzten Medium nicht weiter aufzutreten. Der Weg von Worten des Hasses zu verbrecherischen Taten sei zu kurz.

Ein Leben unter Verfolgungen

Marek Edelmann entstammt einer in Weißrussland beheimateten jüdischen Familie. Seine Mutter musste mit ansehen, wie ihre zwölf Brüder in den Wirren der Oktoberrevolution von Bolschewisten ermordet wurden. Um dem herrschenden Terror zu entrinnen, flüchteten seine Eltern nach Polen und ließen sich in Warschau nieder, wo sie bald verstarben. Marek wuchs als Waise unter dem Schutz des „Bundes“ auf, einer 1897 im zaristischen Russland gegründeten jüdischen Organisation. Anders als die Zionisten hatten die „Bundisten“ nicht die Absicht, nach Palästina auszuwandern. Sie sahen in Polen ihre Heimat und kämpften für eine sozialgerechte Gesellschaft, in der jede Nationalität - ob Ukrainer, Deutsche oder Juden – kulturelle Autonomie genießen und die Rechte der Minderheiten garantiert werden sollen. Diese Grundüberzeugung prägte Edelmans gesamtes Leben.

Als Schüler machte Edelman in den 30er Jahren unliebsame Bekanntschaft mit nationalistischen und antisemitischen Schlägertrupps. Bei Kriegsausbruch erlebte er im von Deutschen besetzten Warschau die Anfänge der Judenverfolgung. Zu einem Schlüsselerlebnis wurde ihm die öffentliche Erniedrigung eines Juden. Zwei Soldaten hatten ihn auf eine Tonne gepackt und ihm zu ihrem Spaß den Bart abgeschnitten. Und die Umstehenden, darunter selbst Juden, belustigten sich an diesem entwürdigenden Schauspiel. „Bei diesem Anblick beschloss ich, nie und nimmer zuzulassen, dem Spott preisgegeben zu werden. Edelman erkannte früh, dass das Ziel der Erniedrigung die Entmenschlichung ist und dass sie die Voraussetzung für den Holocaust bildet. Sich der Erniedrigung zu widersetzen, heißt aber, die Angst vor ihr zu überwinden. Wer Marek Edelman näher kannte, sei es aus der Zeit des Gettos, sei es als Arzt oder als Oppositionellen, der hat ihn als einen ungewöhnlich angstfreien Menschen in Erinnerung.

Diese Angstfreiheit ermöglichte es Edelman mit wenig mehr als 20 Jahren im Warschauer Getto einer der Anführer des Aufstandes zu sein. Dabei verstand er sich selbst nicht als Held, wie ihm überhaupt der bewaffnete Kampf lediglich die letzte Konsequenz eines zivilen, auf die Wahrung der menschlichen Würde zielenden Widerstandes war. Und der zeigte sich im Gettoalltag in der schon übermenschlichen Mühe hungerschwacher Ärzte, im Schatten des Umschlagplatzes Leben zu retten, sowie in dem Bemühen, trotz des täglich drohenden Todes ein halbwegs normales Leben zu führen.

Marek Edelman gelang es, sich mit dem Rest seiner Leute noch vor der Vernichtung des Gettos auf die arische Seite zu retten. Doch in Sicherheit war er auch dort nicht. Dies selbst dann nicht, als er sich dem Warschauer Aufstand anschließen wollte. Bewaffnet, doch ohne Dokumente, wurde er von einem Posten der Untergrundarmee gestellt und absurderweise verdächtigt, für die Deutschen zu spionieren. Schon wollte man ihn an die Wand stellen, als er auf Veranlassung des Kommandeurs in letzter Minute der Erschießung entging.

Jahrzehnte nach dem Krieg fragte ihn einmal Hanna Krall, Edelmans enge Freundin und Biographin, was sein Vaterland sei. Nach einiger Überlegung sagte er: „Mein Vaterland, das sind die sechs Jahre des Zweiten Weltkriegs.“ Es war für ihn die Zeit besonderer Grenzsituationen, denen er immer wieder ausgesetzt war, und die ihn zutiefst erkennen ließen, was gut und was böse ist. Im Getto hatte er zahlreiche Beispiele der Bewährung erfahren und darüber in seinem letzten, ein Jahr vor seinem Tod erschienen Buch berichtet. So suchte ein Mädchen verzweifelt unter der zum Umschlagplatz getriebenen Menge nach seiner Mutter, und als es sie schließlich fand, schloss sich die Tochter der Mutter an, um sie nicht alleine in den Tod gehen zu lassen. Derlei Begebenheiten waren für Edelman der Beweis eines möglichen Sieges über den allgegenwärtigen Hass, damals im Getto und wo auch immer in der Welt. Doch die andere Erfahrung ist die des Bösen, die Edelman in seinem Gespräch mit Hanna Krall sagen lässt: „In jedem Menschen schlummert ein Kommandant von Treblinka.“ Angesichts der Macht des Bösen war Gott für Edelman nicht existent. So betonte er gegenüber Hanna Krall, dass es keinen Gott gibt, „dass es dort, nach dem Tod, weder dunkel noch hell, weder kalt noch warm ist. Dort ist einfach nichts, kein Gott. Doch wenn sich etwas Schreckliches ereignete, dann bereitete er diesem Gott, den es nicht gibt, eine wütende Szene.“ Angesichts dieser Ambivalenz wünschte sich Hanna Krall, Edelmans verdutztes Gesicht zu sehen, als er nach seinem Tod Gott begegnete.

Marek Edelman als Oppositioneller

1976 verabschiedete die kommunistische Regierung Polens eine neue, nunmehr sozialistische Verfassung. Was in der Praxis bereits längst der Fall war, wurde nun in der Konstitution verankert – dass Polen ein „sozialistischer Staat“ ist, die kommunistische Partei „die führende gesellschaftliche Kraft beim Aufbau des Sozialismus“ und dass zwischen Polen und der Sowjetunion „eine enge Verbundenheit“ besteht. Diese Novellierung rief neben der Kirche Teile der Intelligenz auf den Plan. Letztere protestierte mit dem an die Regierung gerichteten „Brief der 101“. Marek Edelman gehörte zu den Unterzeichnern. Seit dieser Zeit war er mit der Opposition verbunden. Daher wurde auch er im Dezember 1980 nach Verhängung des Kriegsrechts verhaftet. Ihn brachte man aber nicht in eines der für die Intelligenz vorgesehenen Internierungslager, sondern sperrte ihn zusammen mit anderen Häftlingen in eine Gefängniszelle. Auf Intervention von Willy Brandt kam er aber nach wenigen Tagen wieder frei.

Der 40. Jahrestag des Gettoaufstandes fiel in die Zeit des Kriegsrechts. Das kommunistische Regime wollte diesen Anlass nutzen, um ihren durch Verhängung des Kriegsrechts international ramponierten Ruf durch eine herausgehobene Gedenkveranstaltung aufzubessern. So hätte man gerne Marek Edelman dabei gehabt. Doch er lehnte selbst die persönliche Einladung von Staatspräsident Jaruzelski ab und begründete seine Entscheidung mit den Worten: „Unseren Jahrestag hier zu begehen, wo heute über dem gesamten sozialen Leben Erniedrigung und Unfreiheit lasten, wo man Worte und Gesten verfälscht, steht im Widerspruch zu unserem Kampf.“

So verbrachte denn Marek Edelman den 14. April 1983 in seiner £ódżer Wohnung. Das Haus war von Sicherheitskräften umstellt, um Edelman daran zu hindern, nach Warschau zu einer von der Opposition ausgerufenen Gegenveranstaltung anzureisen. Aber er hoffte, dass der eine oder andere Bekannte ihn an diesem Tag besuchen würde. Es kamen auch einige, doch angesichts der Wagen der Sicherheitskräfte kehrten sie um. Edelman, der diesen Vorgang beobachtet hatte, rief zur Straße hinaus: „Ihr habt überlebt, weil ihr Feiglinge seid.“

Ein Leben im Zeichen der Solidarität

Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs verließen viele Überlebende des Holocaust ihre polnische Heimat. 1968 gab es wegen des vom kommunistischen Regime als „Antizionismus“ getarnten Antisemitismus eine zweite jüdische Ausreisewelle. Doch Marek Edelman blieb, wenngleich auch er zeitweise gehindert wurde, seinen Arztberuf auszuüben.

Dass er trotz aller Schikanen, trotz antisemitischer Schmierereien an seiner Wohnung nicht daran dachte, Polen zu verlassen, war nicht allein Ausdruck seiner durch den „Bund“ geprägten Überzeugung. Ein weiterer Grund war, wie er einmal sagte, dass es jemanden geben müsse, der nahe bei den Opfern der Judenvernichtung ausharrt. So war es seine Gewohnheit, an jedem Jahrestag des Gettoaufstandes gemeinsam mit Hanna Krall am Warschauer Gettodenkmal schweigend zu verweilen und eine Kerze zu entzünden. Einmal entfuhr es ihm an dieser Stätte: „Sie gibt es nicht mehr, doch ich lebe. Warum? Was hat das für einen Sinn?“ Die Antwort gab ihm seine Begleiterin, indem sie auf die von Edelman gelebte Solidarität mit den Schwachen und Opfern verwies.

Edelmans Leben stand in der Tat ganz im Dienste der Solidarität. Sie bestimmte seine Berufswahl nach Ende des Krieges. Er wurde Arzt, ein über die Grenzen Polens hinaus anerkannter Kardiologe. Und er war Arzt mit einem besonderen Verhältnis zu seinen Kranken. Als eine seiner Patientinnen vor einer schweren Operation stand und er davon Kenntnis erhielt, dass sich diese Frau nichts so sehr wünschte wie eine elektrische Nähmaschine, die zwar in Polen produziert wurde, allerdings nur für den Export, da setzte Edelman Himmel und Hölle in Bewegung, um ihr noch vor der Operation diesen Wunsch zu erfüllen. Und er schaffte das Unmögliche. Die Frau überlebte die Operation und konnte gesund nach Hause zurückkehren, wo die Nähmaschine auf sie wartete.

Edelman war stets bestrebt, seinen Patienten die Todesangst zu nehmen. Und er hielt ihre Hand, wenn das Leben in ihnen erlosch.

Solidarität bewies Edelman auch im Balkankrieg. Auf einer vom Europaparlament einberufenen Konferenz „1000 Tage Belagerung von Sarajewo“ hielt er eine viel beachtete Rede, in der er die demokratische Welt zur humanitären Intervention aufrief: „Wenn man im 20. Jahrhundert, an der Schwelle zum dritten Jahrtausend, dem Völkermord nicht Einhalt gebietet, dann wird sich die Politik des Völkermordes weiter ausbreiten.“ Zweimal fuhr er mit einem Hilfskonvoi nach Sarajewo, und dies in der Überzeugung, dass man den Schwachen selbst dann nahe sein müsse, wenn man an ihrer Lage nichts ändern könne.

Für die Kaczyński-Partei und ihre Regierung bleibt Marek Edelman ein für das Jahr 2019 unerwünschter Patron. Dabei hätte ihn Polen angesichts eines zunehmenden Autoritarismus und eines sich in den sozialen Medien sowie in der Öffentlichkeit ausbreitenden Hasses als Mahner bitter nötig.

Rudi Assuntino/Włodek Goldkorn, Strażnik Marek Edelman opowiada (Der Wächter Marek Edelman erzählt), Kraków 1999, S. 16.

Michał Nagoś, Hanna Krall: A co, jeśli Marek Edelman po śmierci spotkał Pana Boga? Chiałobym zobaczyć jego mine (Doch was, wenn Marek Edelman nach dem Tod Gott begegnete? Ich hätte gern seine Miene gesehen), Gazeta Wyorcza v. 26. 01. 2019 (Internetausgabe). Die nicht gekennzeichneten Zitate entstammen dieser Quelle.

Marek Edelman, I było miłość w getcie (Es gab Liebe im Getto), Warszawa 2008.

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