Das andere Russland nicht vergessen 24. 10. 2022
„Ich hasse und verfluche euch. Ich hasse die russische Kultur mit ihrem Imperialismus.“ Derlei Stimmen sind gegenwärtig aus der Ukraine zu vernehmen. Es wurde sogar die Forderung laut, 100 Millionen Bücher, die den russischen Imperialismus propagieren und verherrlichen, aus den Bibliotheken zu verbannen – Kinder- und Abenteuergeschichten, Liebes- und Kriminalromane. Und selbst die Klassiker russischer Literatur wie Tolstoi und Dostojewski.
Dieser Hass und diese Verfluchung all dessen, was russisch ist, erscheint wegen der Leiden, die die Ukrainer unter Putins Vernichtungskrieg Tag für Tag zu erdulden haben, durchaus verständlich. Von Raketen und Drohnen getroffene Wohnblocks, Menschen, die von einem Augenblick auf den anderen ihr gesamtes Hab und Gut verloren haben und nur ihr nacktes Leben retten konnten, die entdeckten Folterkeller und Massengräber grausam ermordeter Zivilisten, die planmäßige Zerstörung der Infrastruktur, so dass Alte, Frauen und Kinder ohne Wasser und Strom leben müssen. Und dies, während der Winter naht – wer will da den Ukrainern ihren Hass verdenken? Doch, man muss sich um seiner selbst willen vor ihm schützen. Und auch, wie der ukrainische Schriftsteller Jewhen Zacharow meint, um des „anderen Russlands“ willen.[1] Denn das gibt es auch, die 14% Russen, die in den Wahlen gegen Putin gestimmt haben, die 2014 nach der Okkupation der Krim dem patriotischen Rausch nicht verfielen und Putins Krieg verurteilen, die trotz des Risikos ihrer Verhaftung und einer langjährigen Lagerhaft gegen ihn demonstrieren. Seit dem 24 Februar, dem Tag des Überfalls auf die Ukraine, sind bis Mitte Juni 16 334 Russen wegen „Diskriminierung der Armee“ verhaftet worden. Und wer es wagt, die Wahrheit über diesen Krieg zu verbreiten, der wird wegen „Falschmeldung“ verklagt und verurteilt. Dieses „andere Russland“, so Zacharow, will uns unterstützen. Aber „es braucht uns. Ich bin sicher, dass Putins Staat bezwungen wird, doch wir müssen dafür sorgen, dass das „andere Russland“ Bestand hat und sich ausweitet, damit es eine bedeutend größere Rolle nach unserem Sieg in dem Staat spielt, der aus den Trümmern des jetzigen Imperialismus neu erwächst.“
Auch die Forderung, die russische Kultur mit einem Bann zu belegen und russische Bücher aus den Bibliotheken zu entfernen, hält Zacharow für unangemessen, ungerecht und kontraproduktiv. Das sei Ausdruck tiefsten Provinzialismus sowie eine barbarische Handlung, die allein dem Aggressor Putin diene. Die russische Kultur sei im Übrigen keineswegs uneingeschränkt imperial. Bei manchen großen russischen Schriftstellern ließe sich beides, imperiale wie antiimperiale Aussagen, finden. Dies gelte beispielsweise für Alexander Puschkin und Josif Brodsky, der nicht nur das antiukrainische Poem „Auf die Unabhängigkeit der Ukraine“ verfasst hat, sondern auch den antiimperialen Zyklus „Briefe an einen römischen Freund“, das Beste, was zur Beziehung seiner Generation zur Niederschlagung des Prager Frühlings im August 1968 geschrieben wurde. Als Zeugen einer antiimperialen russischen Kultur führt Zacharow eine Reihe bedeutender russischer Schriftsteller an, darunter Nikolai Berdjajev, Lew Tolstoi, Ossip Mandelstam und Borys Pasternak.
Noch aus einem weiteren Grund sei die russische Literatur gerade in Hinblick auf die Brutalität, mit der Putin seinen Vernichtungskrieg führt, aufschlussreich. Das ist jedenfalls die Auffassung des polnischen Schriftstellers Janusz Anderman.[2] Er verweist auf Alexander Solschenizyn und seinen Gulag-Bericht „Drei Tage im Leben des Iwan Denissowitsch“, mehr noch auf den weniger bekannten Warlam Schamalow, der in Abständen insgesamt 18 Jahre Lagerhaft erlebt und seine Erfahrungen in sechs Zyklen seiner „Erzählungen aus Kolyma“ dokumentiert hat. Es seien die gleichen Regeln, die im Straflager wie in Putins Krieg zur Geltung kommen, „eine auf der verbrecherischen imperialen Idee basierende Gewalt, der sich der wehrlose Mensch ausgesetzt sieht, der zu Grunde gerichtet werden muss, denn er bildet ein Hindernis bei der Verwirklichung des Ziels.“
[1] Jewhen Zacharow, Ukraina zamierza usunąć z bibliotek 100 mln rosyjskich książek. Z korzyścią dla agresora (Die Ukraine beabsichtigt, 100 Millionen russische Bücher aus den Bibliotheken zu entfernen. Zum Nutzen des Aggressors), Gazeta Wyborcza v. 01. 10. 2022 (Internet) [2] Janusz Anderman, Karac za wojne rosyjska kulture? (Soll man die russische Kultur für den Krieg bestrafen?), Gazeta Wyborcza v. 01. 10. 2022 (Internet)
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